Die ältere Dame hatte gerade problemlos und elegant ihr Auto in eine winzige Parklücke manövriert. „Siehst du, ich kann das noch!“, sagte sie zufrieden. „Wieso noch?“, fragte ich. Für mich hatte es keinen Zweifel gegeben, dass sie das konnte. Sie war schließlich eine ausgezeichnete Autofahrerin.
Nach diesem kurzen Austausch fiel mir diese Verbindung aus einer Fähigkeit und „noch“ immer wieder auf. Die beiden werden so oft miteinander kombiniert, dass uns kaum bewusst wird, was damit ausgesagt wird. Wir lesen, dass der 30-jährige Tennisspieler noch mit seinem viel jüngeren Gegenspieler mithalten kann, dass die Mittvierzigerin noch gut aussieht und das Ehepaar in den Sechzigern noch tolle Reisen unternimmt. Kaum einer denkt sich etwas dabei.
Doch betrachten wir die Denkweise hinter dieser Wendung näher, dann stellen wir fest, dass sie die Menschheit in Ketten legt. Sie engt die Aussage und damit die Erwartung der Fähigkeit ein, um die es geht. Kinder verkünden stolz, dass sie etwas schon können. Wer hat nicht den strahlenden Triumph eines Kindes gesehen, das gerade das Radfahren erlernt hat? Irgendwann verschwindet dieses schon dann aus der Ausdrucksweise, und über mehrere Jahrzehnte kann man Dinge, ohne sie näher verbal auszuschmücken. Und dann schleicht sich irgendwann das noch ein. Die Implikation ist klar: Eines Tages ist es mit dem Können vorbei. Statt etwas Neues zu lernen, werden Dinge verlernt. Damit folgt man, ohne es zu merken, dem Muster von Wachstum, Reife und Verfall, das die materielle Natur vorgibt.
Wir finden allerdings weder in der Bibel noch in den Lehren der Christlichen Wissenschaft Hinweise darauf, dass diese Folge notwendig oder auch nur akzeptabel ist. Im Gegenteil, Mrs. Eddy warnt davor. „Berichte niemals über Alter“, schreibt sie in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift. „Chronologische Daten sind kein Teil der unermesslichen Ewigkeit. Zeittafeln über Geburt und Tod sind lauter Verschwörer gegen Männlichkeit und Weiblichkeit“ (S. 246). Das Alter an sich ist machtlos und sagt nichts über uns aus, denn in Wirklichkeit ist der Mensch geistig und ewig. Doch der menschliche Glaube verbindet mit jedem Jahrzehnt ganz bestimmte Dinge. Und je mehr wir das für uns selbst zulassen, desto enger werden die selbstauferlegten Ketten sein, deren einziger Zweck es ist, uns von bisher selbstverständlichen Dingen abzuhalten.
Es würde uns nie in den Sinn kommen, dass Gott müde oder altersschwach werden könnte.
Auch in der Schöpfungsgeschichte steht nichts davon, dass Gott uns ‒ Seiner Schöpfung ‒ eine zeitliche Spanne unserer Fähigkeiten zugewiesen hat. Das ständige Messen von Alter bringt uns keinen Nutzen. Gott hat die Erde erschaffen, indem Er die entsprechenden Befehle gab: „Denn wenn er spricht, dann geschieht es; wenn er gebietet, dann steht es da“, lesen wir in den Psalmen (33:9). Es würde uns nie in den Sinn kommen, dass Gott müde oder altersschwach werden könnte. Aber uns muten wir dies zu ‒ und nicht nur das, viele Menschen kokettieren geradezu damit. Wie häufig sehen wir Leute, die ihr zunehmendes Alter als Entschuldigung für etwas vorschieben, und sei es nur im Scherz? Wenn wir uns aber genauer mit der Definition von Tag in Wissenschaft und Gesundheit beschäftigen, stellen wir fest, dass der Glaube an zunehmendes Alter nicht mit dem übereinstimmt, was die Christliche Wissenschaft lehrt. So beginnt sie: „Tag. Der Strahlenglanz des Lebens; Licht, die geistige Idee der Wahrheit und Liebe“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 584).
Wenn wir jeden Tag bewusst im Licht der geistigen Idee der Wahrheit und Liebe – sowie der Tatsache, dass wir geistig und ewig und zu Gottes Bild geschaffen wurden – verbringen, kommt es uns nicht in den Sinn, uns in irgendeiner Weise selbst zu beschränken. Schon die Realisation des Strahlenglanzes des Lebens macht mich gut gelaunt. Da ist die Möglichkeit einer selbstauferlegten Begrenzung meiner Fähigkeiten gar nicht denkbar. Der Strahlenglanz leuchtet mit den Jahren nicht weniger hell, aber es liegt ganz an mir, für den geistigen Sinn meiner unbegrenzten Fähigkeiten und deren Schönheit empfänglich zu sein und diese Wirklichkeiten dankbar anzuerkennen.
Weiter unten in derselben Definition erklärt Mrs. Eddy: „... Gemüt misst die Zeit nach dem Guten, das sich entfaltet.“ Diese Aussage gehört zu meinen Lieblingsstellen. Ich bemühe mich, jeden Tag so zu leben, dass er zählt. Dabei sind keine großartigen Taten vonnöten, sondern es erfordert ein Lauschen auf Gottes Führung. Gott entfaltet das Gute auf Seine Weise, und meine Aufgabe liegt darin, für dieses Gute bereit und aufnahmefähig zu sein. Nicht umsonst beten wir: „Unser tägliches Brot gib uns heute“ (Matthäus 6:11). Jesus lehrte uns, dass Gottes Versorgung Tag für Tag bereitsteht. Woher nehmen wir die Überzeugung, dass ein Teil dieser Versorgung ‒ Kraft, körperliche und geistige Wendigkeit, Belastbarkeit, Ausdauer usw. ‒ zeitlich begrenzt ist?
Das Wort noch ist nur ein Beispiel für die vielen subtilen Beschränkungen, die man im Alltag so hinnimmt oder sogar wiederholt, weil sie einem kaum auffallen. Es gibt etliche, die sich in das Denken oder die Wortwahl einschleichen und an dem Fortschritt, der Menschlichkeit und dem Wohlbefinden nagen, bis man meint, dass ein Loch entstanden ist. „Könnte passieren“, „nicht mehr“, „nicht gut genug“ usw. drücken die Beschränkungen aus, die Menschen hinnehmen, weil sie es versäumen, sich zu wehren, oder gar nicht wissen, dass sie sich wehren müssen. Es erfordert bewusste Aufmerksamkeit, diese Fallen zu erkennen und sich vor ihnen zu hüten. Wer hier unaufmerksam ist, nimmt an eine Verschwörung gegen sich selbst teil.
Gott entfaltet das Gute auf Seine Weise, und meine Aufgabe liegt darin, für dieses Gute bereit und aufnahmefähig zu sein.
Diese Erfahrung habe ich selbst gemacht. Von Kind auf war ich absolut davon überzeugt, unsportlich zu sein, weil ich beim Laufen sehr langsam war. Erst als Erwachsene fand ich einen Sport, der mir Spaß machte, doch laufen gehörte nicht dazu.
Zehn Jahre danach stand ich eines Tages auf dem Laufband in meinem Fitnessstudio und überlegte, was ich tun sollte. Völlig unerwartet kam in meinem Denken die Frage auf: „Wenn du jetzt keine Angst hättest, was würdest du machen?“ Und ohne dass ich eine Sekunde nachdachte, war die Antwort: „Ich würde Sprints laufen.“ Die Vorstellung, jetzt zu sprinten, schien geradezu lächerlich. Aber ich dachte, dass diese Überlegung nicht ohne Grund zu mir gekommen sein konnte, und stellte das Laufband auf eine mittlere Geschwindigkeit ein.
Über die nächsten Wochen wiederholte ich die Übung immer wieder. Und zu meiner Überraschung ließ sich die Geschwindigkeit stetig steigern. In der ersten Woche taten mir hinterher die Knie weh, doch das hörte auf, als ich mir bewusst machte, dass die Frage nach einer Aktivität ohne Furcht nicht aus menschlichem Willen kam und die Aktivität daher beschützt sein musste. Diesen Schutz nahm ich für mich in Anspruch. Heute laufe ich Sprints mehrmals in der Woche mit viel Vergnügen, und zwar schneller als je zuvor. Sie sind für mich wie ein Geschenk, das ich erkannte, weil ein Gedanke daran, „zu alt“ für so etwas zu sein oder die Gelegenheit dazu verpasst zu haben, gar nicht erst aufkam.
Es ist sehr wichtig, die winzigen Gedanken und Sätze zu erkennen, die uns die Verschwörung des Irrtums gegen die Kinder Gottes verdeutlichen, und nicht auf sie hereinzufallen. Wenn wir Wache stehen an der Tür des Denkens, wie Mrs. Eddy uns in Wissenschaft und Gesundheit (S. 392) anweist, werden wir in keine Fallen tappen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich am 23. Dezember 2016 im Internet.
Original in Deutsch