Es hatte nichts mit meiner Körperwahrnehmung zu tun, sondern ging um Kontrolle – ich wollte die eine Sache in meinem Leben kontrollieren, die ich meiner Meinung nach im Griff hatte. Und das betraf, wie viel ich aß.
Es fing damit an, dass mir alles aus der Hand zu gleiten schien. Gegen Ende der neunten Klasse fiel mein vorher so enger Freundeskreis auseinander. Obwohl ich rein theoretisch wusste, dass Änderungen in Freundschaften ganz natürlich sind, wurde ich damit nicht fertig. Ich fühlte mich gewissermaßen sogar dafür verantwortlich. Und da es schien, als könnte ich nichts tun, um meine Freunde zusammenzuhalten, fühlte ich mich völlig hilflos.
Es ging mir besser, wenn ich bestimmte, was ich aß, und schließlich hörte ich ganz auf zu essen. Das gab mir ein falsches Gefühl von Ordnung und Kontrolle im Leben. Wenn ich eine Mahlzeit ausließ, fühlte ich mich machtvoll. Es war fast, als ob ich mir durchs Fasten einreden konnte, dass mein Leben nicht auseinanderbrach und dass ich alles im Griff hatte.
Erst fanden die anderen das nur merkwürdig – meine seltsamen Essgewohnheiten und all das. Doch schon bald merkten sie, dass etwas echt nicht stimmte. Leider spornte mich das nur an. Sobald sich jemand besorgt zeigte, wurde ich nur noch aufgebrachter – als ob die Person sich in mein Leben einmischen wollte.
Als das zehnte Schuljahr begann, war die Sache so weit eskaliert, dass ich zwei Wochen nach Schulbeginn aufgefordert wurde, die Schule zu verlassen, um mich um meine Gesundheit zu kümmern. Ich war empört. Obwohl ich im tiefsten Innern wusste, dass die anderen nur helfen wollten, war ich so in meinen Eigenwillen verwickelt, dass sich mir der Blick verstellte.
Und doch wusste ich, dass ich Hilfe brauchte. Mein Vater, der alleinerziehend ist, hatte sein Möglichstes getan, um mir zu helfen. Ich wusste, dass er für mich betete, und er versuchte beständig, mich zum Essen zu bewegen. Er sorgte auch dafür, dass immer genug zu essen im Haus war, falls ich Appetit auf etwas bekäme. Und diese Tatsache führte zu einem der ersten Wendepunkte. Als ich eines Abends in der Küche stand und eine neue Art von Schokoriegel in den Händen hielt, die er für mich gekauft hatte, dachte ich: Diese ganze blöde Sache kann hinter mir liegen, wenn ich den jetzt esse. Aber es ging nicht. Ich konnte mich buchstäblich nicht dazu überwinden, ein Stück Schokolade zu essen. Da wurde mir klar, dass ich festsaß. Ich hatte meinen Willen benutzt, um mich in diese Situation zu bringen, doch jetzt reichte er nicht aus, um mich daraus zu befreien.
Mein Vater brachte mich dazu, eine Praktikerin der Christlichen Wissenschaft um Hilfe durch Gebet zu bitten. Nachdem die Schule mich ausgeschlossen hatte, sorgte er dafür, dass ich die Tage im Haus einer Pflegerin in der Christlichen Wissenschaft verbrachte. Und somit saß ich in der Klemme. Die Pflegerin war streng mit mir – sie hatte quasi eine liebevolle Strenge –, denn sie gestattete mir nicht, Mahlzeiten auszulassen, und ich konnte mich nirgendwo verstecken. Ich fing an, drei normale Mahlzeiten am Tag zu essen, und nahm wieder etwas zu. Doch seelisch war ich weiterhin verzweifelt.
Wie herrlich zu verstehen, dass es nicht von mir abhing, dass alles funktionierte, sondern dass Gott bereits alle Zügel in der Hand hielt!
Nach und nach machte ich aber doch Fortschritt. Die Praktikerin und ich sprachen zum Beispiel über einen Vers aus der Bibel: „Esst, was euch vorgesetzt wird“ (Lukas 10:8). Ich begriff allmählich, dass das Problem nichts mit dem Essen zu tun hatte und ob ich etwas aß oder nicht, sondern es ging darum, wirklich das in Angriff zu nehmen, was ich überwinden musste. Ich verstand, dass ich wie mit dem Essen einfach einen Bissen nach dem anderen tun musste – Schritt für Schritt vorgehen, und das bedeutete, Gott zu vertrauen und Ihm die Kontrolle über mein Leben zu überlassen.
Es war schwer, meinen Eigenwillen loszulassen, doch dann las ich eine Stelle aus Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, in der der Wille „ein tierischer Trieb“ genannt wird. Und es heißt weiter: „Der Wille – blind, eigensinnig und unbesonnen – kooperiert mit Begierde und Leidenschaft. Aus dieser Kooperation entsteht sein Übel. Daraus folgt auch seine Machtlosigkeit, denn alle Macht gehört Gott, dem Guten, an“ (S. 490). Zum ersten Mal begriff ich, dass Eigenwille nicht gut oder attraktiv ist. Eigentlich wollte ich nichts mit solch einer Mentalität zu tun haben, denn sie hat nichts mit Gott zu tun. Und ich fing an zu verstehen, dass es vielleicht gut war, die Kontrolle aufzugeben. Denn Gott hat erstens ohnehin die Macht, und zweitens ist Sein Plan bestimmt besser als meiner es je sein könnte.
Ich redete mit der Praktikerin auch darüber, was mit meinen Freunden passierte, und wir beteten um die Erkenntnis, dass ich immer an meinem rechten Ort und mit den richtigen Leuten zusammen bin. Das kommt daher, weil Gott das göttliche Prinzip ist und die Dinge immer richtig ordnet. Und Er ist Liebe – reine Liebe. Es machte also keinen Sinn, dass ich mich nicht geliebt fühlen und ein liebloses Leben führen sollte. Es war die Aufgabe der Liebe, für mich zu sorgen, und nun konnte ich verstehen, dass ich der Liebe vertrauen konnte.
Am meisten kämpfte ich mit der Wut darüber, nicht zur Schule zu gehen. Ich bin eine gute Schülerin und es erschien mir unfair, dass andere Leute mich davon abhielten, da zu sein, wo mein rechtmäßiger Platz zu sein schien. Doch eines Abends sagte mein Vater, dass mein rechtmäßiger Platz jetzt gerade vielleicht nicht in der Schule war – so hatte ich das noch nicht gesehen. Er ermunterte mich, weiter auf Gott zu lauschen und für Seinen Plan offen zu sein – darauf zu vertrauen, dass mein Leben mit Gutem erfüllt ist und auf ganz richtige Weise verläuft.
Diese Unterhaltung brachte den Durchbruch, und mein Denken wendete sich buchstäblich um 180 Grad. Ich begriff, dass in Wirklichkeit absolut nichts außerhalb von Gottes Kontrolle passiert und dass ich die perfekte Ordnung, die in meinem Leben bereits herrschte, erkennen würde, wenn ich meine eigene Sichtweise zugunsten Seiner aufgab. Ich verstand, dass Gott mich sehr liebhatte und dass diese Liebe sich in Dingen zeigte, die ich nicht mal anerkannt hatte – durch meinen Vater, die Pflegerin, die Praktikerin, meine beste Freundin, die die ganze Zeit zu mir hielt, und sogar Mitschüler, die ich kaum kannte. Ich verstand, dass es keinen Augenblick gab, in dem Gott mich nicht versorgte, und dass ich auf diese Fürsorge vertrauen konnte. Und ich würde wieder zur Schule gehen, wenn die Zeit gekommen war.
Ich war so gestresst gewesen darüber, jedes Detail meines Lebens zu kontrollieren, dass diese Erkenntnis die größte Erleichterung aller Zeiten war. Wie herrlich zu verstehen, dass es nicht von mir abhing, dass alles funktionierte, sondern dass Gott bereits die Zügel in der Hand hielt!
Kurz darauf aß ich wieder normal; ich war nicht mehr sauer oder eigenwillig und erlangte ein gesundes Körpergewicht zurück. Heute bin ich wieder in drei Sportarten aktiv und komme gut mit meinen Freunden aus. (Die Situation mit den Freunden löste sich übrigens völlig, und obwohl wir eigene Wege gingen, kam es nie zum Streit und wir sind weiter nett zueinander.)
Das Beste an dieser Heilung ist, wie viel relaxter ich jetzt bei allem bin. Vorher war ich immer gestresst, was Schule, Zensuren und sowas anging. Heute mache ich mir darüber nicht mehr so viele Gedanken. Ich will natürlich gut sein, aber mein neues Verständnis darüber, wer die Kontrolle über mein Leben hat – nämlich Gott –, hat den Druck weggenommen. Statt alles selbst machen zu wollen, konzentriere ich mich lieber auf Gott. Ich weiß, dass meine Aufgabe ist, die zu sein, die ich bin – Seine Tochter –, und Ihm den Rest zu überlassen.
