„Und vergessen Sie nicht, die Kinder zur guten Nacht zu umarmen“, hatte die Schulleiterin an meinem ersten Arbeitstag zu mir gesagt. Das klang nach einer sehr guten Idee. Aber binnen ein bis zwei Tagen stellte ich fest, wie schwer es war, dies in die Praxis umzusetzen.
Ich hatte gerade erst mein Studium beendet und meine erste Stelle an einem Internat angetreten. Die meisten der Kinder, sie waren zwischen 5 und 13 Jahre alt, lebten im Internat, weil sie in ihrer Familie Probleme hatten.
Die Herausforderungen wurden schnell unübersehbar. William kam mit einer kahlen Stelle am Kopf, weil sein Vater ihn vor lauter Ärger am Schopf gepackt und ihm ein ganzes Büschel Haare ausgerissen hatte. Dann war da Joan, ein Einzelkind, das zwischen tiefer Wut auf seine Mutter und tagelangem Weinen nach ihr hin und her schwankte.
Mit der Zeit stellte ich fest, dass ich nicht richtig auf die wahren Bedürfnisse der Kinder einging. Es blieb nicht viel Zeit zwischen all den täglichen Aufgaben, wie die Kinder in der Früh zu wecken, die häuslichen Pflichten zu beaufsichtigen, für die ganze Gruppe Essen zu kochen, zu unterrichten, zu spielen und Exkursionen zu planen.
Ich begann mich wie eine Versagerin zu fühlen.
Einmal konnte ich an einem Tag 19 große Krisen zählen, einschließlich Stehlen, Lügen und Fluchen. Ich fing an, mich wie eine Versagerin zu fühlen. Ich umarmte die Kinder immer noch beim Zubettgehen, aber durch Erschöpfung und Frustration wurden die Umarmungen unverbindlich und waren von Irritation geprägt anstatt von echter Zuneigung.
In den Dezemberferien schüttete ich einem Freund, der zuvor auch mein Lehrer gewesen war, mein Herz aus und erzählte von all meinen Problemen.
Ich wollte aber mehr erreichen als nur jeden Tag zu überleben.
Vor mir lagen noch sechs Monate an dieser Schule und ich wollte mehr erreichen als nur jeden Tag zu überleben. Die Unterhaltung bewegte sich in eine geistige Richtung und bald erkannte ich, dass ich eine neue Sichtweise brauchte.
Als ich zu meiner Arbeit zurückkehrte, nahm ich mir Zeit, mit Gedanken zu beten, die ich in meinen beiden Lieblingsbüchern über Spiritualität fand: die Bibel und Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy. In einem Tagebuch hielt ich meine Einsichten, Überlegungen und Ideen fest.
Wissenschaft und Gesundheit beschreibt Gott so: „Vater-Mutter ist der Name für die Gottheit, der auf Sein zärtliches Verhältnis zu Seiner geistigen Schöpfung hinweist.“ (S. 332)
Der Gedanke, dass Gott eine zärtliche, liebevolle Mutter ist wie auch ein starker, unterstützender Vater, der Seine/Ihre Kinder schätzte, inspirierte mich. Konnte ich erkennen, dass die Kinder von diesem Vater-Mutter Gott versorgt wurden? Und konnte ich mich mehr darum bemühen, diese Form der Liebe und Fürsorge auszudrücken? Die Antwort kam in Form eines inneren Anstoßes: etwas aufzuschreiben, was ich an jedem Kind schätzte.
Ich konnte die Gegenwart Gottes fühlen.
Ich dachte an die vergangenen Wochen und Monate zurück. Da gab es Dinge, die ich nicht genug gewürdigt hatte. Shauna half den jüngeren Kindern, auf ihren Musikinstrumenten zu üben. Die Sprünge von Jake mit dem Schlitten waren atemberaubend und sein Mut ansteckend. Joan, die noch nie zuvor in ihrem Leben einen Besen in der Hand gehabt hatte, konnte den Boden immer besser fegen.
Als ich diese Dinge erkannte und anerkannte, begann ich tatsächlich, die Schönheit und Güte zu bezeugen, die jedem Kind innewohnte. Freude stieg in mir auf, als ich fühlte, wie die Gegenwart Gottes die Kälte in meinem Herzen schmolz.
Nachdem ich einige Tage lang mein Tagebuch mit diesen positiven Bekräftigungen gefüllt hatte, befestigte ich einen großen Bogen Papier an der Wand im Speiseraum und schrieb für jedes Kind ein Detail auf, das ich an ihm schätzte. Als die Kinder am nächsten Morgen zum Frühstück kamen, las ich die Liste vor. Die Kinder erröteten und kicherten.
Dann war ich diejenige, die errötete — sie schrieben und malten ihre eigenen Geschichten der Anerkennung für mich und für jedes Kind auf — kleine Taten der Freundlichkeit, kleine Errungenschaften. Unsere Wand wurde zu einem Wandgemälde der Dankbarkeit.
Es fiel mir leichter, geduldig zu sein.
Von da an fand ich es leichter, mit den Kindern Geduld zu haben. Ich bedankte mich bei ihnen, wenn sie etwas Hilfreiches und Positives getan hatten — und sie lächelten zurück. Alltägliche Aufgaben wurden zu Gelegenheiten, Kreativität und Wachstum auszudrücken.
Gemeinsam entwickelten wir einen neuen Ablauf für die Hausarbeiten mit Musikbegleitung — je schneller die Musik war, desto schneller waren die Arbeiten erledigt.
Als dieses Jahr dem Ende entgegenging, stellte ich fest, dass unsere „Wertschätzungen“ Bausteine für die Zukunft der Kinder waren. Sie halfen ihnen, ihre ihnen innewohnende Güte und Stärke zu würdigen und auf ihnen aufzubauen, als sie heranreiften.
Spulen wir nun etliche Jahre vorwärts, in eine Zeit, da ich in einem anderen Bundesstaat lebte. Da begegnete ich einem der Kinder, sie war inzwischen eine erwachsene Frau, in einem Kino. Es sah so aus, als hätte sie sich in der Zwischenzeit wacker behauptet. Sie erwähnte, wie gut es ihr in unserer „Familie“ gefallen hatte. Es war eine schwierige Zeit in ihrem Leben gewesen, aber sie hatte sich durchgebissen, weil sie das Gefühl hatte, dass sich jemand um sie gekümmert hatte.
Ich behaupte nicht, dass ich ein Meister in der Kunst der Anerkennung bin. Aber meine geistige Praxis hilft mir, in jedem von uns die Göttlichkeit anzuerkennen. Die Disziplin, die ich dazu brauche, ist die Anstrengung wert, denn es ist diese Form der Liebe, die mein Denken umwandelt und mir hilft, daran zu arbeiten, die Wunden anderer zu heilen. Und durch dieses tiefere Verständnis der göttlichen Liebe sind auch meine Umarmungen bedeutsamer geworden.