Ich war nicht mal aufgestanden und wusste schon, dass es kein guter Tag werden würde. Gleich am Morgen eine Klassenarbeit, auf die ich schlecht vorbereitet war, und dann hatte ich mich am Tag davor mit meiner besten Freundin gestritten, sodass ich nicht nur ohne sie auskommen musste, sondern auch keine Mitfahrgelegenheit hatte. Und überdies regnete es. Das Wetter passte perfekt zu meiner Stimmung – düster und trostlos.
Die Schule war zehn Häuserblocks entfernt, und so meinte ich, keine Zeit zu haben, wie sonst vor der Schule einen Teil der Bibellektion aus dem Vierteljahresheft der Christlichen Wissenschaft zu lesen. Doch meine Mutter ermunterte mich dazu, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift aufzuschlagen und einen guten Gedanken mit in den Tag zu nehmen. Mary Baker Eddys erster Satz lautet: „Für alle, die sich auf den erhaltenden Unendlichen verlassen, ist das Heute reich an Segnungen“ (S. vii). Ich las das schnell noch mal.
„Na ja“, dachte ich, „diese Worte mögen zu Mrs. Eddys Zeit gestimmt haben, aber in meinem Heute echt nicht. Kein Mensch könnte je denken, dass ein Tag wie heute ‚reich an Segnungen‘ sein würde!“
Auf dem Weg durch den Regen versuchte ich, mich auf die bevorstehende Klassenarbeit zu konzentrieren, aber ich musste immer wieder an Mrs. Eddys Versprechen denken. Es erschien mir wichtig, dass dieser Satz ganz am Anfang ihres Buches stand. Das Wort „verlassen“ machte Eindruck auf mich. Verließ ich mich genug auf Gott?
Und dann klingelte es zur Stunde und in der Eile, pünktlich am Platz zu sein, blieb keine Zeit, weiter über diesen Satz nachzudenken. Die Klassenhefte wurden verteilt – und die Arbeit war noch schlimmer als ich befürchtet hatte! Obwohl ich am Abend vorher noch geübt hatte, konnte ich nur drei Fragen sicher beantworten. Die anderen verstand ich nicht mal.
Der Satz aus Wissenschaft und Gesundheit hielt mich davon ab, in Tränen auszubrechen. Da ich eh nichts zu verlieren hatte, beschloss ich, ihn auszutesten und mich auf Gott zu verlassen. Ich drängte das Gefühl der Unzulänglichkeit beiseite und versuchte, an alles zu denken, was ich über das allgegenwärtige Gemüt gelernt hatte. Mrs. Eddy beschreibt den Menschen als „das, was kein Leben, keine Intelligenz noch schöpferische Kraft aus sich selbst besitzt, sondern alles geistig widerspiegelt, was zu seinem Schöpfer gehört“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 475). Da Gott unbegrenztes Gemüt ist, konnte ich nur unbegrenzt Wissen, Weisheit und Erkenntnis widerspiegeln. Je mehr ich mich auf das Gemüt verließ, das Gott ist, desto besser verstand ich die Fragen, und am Ende der Stunde hatte ich alle beantwortet.
Nicht zu fassen! Am liebsten wäre ich aufgesprungen, um allen von der wahnsinnig tollen Idee zu erzählen, die ich gerade entdeckt hatte. Doch vielleicht gab es eine einfachere Erklärung. Schließlich war ich wegen der Klassenarbeit ziemlich nervös gewesen. Vielleicht war das, was ich für die Arbeit gelernt hatte, an die Oberfläche gekommen, als ich mich mehr entspannte. Der Schwachpunkt in dieser sehr logischen Erklärung war, dass mir auch etliche Dinge eingefallen waren, die ich nicht geübt hatte.
„Wenn Mrs. Eddys Regel wirklich funktioniert“, dachte ich, „dann muss sie für alles funktionieren.“ Ich hatte fast umgehend Gelegenheit, das weiter zu testen. Als ich aus der Klasse kam, sah ich meine Freundin auf dem Gang. „Gottes Weg führt durch Vergebung“, sagte ich mir, und lief zu ihr in der Gewissheit, dass Gott alles wieder in Ordnung bringen würde.
„Hör mal“, platzte ich heraus. „Ich verzeihe dir dafür, dass du gestern so wütend geworden bist. Du wusstest nicht, was du da sagtest.“
Meine Freundin sah mich ein paar Sekunden lang schweigend an und griff dann energisch nach ihrer Tasche. „Ich brauche deine Vergebung nicht“, sagte sie und ging davon.
In der großen Pause war mir klar, dass etwas absolut schiefgelaufen war. Nachdem ich mich den Morgen lang auf Gott verlassen hatte, war ich einmal gesegnet und einmal missverstanden worden.
Da begriff ich, dass ich mich bei der Klassenarbeit demütig auf Gott verlassen hatte, doch bei meiner Freundin hatte ich auf menschliche Weise Frieden stiften wollen. Ich hatte weder auf Gott gelauscht, noch mich von Liebe führen lassen.
In einer Lektion zum Thema „Christus Jesus“, die wir unlängst in der Sonntagsschule der Christlichen Wissenschaft durchgenommen hatten, war uns klargeworden, wie konsequent Jesus Gottes Willen befolgt hatte, egal wie die menschlichen Umstände aussahen.
Mir fiel ein Vers aus den Sprüchen ein: „Verlass dich auf den Herrn von ganzem Herzen, und verlass dich nicht auf deinen Verstand“ (3:5). Könnte das die Lösung sein? „Sich verlassen ist wie stützen“, dachte ich. „Wenn man nicht ein bisschen flexibel ist, kann man sich nicht auf etwas stützen sondern man fällt hin“ – und das war mir vorhin im Gang passiert. Ich musste diese Flexibilität üben, damit ich mich besser auf Gott stützen konnte.
Der Heimweg durch den Regen bot mir Zeit zum Üben. Ich bemühte mich, meine Freundin als das liebevolle Kind Gottes zu sehen. Mir kam der Gedanke, dass wir nicht im Konflikt miteinander stehen konnten, da wir doch beide dasselbe Gemüt widerspiegeln – aus einem unterschiedlichen Winkel, aber das machte ja nichts.
Plötzlich hörte ich Reifen neben mir knirschen. Meine Freundin rollte das Fenster runter. „Ich kann dich da draußen ja nicht ertrinken lassen“, rief sie. „Steig ein – so lange du versprichst, mir nicht wieder verzeihen zu wollen!“
Als ich die Autotür aufmachte, musste ich lachen. Selbst der Regen war am Ende ein Segen!
