Wir alle wissen, was unter Notwehr – oder Selbstverteidigung – zu verstehen ist. Ließe sich dieser Begriff auch aus einem geistigen Blickwinkel heraus interpretieren?
In diesem Zusammenhang schreibt Mary Baker Eddy in ihrer aufschlussreichen Abhandlung „Liebet eure Feinde“ u. a. Folgendes: „Ich dachte früher, es sei gerecht genug, wenn ich mich an unser Staatsgesetz hielte; dass, wenn jemand auf mein Herz zielte und ich mein Leben retten könnte, indem ich zuerst feuerte und ihn tötete, dies richtig wäre. ...
Liebe lässt nicht menschliche Gerechtigkeit, sondern göttliche Barmherzigkeit zuteil werden. Würden wir, wenn angegriffen, eher unser Leben hingeben als es dadurch retten, dass wir in Übereinstimmung mit dem herrschenden Gesetz dem anderen das Leben nähmen? Wir müssen unseren Feinden in allem und durch alles die gleiche Liebe bezeugen wie unseren Freunden, müssen sogar versuchen, ihre Fehler nicht bloßzustellen, sondern ihnen Gutes zu tun, wenn immer sich eine Gelegenheit dazu bietet“ (Vermischte Schriften 1886–1893, S. 11).
Dieses Zitat regte mich an, tiefer über diese Dinge nachzudenken. Obwohl die gängige Rechtsprechung es gestattet, sich in Notwehr gegen eine andere Person zu verteidigen und sie unter Umständen sogar zu töten, so überragen die göttliche Gerechtigkeit und das göttliche Gesetz dennoch die menschlichen Gesetze, die sich letztendlich immer der göttlichen Gesetzgebung unterordnen.
Christus Jesus, der dies wusste, betrachtete Selbstverteidigung von einem geistigen Standpunkt aus und verdeutlichte seine Herangehensweise durch sein eigenes Beispiel. Anstatt sich mit Gewalt gegen Aggression zu verteidigen – eine Reaktion, die von der Gesellschaft allgemein gebilligt wird –, lehrte er durch seine reine Liebe zur Menschheit, dass es möglich ist, anders zu reagieren.
Christus Jesus bewies, dass geistige Liebe und wahre Selbstverteidigung untrennbar miteinander verbunden sind. Als seine Kreuzigung unmittelbar bevorstand, weigerte er sich, menschliche Mittel und Wege in Anspruch zu nehmen, ja er rebellierte nicht einmal, obgleich er wusste, dass er zu Unrecht verurteilt worden war. Er sagte kein einziges Wort, woraufhin Pilatus sich dazu veranlasst fühlte, ihn zu fragen: „Redest du nicht mit mir? Weißt du nicht, dass ich Macht habe, dich zu kreuzigen, und Macht habe, dich freizugeben?“ Darauf erwiderte Jesus: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre;“ (Johannes 19:10, 11). Jesus hatte es ganz klar erfasst, dass Gottes allliebende Macht allmächtig ist und dass sie uns letztendlich zum Triumph über Böses jeder Art verhilft. Ja, er wurde gekreuzigt. Doch, wie Mary Baker Eddy schrieb: „Er sollte beweisen, dass der Christus materiellen Bedingungen nicht unterworfen ist, sondern außerhalb der Reichweite menschlichen Zorns steht und fähig ist, durch Wahrheit, Leben und Liebe über Sünde, Krankheit, Tod und das Grab zu triumphieren“ (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 49). Jesus bewies, dass der Christus, die geistige Idee der Wahrheit und Liebe, auf immer unverletzt und fähig ist, das Böse durch sein allliebendes Wesen zu zerstören. Und dieses christusgleiche Wesen ist auch heute in uns und der gesamten Menschheit am Wirken.
Durch die selbstlose Liebe, die unser Meister zum Ausdruck brachte, war er imstande zu vergeben, selbst in Situationen, wo die Anwendung von Gewalt durchaus gerechtfertigt gewesen wäre. Als Petrus dem Knecht des Hohepriesters das Ohr abhieb, forderte Jesus ihn auf, sein Schwert in die Scheide zu stecken (siehe Johannes 18:10, 11). Und sogar während der Kreuzigung betete er: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lukas 23:34).
Als ich weiter über Christi Jesu radikales Beispiel nachdachte, erkannte ich, dass er bewiesen hatte, dass die wirksamste Form der Selbstverteidigung Liebe und Vergebung ist, denn Liebe und Vergebung zerstören das Böse. Wenn wir unsere wahre geistige und liebevolle Natur als die Widerspiegelung des göttlichen Geistes und der göttlichen Liebe verstehen, können wir die Lehren unseres Meisters befolgen und sie im Alltag umsetzen. Unsere Reaktionen werden dann von Liebe motiviert sein und wir werden danach streben, die göttliche Liebe in unseren Angelegenheiten und Beziehungen unserem geistigen Verständnis gemäß, so gut wir es vermögen zum Ausdruck zu bringen. Und hierzu gibt es in Wirklichkeit auch gar keine Alternative, da ein jeder von uns die Widerspiegelung der Liebe ist. Wenn wir dies verstanden haben, ändert sich unser Denken und infolgedessen auch unsere menschliche Erfahrung.
Vor einiger Zeit bot sich mir die Gelegenheit dazu, diese bedingungslose Christus-Liebe zum Ausdruck zu bringen, nachdem es zwischen einem Nachbarn, der seine Garage mit mir teilt, und mir verschiedentlich zu Missverständnissen gekommen war. Nach einigen hitzigen Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Nutzung seiner Garage begann der Nachbar sich mir gegenüber sehr aggressiv zu verhalten.
Aber anstatt meinerseits nun ebenfalls mit Aggression zu reagieren, ließ ich den Christus sachte in mein Bewusstsein einströmen, und das verlieh mir die göttliche Kraft, liebevoll und freundlich zu bleiben. Als ich das tat, beruhigte sich mein Nachbar allmählich und änderte seine Haltung mir gegenüber. Die Frage der Garagennutzung wurde harmonisch gelöst, und ich bin heute noch immer sehr dankbar für unsere Freundschaft.
Dank der unendlichen Liebe, die die göttliche Liebe zu uns hat, werden die menschlichen Vorstellungen darüber, wie man am besten reagieren sollte, hinfällig. Wir alle sind in der Lage, auch in kleinen Dingen die Christus-Liebe widerzuspiegeln und der Aufforderung unseres Meisters nachzukommen, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst (siehe Lukas 10:27). Wenn wir täglich danach streben dies zu tun, tragen wir zur endgültigen Zerstörung des Bösen bei. Wir erkennen, dass wir eins mit Gott sind, dass wir in einer unverbrüchlichen Verbindung zu Ihm stehen, und daher nie angreifbar oder wehrlos sein können. Dieses Wissen ist unser bester Schutz, unsere wirksamste Verteidigung. Dank Christi kontinuierlicher Liebe ist unser Recht auf das Gute geschützt und niemand ist je von dieser Liebe getrennt.
