Wenn wir wütend über eine Ungerechtigkeit sind, ob in der Welt oder im eigenen Leben, wollen wir uns vielleicht wehren – oder wir schotten uns ab, weil wir uns machtlos fühlen. Wut kann uns bestenfalls motivieren, etwas Produktives zu tun – uns für eine Änderung einzusetzen oder einer gefährdeten Person Schutz anzubieten. Doch ist Wut wirklich jemals die beste Reaktion?
Es ist wichtig, gegen das Böse, und dazu gehört Ungerechtigkeit, anzugehen – und es zu überwinden. Doch so sehr uns Wut auch ein Gefühl von Macht geben mag, ist sie doch nicht wirklich die Macht, als die sie erscheint. Das falsche Machtgefühl, das wir dadurch erlangen, dass wir der Wut nachgeben, bewirkt nicht wirklich etwas – und hinterher fühlen wir uns oft eher schlechter.
Doch es gibt eine andere Möglichkeit: Gebet, das uns der umwandelnden Macht der göttlichen Liebe zuwendet. Diese Herangehensweise heilt Spaltungen und Ungerechtigkeit gleichermaßen – und sie offenbart die Tatsache, dass Böses jeglicher Art weder Wirklichkeit noch Macht besitzen kann.
Mary Baker Eddy drückte es so aus (Die Einheit des Guten, S. 25): „Das Böse ist nicht bewusstes oder wahrhaftes Gemüt; es ist weder individuell noch tatsächlich.“ Vor mehreren Jahren war mir der Wahrheitsgedanke, dass Gott Gemüt ist, eine sehr große Hilfe. Ich war sehr wütend auf ein Familienmitglied, das andere in der Familie sehr verletzt hatte. Ich brach den Kontakt ab in der Überzeugung, dass ich die verletzten Personen auf diese Weise schützen konnte. Es kam mir vor, als würde ich das ungerechte Vorgehen unterstützen und mich und andere weiteren Verletzungen aussetzen, wenn ich dem Familienmitglied vergab. Und so verweigerte ich jeglichen Kontakt. Doch nach ungefähr sechs Jahren änderte sich meine Einstellung durch ein wachsendes Verständnis von Gott als Liebe erheblich.
Wut zuzulassen kann dazu führen, dass wir das Böse in der Welt versehentlich unterstützen, statt es zu zerstören. Wir mögen meinen, unserem Glauben an das zu folgen, was gut und richtig ist, doch wütende Reaktionen zeigen in Wirklichkeit einen Glauben an die Wirklichkeit von Ungerechtigkeit, Verletzung und die Möglichkeit von Opfer und Täter. Wenn wir die Allmacht Gottes, der Liebe, beweisen möchten, müssen wir über menschliche Szenarien hinaus sehen, um die Unendlichkeit des göttlichen Gemüts zu erkennen. Wenn wir das Böse aus unserer Sicht auf eine Person entfernen – auf den wahren, geistigen Menschen, der zum Bild und Gleichnis Gottes erschaffen ist –, entfernen wir das Böse aus unserer Sicht auf jeden Menschen.
Wir lesen in den Sprüchen in der Bibel (16:32): „Ein Geduldiger ist besser als ein Starker, und wer sich selbst beherrscht, besser als einer, der Städte bezwingt.“ Mir kam beim Beten die Frage: „Welche Art liebevoller Mensch will ich sein – einer, der in den meisten, aber nicht den schwierigsten Fällen lieben kann?“ Sich selbst zu beherrschen bedeutet, Gott als Liebe zum Ausdruck zu bringen – nicht nur, wenn alles glatt geht, sondern in jeder Situation.
Wenn wir an Wut festhalten, verbeißt sich unser Denken in das Opfer-Täter-Szenario, wodurch es die göttliche Natur einer Person leugnet und das Böse als wahr akzeptiert. Doch um wahrhaft von den Auswirkungen einer Ungerechtigkeit, von Hass und Unterdrückung geheilt zu werden, müssen wir für die Macht der Liebe eintreten, und das überwindet den Hass letztendlich. Dann erkennen wir, dass andere zu lieben nicht nur etwas Nettes ist, sondern eine geistige Forderung.
Wahre Umwandlung und Heilung erfordern, dass wir durch die Liebe motiviert sind, die uns befähigt, die Täterin bzw. den Täter als Kind Gottes und somit der Liebe würdig zu betrachten – als fähig, gerettet zu werden –, egal wie unglaubhaft das erscheinen mag.
Durch Christus können wir das. Wenn menschliche, mit Ungerechtigkeit einhergehende Emotionen uns zu überwältigen drohen, löscht der Christus – die wahre Idee Gottes, der Liebe – die Flammen der Wut aus und offenbart die göttliche Liebe als die einzige Macht im Universum. Jesus demonstrierte dies, damit es uns zugutekommt und wir beweisen können, dass wir von jeder Herrschaft befreit werden können, die das Böse über unser Denken zu haben scheint. Gott allein ist Macht, und diese durch die Christliche Wissenschaft bewiesene Tatsache hilft uns, konstruktiv auf dauerhaftes Gutes für alle hinzuarbeiten.
Genau das zeigte sich in der Situation mit meiner Familie. Ich war überrascht zu merken, dass ich irgendwann nicht mehr einfach glaubte, dass Liebe die einzige Macht ist und Hass zunichtemacht, sondern ich fühlte es. Die Macht der göttlichen Liebe fing an, mir alles zu bedeuten, und die menschliche Geschichte einer Ungerechtigkeit verlor an Wirklichkeit. Ich konnte mehr tun, als einfach die Wut loszulassen, ich konnte vergeben, denn ich fürchtete nicht mehr, dass die betreffende Person mich oder andere in der Familie verletzen könnte. Gott – Wahrheit und Liebe – war für mich nicht nur eine schützende, sondern die einzige Macht. Und als diese Person wieder in mein Leben trat, äußerte sie aufrichtige Bekümmerung und Reue über das Vorgefallene, wodurch wir uns wirklich versöhnen konnten. Heute haben wir eine enge Verbindung.
Jesus erlebte Hass und Verfolgung, doch er war ein konsequentes und verlässliches Vorbild für die Macht der Christlichkeit über das Böse in all seiner Falschheit. Er heilte Krankheiten, tröstete die Unterdrückten und erlöste die, die gesündigt hatten. Damit machte er die aggressiven Ansprüche des Bösen zunichte. Wir können uns an dieser geistigen Forderung orientieren, von der Allheit der göttlichen Liebe aus zu leben und zu handeln, und in jeder Situation Mitgefühl und Fürsorge zum Ausdruck bringen.
Wir werden täglich mit Situationen in der Welt und unserem Leben konfrontiert, die vielleicht Wut in uns hervorrufen. Es mag uns sogar so erscheinen, als sei Wut die einzig ehrliche Reaktion. Doch die göttliche Liebe zeigt uns, dass ihre Allmacht jeglichen Hass überwindet – und letztendlich die gesamte Zivilisation in Harmonie mit der Wirklichkeit von Wahrheit und Liebe bringt.
Larissa Snorek
Stellvertretende Chefredakteurin
