In der Einfahrt, halb auf dem Kirchengrundstück, stehen drei Autos und blockieren die Zufahrt zum Parkplatz im Hof wie auch den Gehweg. Ich nehme an, die Durchfahrt wird umgehend wieder frei gemacht. Das geschieht jedoch nicht. Auf mein nachdrückliches Hupen hin erscheint niemand. Es ist schon Abend und ich habe es eilig. Nun sitze ich da, friere und warte. Ich fühle Wut und Hilflosigkeit.
Nach gut einer halben Stunde erscheinen die Besitzer der Autos. Niemand entschuldigt sich. Ich sage ihnen, dass ich eine Anzeige erstatten werde. Keine Reaktion. Sie grinsen, setzen sich in ihre Autos und verschwinden. Ich rase wütend nach Hause und setze mich gleich an den Computer, um im Internet bei der Berliner Polizei eine Strafanzeige zu erstatten. Nach einigen inneren Kämpfen schalte ich ihn jedoch wieder ab. Ich bin unsicher, und ich möchte verstehen, was ich über mich und die anderen wissen muss, um Frieden zu finden.
Ich schlage den Artikel „Beleidigtsein“ in Vermischte Schriften 1883–1896 (S. 223–224) auf. Zwei Gedanken helfen mir hier besonders: „Uns selbst für die Fehler anderer zu strafen ist überaus töricht.“ Und es ist „unsere Selbstsucht, die sich durch eines anderen Anmaßung verletzt fühlt“. Trotz der Lektüre vibriere ich immer noch vor Wut und habe Schmerzen in der Brust. Aber dann beschließe ich, die Angelegenheit loszulassen und für diese Nacht vertrauensvoll an Gott abzugeben. Und ich gehe zu Bett und schlafe ein.
Sechs Stunden später spüre ich körperlich Schmerzen und frage mich: „Was ist hier eigentlich los? Warum leidest du?“ Dann wird mir plötzlich bewusst: Man hat mir Unrecht angetan. Das ist es, was mir zu schaffen macht. Ich erlebe hier etwas, was vielen Menschen in ihrem Leben geschehen kann: Respektlosigkeit, Missachtung, Rücksichtslosigkeit. Darüber bin ich also bestürzt und das gilt es im Gebet zu handhaben.
Mary Baker Eddy schreibt in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift: „Die Christlichen Wissenschaftler müssen unter dem ständigen Druck des apostolischen Gebots leben, aus der materiellen Welt hinauszugehen und sich abzusondern“ (S. 451).
Ich weiß aus Erfahrung, dass ich jede Frage von Gott, dem einen göttlichen Gemüt, beantwortet bekomme.
Mir wird bewusst, dass, wenn ich mich auf eine Stufe stelle mit einer materiellen Welt, regiert vom sterblichen Gemüt – ein Begriff, den Eddy benutzt, um den irrigen Glauben an Leben in der Materie zu beschreiben –, ich auf dieser Stufe auch alles dementsprechend erlebe. Ich reagiere also sozusagen im Sinne des sterblichen Gemüts und somit hat es mich hier anscheinend im Griff. Nein, ich kann mich selbst genau in demselben Maße als Gottes Kind anerkennen wie die anderen. Der Prophet Jesaja schreibt: „... Löse, die du mit Unrecht gebunden hast; lass los, die du unterjochst; gib frei, die du bedrängst; reiß jedes Joch weg; ...“ (Jesaja 58:6). Ich erkenne, ich muss diese Leute am Parkplatz loslösen von jeder Beschuldigung, sie hätten sich von gottunähnlichen Qualitäten leiten lassen, und sie in ihrem wahren geistigen Wesen als Gottes Kinder auffassen.
Ich schlage das Lied 30 aus dem Liederbuch der Christlichen Wissenschaft auf. Es ist ein vertontes Gedicht von Mary Baker Eddy und beginnt so: „Nimm unter Deine Flügel uns, im Geist vereint und gleich.“ Ich nehme ganz intensiv den Sinn der Verse in mich auf, nämlich, dass wir alle – im Geist vereint – lernen können, Verständnis füreinander zu haben, und dass diese Liebe uns belebt und von Zwietracht erlöst. Ich merke, wie ich mit jedem Wort des Liedes freier werde.
Als ich am Ende bin, ist alles von mir abgefallen, was mich in den vergangenen Stunden so schwer belastet hat. Mir wird klar: In der göttlichen Liebe sind alle Menschen eins, weil wir alle die Kinder eines Vater-Mutter Gottes sind. Als geistige Widerspiegelung oder Idee Gottes werden wir nicht von materialistischem Denken und Handeln getrieben. Vielmehr können wir jeden Menschen in diesem Bewusstsein von Gemeinschaft und Frieden unter Gottes Ideen anerkennen. Ich empfinde keinen körperlichen und keinen seelischen Schmerz mehr, weil kein Vorwurf gegen diese Mitmenschen mehr in mir zurückbleibt. Ich fühle mich befreit und bin dankbar.
Der schon erwähnte Artikel „Beleidigtsein“ beschreibt u. a., dass jeder Mensch aufgrund seiner vielfältigen individuellen Erfahrungen agiert. Dort heißt es weiter: „Dann sollten wir mit den geringsten Erwartungen, aber mit der größten Geduld ins Leben hinausgehen, mit lebhaftem Gefallen an allem Schönen und Anerkennung für alles Große und Gute, aber mit so einer heiteren Gelassenheit, dass die Reibung der Außenwelt unser Feingefühl nicht beeinträchtigt, mit einem so gefestigten Gleichmut, dass kein vorüberziehender Hauch noch eine zufällige Störung uns erregen oder aus der Fassung bringen kann, mit einer Liebe, weit genug, die Übel der ganzen Welt zu bedecken, und innig genug, alles Bittere in ihr wirkungslos zu machen – entschlossen, uns weder durch unbeabsichtigtes noch selbst durch beabsichtigtes Unrecht verletzen zu lassen, es sei denn, die Beleidigung richte sich gegen Gott (S. 224).“
Das ist mir eine hilfreiche Handlungsanweisung. Ich weiß inzwischen auch, dass ich keine Anzeige erstatten werde und es auch gar nicht mehr möchte.
Ich frage mich: Wie bin ich dann überhaupt in diese Situation gekommen? Was hat mich scheinbar von der göttlichen Harmonie getrennt? Nicht Gott führt solche unerfreulichen Situationen herbei, weil Gottes allgegenwärtige Leitung und Herrschaft ausschließlich zu Harmonie führen.
Ich weiß aus Erfahrung, dass ich jede Frage von Gott, dem einen göttlichen Gemüt, beantwortet bekomme, wenn ich sie im vollen Bewusstsein meiner geistigen Gotteskindschaft – und der eines jeden anderen – stelle. Ich weiß, dass Gott den Menschen, also alle Menschen, zu Seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat.
Wenn ich innerlich Abstand nehme von der äußerlich sichtbaren Situation und sie nur so sehe, wie Gott sie sieht, statt mich persönlich angegriffen zu fühlen und nur zu reagieren, kann ich im Bewusstsein meiner Gotteskindschaft das göttliche Gemüt wirken lassen und beobachten, wie es die Situation umwandelt und Frieden sichtbar macht.
Alle wirkliche Herrschaft geht vom göttlichen Gemüt aus. In diesem göttlichen Gemüt kann keine Idee einer anderen Schaden zufügen. Alle Ideen des Gemüts unterstehen direkt der göttlichen Herrschaft, wo sie gegen Unrecht geschützt sind.
Danke, Gott, für diese Antworten und für diese Umwandlung.
