Da ich als Kind missbraucht wurde, fühlte ich mich während des Großteils meiner Jugend als Opfer. Ehrlich gesagt genoss ich das Opferdasein ein wenig, denn es gab mir ein Gefühl von Identität. „Ich Arme“ wurde gleichbedeutend mit „Ich bin etwas Besonderes“.
Als meine Teenagerjahre ausklangen, war ich nicht mehr „Opfer“, sondern „Überlebende“. Das kam mir besser vor, doch ich fühlte mich immer noch angreifbar, seelisch verletzt und dauerhaft beschädigt durch Menschen in meinem Leben, die es besser hätten wissen sollen.
Es hat sehr den Anschein, als wären wir das Produkt unserer Umgebung, oder? Unsere Individualität scheint sich aus einer Mischung aus Vererbung, Erziehung und Erfahrungen zusammenzusetzen. Es ist leicht, sich durch alles, was uns passiert und was wir nicht steuern können, als Opfer zu fühlen – oder sogar zu definieren.
Doch als ich mit Anfang zwanzig anfing, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy zu lesen, lernte ich, dass unsere wahre Identität sich nicht aus menschlichen Umständen zusammensetzt, sondern von Gott kommt. Und ich fand eine völlig neue Weise, mich selbst zu identifizieren – eine gottzentrierte, von Gott ausgehende Weise. Das führte mich letztendlich zu einem Leben der Freiheit von den begrenzenden Schubladen, in denen ich zu sein glaubte.
Durch Wissenschaft und Gesundheit fing ich an, besser zu verstehen, dass Gott uns geistig als Seine Söhne und Töchter erschaffen hat und dass unser göttlicher Vater-Mutter-Gott uns jeden Augenblick liebt. Das bedeutet, dass unsere Identität sich nicht ändern kann, was wir auch erleben. Wir sind intakt. Wir sind unverletzt. Wir sind vollständig. Wenn wir dies als die Wahrheit über uns akzeptieren, können wir anfangen, unsere Sichtweise von uns selbst zu revidieren.
Das ist etwas völlig anderes als zu denken, dass unsere Erlebnisse uns formen. Die geistige Wirklichkeit ist, dass wir nicht zum Opfer gemacht, beschädigt oder verletzt werden können, denn so, wie Gott uns erschaffen hat, sind wir beständig, ohne Wenn und Aber.
Uns wurde vielleicht gesagt, wie wichtig es ist zu erkennen, dass wir Opfer sind und schreckliche Dinge überlebt haben. Natürlich ignorieren wir schlimme Dinge, die wir oder andere durchmachen mussten, nicht, doch die Identifikation mit einem Problem macht uns nicht von dem Problem frei. Selbst das kurze Empfinden der Bestätigung, das der Gedanke an die schlimmen Dingen mit sich bringt, macht sich langfristig nicht bezahlt, denn es hält uns in dem Konzept einer beschädigten Identität gefangen, statt uns voran zu bringen.
Ein anderer Aspekt, sich als Opfer zu sehen – ob aufgrund von Trauma oder vielleicht hinsichtlich einer Beziehung, die auseinandergegangen ist –, ist, dass wir damit unsere Macht aus der Hand gegeben haben. Das bedeutet, dass wir machtlos sind, uns selbst zu helfen. Wir sind den Umständen ausgeliefert – beispielsweise dem Verhalten anderer.
Doch niemand will hilflos sein, und das müssen wir auch nicht. Mary Baker Eddy gab uns einen Ausweg, als sie schrieb: „Wisset denn, dass ihr unumschränkte Macht besitzt, recht zu denken und zu handeln, und dass nichts euch dieses Erbes berauben und gegen die Liebe verstoßen kann“ (Kanzel und Presse, S. 3). Für mich bedeutet dies, dass wir selbst entscheiden können, ob wir Opfer sind oder unsere Gedanken auf die Grundlage und das Fundament von Gott richten.
Wenn wir durch Gebet beschließen, die Dinge so zu sehen, wie Gott – als von der göttlichen Liebe (das ist ein anderer Name für Gott) erhalten und beschützt –, dann stellen wir fest, dass sich unser Denken ändert. Dann wenden wir uns von der Überzeugung ab, dass wir keine Möglichkeit haben, die Macht Gottes bei uns zu fühlen.
Wenn sich unsere Selbstwahrnehmung ändert, wird unser Leben diese Änderung widerspiegeln. Als mein Selbstverständnis geistiger verwurzelt wurde, fühlte ich mich nicht mehr machtlos, sondern stellte fest, dass ich Kontrolle hatte; ich fühlte mich nicht mehr schwach, sondern wusste, dass ich stark war. Außerdem fühlte ich mich nicht mehr länger den Umständen ausgeliefert.
Diese Art von Änderung ist für jeden möglich. Wenn wir unsere Sichtweise vom Opferdasein – oder Überleben – in ein inniges Verständnis von Gottes allgegenwärtiger Fürsorge für jeden von uns als Sein Kind ändern, finden wir eine Identität, die voll Zufriedenheit, Hoffnung und Möglichkeiten ist.
