„Isst du nichts?“
Diese Frage wurde mir in der Oberstufe ständig gestellt. Ich hatte immer Angst davor, vor allem, weil ich kaum in Worte fassen konnte, wie schwer etwas so Einfaches wie essen für mich geworden war.
Mit etwa vierzehn gefiel mir auf einmal das Mädchen nicht mehr, das ich im Spiegel sah. Ich mochte nicht mehr zur Schule gehen, wo ich von Leuten mit „perfekter“ Figur oder Schönheit umgeben war, was mich mit Neid erfüllte, weil ich sie auch sehr gern gehabt hätte. Ich dachte, es würde besser werden, wenn ich abnähme − dann würde alles in Ordnung kommen. Also hörte ich auf zu essen. In kurzer Zeit entwickelte sich daraus eine starke Essstörung.
In der Schule mied ich die Cafeteria. Zu Hause behauptete ich, schon gegessen zu haben, bis meine Eltern dahinterkamen. Doch selbst nachdem sie darauf bestanden, dass ich etwas aß, fand ich Wege, es hinterher wieder loszuwerden.
Ich ließ mich völlig von meiner Befangenheit kontrollieren. Und obwohl ich stark abgenommen hatte, war ich nie mit meinem Erscheinungsbild im Spiegel zufrieden. Ich fühlte mich sehr einsam, war aber zu ichbezogen, um mir helfen zu lassen. Meine Zensuren litten, als ich mich immer mehr von anderen abwandte und auf mich selbst konzentrierte, und diese Ichbezogenheit wirkte sich auch auf meine Freundschaften aus. Ich war abweisend zu allen, die versuchten, mir zu helfen.
Eines Tages war ich während des Mittagessens allein auf der Mädchentoilette, weil ich wieder einmal die Cafeteria mied, und stand weinend vor dem Spiegel. Der Gedanke, völlig wertlos und niemandem wichtig zu sein, war überwältigend, und wütend wischte ich mir mit einem Papierhandtuch die Tränen ab. Als ich es in den Papierkorb warf, fiel mein Blick auf einen Zettel. Darauf stand: „‚Göttliche Widerspiegelung‘ auf Seite 115 von Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy.“ Ich besuche eine Schule für Christliche Wissenschaftler, deshalb ist es nicht ungewöhnlich, ein Zitat aus Wissenschaft und Gesundheit zu finden. Aber die Relevanz dieser Botschaft für meine Situation war unverkennbar.
Ich betrachtete mein Spiegelbild. Mein tränenverschmiertes Gesicht schien kaum etwas mit der göttlichen Widerspiegelung zu tun zu haben. Doch jetzt begriff ich, worin mein Fehler lag. Wenn ich vorher in den Spiegel geblickt hatte, war es immer auf der Suche nach Fehlern gewesen. Nicht einmal hatte ich mich als die Widerspiegelung Gottes gesehen – nicht eine Sterbliche, die in den Spiegel blickt, sondern Gottes vollkommene Idee, Sein perfektes, schönes Ebenbild. Wenn das stimmte, so wurde mir klar, konnte ich unmöglich all das sein, womit ich mich selbst bezeichnete: hässlich, dick, pickelig, unzulänglich, egoistisch usw. Als ich die Toilette verließ, wusste ich mit absoluter Gewissheit, dass ich Gottes Widerspiegelung bin.
Ein paar Wochen später wurde ich zu einer vertrauten Bibelstelle geführt. Sie befindet sich im Matthäusevangelium, wo Jesus seinen Jüngern sagt: „Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet“ (6:25). Ich begriff, dass ich diese Botschaft auch so verstehen konnte, dass es Zeit war, mich nicht mehr um mein Körpergewicht zu sorgen. Die Stelle half mir zu verstehen, dass es um ein Umdenken ging; ich musste weniger an meinen Körper denken und dafür mehr an Gott und Seine geistigen Eigenschaften. Dieser Gedanke wurde aus meiner Sicht durch eine Stelle in Wissenschaft und Gesundheit bestätigt: „Die moralischen und geistigen Tatsachen der Gesundheit, die dem Denken zugeflüstert werden, rufen unmittelbare und deutliche Wirkungen am Körper hervor“ (S. 370). Ich begriff, dass ich mein Denken mit den „geistigen Tatsachen der Gesundheit“ füllen musste und dass damit die Überreste des Gefühls von Unzulänglichkeit verschwinden würden. Damit würde ich mental und körperlich geheilt werden.
An jenem Abend nahm ich meine erste normale Mahlzeit ein. Heute, mehr als ein Jahr später, esse ich völlig normal und bin stark, ausgeglichen und fröhlich. Täglich gelingt es mir besser, mich als Gottes Widerspiegelung zu erkennen. Und ich weiß, dass dieses Bild das einzig wichtige Image ist.