Eine gute Freundin, die mit einem Problem kämpfte, vertraute mir kürzlich an, sie befürchte, einer Heilung nicht würdig zu sein. Obwohl ich wusste, dass es keinen Grund für dieses Gefühl der Unwürdigkeit gab, und ihr versicherte, dass sie von Natur aus einen hohen Wert hat, machte mich diese Unterhaltung nachdenklich. Ich erkannte, dass ich hinsichtlich eines langjährigen Konflikts mit einem Familienmitglied ähnliche Gedanken hegte.
Jahrelang hatte ich geglaubt, es reiche aus, Distanz zu wahren, um den Konflikt im Zaum zu halten, doch immer wenn ich an die Beziehung dachte, merkte ich, dass ich mich in einem Kreislauf aus Selbstvorwürfen, Selbstmitleid und Bitterkeit befand. Jetzt verstand ich zum ersten Mal, dass ich mich vielleicht unwürdig fühlte – nicht nur der Liebe dieses Familienmitglieds, sondern auch der Liebe Gottes.
Mary Baker Eddy, die Entdeckerin der Christlichen Wissenschaft, ließ sich bei Fragen immer wieder von der Bibel inspirieren, und ich beschloss sofort, dasselbe zu tun – ich erhoffte mir eine höhere Sichtweise von Würdigkeit und Liebe, durch die Heilung erlangt werden konnte.
Im Matthäusevangelium (9:2–7) lesen wir, wie Jesus einen Gelähmten geheilt hat. Ich kannte die Geschichte gut, war aber wieder aufs Neue davon beeindruckt, dass Jesus die Sünden des Mannes vergab, bevor er die Lähmung heilte. Diesmal fragte ich mich: Wieso hatte Vergebung in diesem Fall Priorität? Ich kam zu dem Schluss, dass Jesu Herangehensweise eine wichtige Wahrheit offenbart: Vergebung und Heilung sind auf eine Weise verknüpft, die uns auf tiefster Ebene umwandelt. Sie zeigen uns unser Potenzial, göttliche Gnade zu erkennen.
Einer der wichtigsten Aspekte von Jesu Mission war seine Fähigkeit, den Menschen zu vermitteln, dass sie der Liebe Gottes würdig waren. Dadurch, dass er ihnen versicherte, ihre Sünden seien vergeben, nahm er ihnen das, was einer Heilung im Weg stand: das Gefühl der Unwürdigkeit und die Selbstvorwürfe. Da Jesus wusste, dass die Schriftgelehrten – Experten für jüdische Gesetze – im Stillen seine Befugnis dazu leugneten, fragte er sie: „Warum denkt ihr so Böses in euren Herzen? Was ist denn leichter, zu sagen: ‚Dir sind deine Sünden vergeben‘, oder zu sagen: ‚Steh auf und geh‘?“
Als ich an mein Familienmitglied dachte, erkannte ich, dass Vergebung eine machtvolle Art geistiger Befreiung ist. Wenn wir an Schuld, Ressentiments oder Selbstvorwürfen festhalten, hindern wir uns selbst daran, wahre Freiheit und Gesundheit zu erleben. Die Christliche Wissenschaft lehrt, dass Sünde kein unauslöschlicher Makel ist, sondern eine falsche Sicht auf uns selbst, und dass diese falsche Sichtweise verschwindet, wenn wir unsere wahre Natur als Gottes Ebenbild erkennen, wodurch wir die Sünde aufgeben können. Und wenn wir begreifen, dass Gottes Liebe vorbehaltlos und immer gegenwärtig ist, hören wir auf, an Schuldgefühlen oder Ressentiments festzuhalten, und öffnen uns für eine Heilung.
Anderen zu vergeben ist ein unverzichtbarer Bestandteil dieses Weges. Jesus lehrte uns im Gebet des Herrn (Matthäus 6:12): „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben.“ Diese reziproke Beziehung macht uns bewusst, dass uns das Aufgeben von Ressentiments anderen gegenüber von einer Last befreit und den Weg für Frieden und Wohlbefinden ebnet. Mrs. Eddy schreibt: „Jene Worte unseres teuren, hinscheidenden Erlösers, von Liebe zu seinen Feinden getragen, erfüllen mein Herz: ‚Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!‘ Meine Schriften heilen die Kranken, und ich danke Gott, dass ich in den vergangenen vierzig Jahren Böses mit Gutem vergolten habe und dass ich mich auf Ihn als meinen Zeugen für die Wahrheit dieser Behauptung berufen kann.
Was wir lieben, bestimmt, was wir sind“ (Die Erste Kirche Christi, Wissenschaftler, und Verschiedenes, S. 270).
Ich musste nicht nur das Familienmitglied von meinen lieblosen Gedanken über dessen Verhalten befreien, sondern auch alle lieblosen Gedanken loslassen, die ich über mich selbst hegte. „Der Weg, den Irrtum aus dem sterblichen Gemüt zu entfernen, ist der, die Wahrheit mit Fluten der Liebe einströmen zu lassen“, schreibt Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit (S. 201). Und in dem Maße, wie wir Wahrheit in unsere Gedanken einströmen lassen, nehmen wir jeden Menschen, uns eingeschlossen, in seiner wahren Natur als geistig und rein wahr. Erbarmen und Reinheit können mit einer scharfen Verurteilung oder Schuldzuweisung nicht koexistieren. Vielmehr zeigen sie uns, dass jeder Mensch einer Umwandlung fähig ist, was für eine Tat er auch begangen haben mag.
Vergebung spiegelt unsere Erkenntnis des gottgegebenen Wertes und Potenzials eines jeden Menschen wider. Das ist kein einmaliger Vorgang, sondern muss zur Gewohnheit werden. Und es ist nicht immer einfach. Doch wenn wir es als Ausdruck von Gottes Liebe erkennen, verstehen wir, dass Vergebung kein persönliches Opfer, sondern ein göttliches Geschenk an unser Herz und das der anderen ist. Dieses Geschenk ist viel mehr als eine emotionale Befreiung, es ist die Erkenntnis, dass Verletzungen oder Fehler der Vergangenheit uns nichts anhaben können. Uns dieser Wahrheit aktiv bewusst zu sein befähigt uns, die heilende Liebe zu zeigen, die Jesus verkörpert hat.
Ich fing an zu erkennen, dass Jesu Lehren uns dazu einladen, Vergebung nicht als Entschuldigung eines Vergehens, sondern als die Offenbarung der wahren Identität als Gottes Kind zu betrachten – unserer und der aller Beteiligten. Als Jesus den Gelähmten heilte, bekräftigte er dessen rein geistige Identität als Gottes ewig vollständige Schöpfung, wodurch seine körperliche Gesundheit wiederhergestellt wurde. Das zeigte, dass zu einer Heilung die Anerkennung unserer ungebrochenen Beziehung zu Gott gehört. Durch die Linse dieser geistigen Tatsache betrachtet zeigt uns Jesu Heilarbeit ein Modell für Vergebung, das praktische Auswirkungen hat und auch Menschen umwandelt.
In dem Maße, wie wir unser Verständnis der Christlichen Wissenschaft vertiefen, lernen wir, dass die göttliche Liebe, Gott, uns ermächtigt, uns und anderen unbegrenzt zu vergeben. Diese Wahrheit anzuerkennen befähigt uns, unser wahres Selbst zu erleben.
Und ich begriff, dass Vergebung kein passiver Vorgang ist. Sie ist ein aktiver Prozess, der von uns verlangt, unser Denken beständig höher zu heben, damit wir die Allheit der göttlichen Liebe anerkennen. Wenn wir vergeben, spiegeln wir nicht nur Gottes Liebe wider, sondern kräftigen unser Verständnis von Gottes Allheit.
Wir lesen in Wissenschaft und Gesundheit (S. 13): „Liebe ist unparteiisch und universal in ihrer Anwendbarkeit und in ihren Gaben.“ Das ist ein Hinweis darauf, dass Vergebung ein natürlicher Ausdruck des Wesens der göttlichen Liebe ist, nicht etwas, das wir durch menschlichen Einsatz bewirken; Gottes Liebe wird dadurch in unserem Herzen deutlich und entfernt sanft alles, das Ihm unähnlich ist.
Stellen Sie es sich so vor: Schuld, Ressentiments und Angst lösen sich mit der Erkenntnis, dass wir bereits geliebt und vollständig sind, vollkommen auf. Genau das wurde mir klar. Als ich anfing, mich und mein Familienmitglied ganz und gar in diesem neuen Licht des Guten zu betrachten, bemerkte ich eine Veränderung in meinem Denken– eine Befreiung von einer Last, die ich jahrelang getragen hatte. Obwohl unsere äußerliche Beziehung noch nicht vollständig wiederhergestellt ist, trage ich keine Ressentiments mehr mit mir herum. Ich empfinde einen tiefen inneren Frieden– und liebe dieses Familienmitglied vorbehaltlos. Heute bin ich offen und erwarte eine gegenseitige Liebe; ich bin sicher, dass Gottes Liebe uns beide regiert.
Dieses Umdenken hat eine ruhige Klarheit mit sich gebracht, als ich bewusst alle Schuldzuweisung losließ und mich der Führung der Liebe übergab. In diesem Augenblick verstand ich, dass das den Kern der Christlichen Wissenschaft ausmacht: das Verständnis, dass uns bereits vergeben wurde und dass wir vollständig von Gottes Liebe umgeben sind. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie wüssten, dass Ihre Heilung jetzt und für immer vollständig ist? Solch eine Versicherung ist nicht nur tröstlich, sondern wandelt uns zutiefst um, denn sie befähigt uns, den dauerhaften Frieden und die beständige Gesundheit zu erleben, die uns bereits wahrhaft zu eigen sind.
Indem wir Jesu Beispiel der Vergebung folgen, sorgen wir dafür, dass unser Herz bereit für diese Heilung und fähig ist, diese Gnade auch auf andere auszuweiten. Damit entdecken wir, dass Vergebung keine noble Tat ist, sondern die göttliche Liebe widerspiegelt und unsere wahre, geistige Identität verdeutlicht. Auf diesem Weg erleben wir die Vollständigkeit, die Jesus all denen demonstrierte, die er heilte. Und wir erleben die heilende Macht der Liebe in unserem eigenen Leben.
