Wir kennen nicht einmal ihren Namen. Wir wissen nichts über sie, als dass sie von syrischen Soldaten verschleppt wurde und nun Sklavin der Frau des Kommandanten war.
Solche schrecklichen Geschichten waren damals vielleicht gang und gäbe, sodass es auf die Einzelheiten nicht ankam. Jedenfalls wissen die Leser von 2. Könige 5 nicht, wie es passiert war. Hatte sie den Überfall als einzige überlebt? Was war mit ihrer Familie geschehen? Vielleicht wollte der Verfasser den Leser aber auch direkt zum wichtigen Teil der Geschichte bringen – einem bemerkenswerten Ereignis.
Obwohl sie gute Gründe hatte, ihre Entführer zu hassen, zeigte sie Mitgefühl und machte eine Mitteilung, die Feldhauptmann Naaman von Lepra heilte. Und der Kidnapper hörte auf sie, obwohl sie ein Mädchen in einer von Männern dominierten Kultur war, obwohl sie jung war, wo doch die Gesellschaft die Weisheit der Alten schätzte, und obwohl sie eine fremde Sklavin war.
Unschuld ist eine machtvolle geistige Eigenschaft, die dem Menschen als Gottes Ebenbild angeboren ist.
Irgendetwas überzeugte Naaman, in feindliches Gebiet zu reisen, um den Propheten zu finden, der ihrer Aussage nach die Macht hatte, ihn zu heilen. War es ihre Unschuld und unverfälschte Zuneigung? Unschuld ist eine machtvolle geistige Eigenschaft, die dem Menschen als Gottes Ebenbild angeboren ist. Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, setzt Unschuld Wahrheit gleich: „Unschuld und Wahrheit überwinden Schuld und Irrtum“ (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 568). Mir ihrer kindlichen Überzeugung von Gottes Heilmacht wandelte sie den Charakter ihres fremden Herrschers um und befreite ihn von Krankheit.
Die Geschichte des Mädchens ist nicht der einzige Bericht eines hohen geistigen Standpunkts von jungen verschleppten Leuten. Das Buch Daniel berichtet von einer Gruppe junger Hebräer, die nach Babel gebracht wurden, um dort ausgebildet zu werden, als König Nebukadnezar Jerusalem belagerte. Wie das Mädchen aus Israel hätten sie ihre Entführer hassen können. Und einige taten das vielleicht auch. Doch andere vertrauten ganz auf Gott und wurden zu angesehenen Mitgliedern des königlichen Haushalts und Ratgebern des Königs. Und auch hier beschränkt der Verfasser sich darauf zu berichten, wie ein reines Gottvertrauen die Opfer von Krieg und Unterdrückung befreit.
Können diese alten Geschichten uns zeigen, wie man jungen Gewaltopfern unserer Zeit helfen kann? Ein Bericht im Christian Science Monitor vom 6. Juni 2016 erklärte, dass 19 Millionen Kinder, davon 7,5 Millionen aus Syrien, von gegenwärtigen Konflikten betroffen sind. Viele von ihnen mussten aus ihrer Heimat fliehen, andere wurden entführt, zum Militärdienst gezwungen oder zu Sexsklaven gemacht.
Millionen anderer außerhalb der Kriegsgebiete werden von Kriminellen missbraucht, in Schuldknechtschaft genommen, von skrupellosen Arbeitgebern ausgebeutet und sogar von Angehörigen misshandelt. Einige Experten befürchten, dass diese Gewaltopfer dauerhafte psychische Schäden davontragen oder zu Erwachsenen werden, die für sich und andere eine Gefahr sind. Der Monitor-Bericht bemerkt: „Diese Kinder zu rehabilitieren erfordert spezielle Kenntnisse und Ressourcen, besonders wenn ihnen Gewaltanwendung antrainiert wurde.“
Doch welche speziellen Kenntnisse und Ressourcen hatten die jungen Leute in den Bibelgeschichten? Im ersten Jahrhundert vor Christi gab es keine Hilfsorganisationen wie UNICEF, um bei der Rehabilitierung zu helfen. Wie ist es diesen jungen Leuten gelungen?
Das erste Kapitel des Buches Daniel zeigt uns klar, dass ihr Mut aus ihrem Gottvertrauen erwuchs. Wir lesen, wie Daniel und die drei anderen jungen Männer die erlesene Speise verweigerten, die ihre Entführer ihnen vorsetzten, und stattdessen um Gemüse und Wasser baten (siehe Vers 5–20). Mit dieser Nahrung gediehen sie körperlich und intellektuell. Ja, sie waren „schöner und wohlgenährter als alle Jungen, die von der Speise des Königs aßen“. Und sie erwiesen sich „in allen Angelegenheiten ... klüger und verständiger“ als die Ratgeber des Königs.
Da diese jungen Männer die Speise des Königs verwehrten – sich weigerten, von Gesetzen oder Zuständen versklavt zu werden, die Gott nicht gutgeheißen hatte –, erlangten sie geistige Freiheit. Diese Freiheit setzte sich ihr Leben lang fort. Daniel wurde Ratgeber der Könige von Babel und Persien, geachtet für seine Fähigkeit, über die von Kultur und Bildung auferlegten Beschränkungen hinauszublicken (siehe Daniel 2:1–49 und 5:12–29). Er war so frei von jedem Gefühl, einem menschlichen Gesetz untertan zu sein, dass er unverletzt eine Nacht mit Löwen verbringen konnte (siehe Daniel 6:16–22). Seine Freunde Schadrach, Meschach und Abed-Nego, die sich geweigert hatten, das Standbild des Königs von Babel anzubeten, wurden vor einem Feuer beschützt, das ihre Wächter tötete (siehe Daniel 3:8–30). Wir lesen, dass man „keinen Brandgeruch an ihnen riechen“ konnte.
Geistig verankerte Unschuld und das entsprechende Vertrauen auf Gott ist ein göttliches Recht. „Wenn wir die Rechte des Menschen erkennen“, schreibt Mrs. Eddy, „können wir nicht umhin, den Untergang aller Unterdrückung vorauszusehen. Sklaverei ist nicht der rechtmäßige Status des Menschen. Gott hat den Menschen frei erschaffen“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 227). Die Reinheit des Gedankens, die aus Gottvertrauen entsteht – und eine mentale Versklavung zurückweist –, steht jeder Frau, jedem Mann und jedem Kind selbstverständlich zu. Physische und psychische Gefangenschaft und sogar die Erinnerung daran kann ihr nicht standhalten.
Die Reinheit des Gedankens, die aus Gottvertrauen entsteht – und eine mentale Versklavung zurückweist –, steht jeder Frau, jedem Mann und jedem Kind selbstverständlich zu.
Wir können dabei helfen, das durch Krieg und Misshandlung verursachte Trauma zu heilen, wenn wir darum beten, die jedem Menschen angeborene Unschuld zu verstehen – die reine und heilige Natur, die Gott, die göttliche Liebe, allen Ihren Kindern geschenkt hat. Die Christliche Wissenschaft lehrt, dass niemand von seiner Vergangenheit im Bann gehalten werden kann und dass Erlösung von psychischen Schmerzen sowie eine Rückkehr zur Reinheit für Kinder und Erwachsene, die den Konflikten des modernen Lebens ausgesetzt waren, möglich ist. Gottes beständiges Gesetz des Guten für die ganze Schöpfung kann, wenn es verstanden wird, den mit einer sterblichen Geschichte verbundenen Glauben zerstören. Es hat die Macht, den Einzelnen von dem Kreislauf der Gewalt zu befreien.
Das Matthäusevangelium erzählt von einer Zeit, als Leute ihre Kinder in der Hoffnung zu Jesus brachten, dass er sie segnen werde (siehe 19:13–15). Seine Jünger versuchten das zu verhindern. Doch Jesus tadelte sie und sagte: „Lasst die Kinder und verwehrt ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich.“ Ist es möglich, dass es eine Parallele gibt zwischen dem Denken der Jünger, das Kinder davon abhalten wollte, die Segnung des Christus zu empfangen, und den sogenannten Gesetzen der Psychologie, die Kinder davon abhalten, ihre gottgegebene Freiheit von Leid in Anspruch zu nehmen?
An anderer Stelle sagte Jesus: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch“ (Lukas 17:21). Jeder kann an diesem Reich teilhaben. Dort wird Gott „alle Tränen von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, und weder Leid noch Geschrei noch Schmerz werden mehr sein; denn das Erste ist vergangen“ (Offenbarung 21:4). Sterbliche Meinungen und Ängste können Gottes Kinder nicht davon abhalten, ihre angeborene Freiheit und Unbestechlichkeit zu verstehen und auszuüben. Wie der Bericht in 2. Könige zeigt, kann selbst ein hartgesottener Kämpfer wie Naaman reingewaschen werden – seine ursprüngliche Unschuld wiedererlangen.
Die in Psalm 103:2–5 enthaltene Verheißung ist heute so aktuell wie vor mehr als zweitausend Jahren: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünden vergibt und heilt alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, ... sodass du wieder jung wirst wie ein Adler.“
