Als wir vor Jahrzehnten noch ganz neu in der Wissenschaft waren, machten wir mit unseren kleinen Kindern Urlaub auf dem Bauernhof. Ich hatte in diesem frommen Hause unseren Glauben angedeutet und in dieser arbeitsreichen Erntezeit Hilfe angeboten. „Können Sie Traktor fahren?“ Das konnte und wagte ich nicht. Aber eines Tages wurde ich gebeten, „im Namen christlicher Nächstenliebe“ den großen Misthaufen mit auf den Miststreuer hinüberzugabeln. Da stand ich nun in riesigen Gummistiefeln neben dem bärenstarken Bauern und mühte mich aus „Nächstenliebe“ und Ehrgeiz, möglichst genauso viel auf diesen mächtigen Wagen hinüberzuwuchten wie dieser Hüne.
Als der Wagen endlich voll war, fuhr er auf das nahe Feld abstreuen und ich hatte nur wenig Verschnaufzeit. Da kam auch schon der Nachbar vorbei: „Na, wie ist es denn so mit den Händen?“ Diese Frage traf ins Schwarze: Heute habe ich Garten und Hornhaut, damals beides nicht! Die Linke, die das Gabelstielende festgehalten hatte, war gesund, aber die Rechte, die an dem rauen Gabelstiel ständig auf- und abgerutscht war, zeigte an den Handinnenflächen vier voll ausgebildete schmerzende Wasserblasen. Die Meisten hätten es vermutlich für vernünftig gehalten, der Hand mehrere Tage Ruhe zu gönnen. Aber was wäre dann gewesen mit meiner „christlichen Nächstenliebe“? Der Misthaufen hatte noch kaum abgenommen. Ein Gedanke an Aufgeben kam überhaupt nicht auf. Das gesamte Neue Testament wirbt für „Nächstenliebe“. Dann darf diese Liebe keinen Schaden verursachen!
Das gesamte Neue Testament wirbt für „Nächstenliebe“. Dann darf diese Liebe keinen Schaden verursachen!
Jetzt war mein Christentum, mein Gottesverständnis gefordert. Schon auf der zweiten Seite der Bibel im 1. Buch Mose steht, dass der Mensch zum „Bild und Gleichnis“ des Göttlichen geschaffen ist. Da erhob sich mir die Frage: Leidet denn Gott, wenn Er anderen hilft? Ich stellte mir diesen bekannten alten Mann mit Bart und weißem Gewand vor. Wann wird der müde? Wilhelm Busch hätte meinen ältlichen „Gott“ überzeugend gestalten können! – Ich brauchte unbedingt etwas Lustiges, über das ich herzhaft lachen konnte, denn die Hand schmerzte!
In der Bibel steht: Gott ist Geist, Gott ist Leben, Wahrheit, Liebe. Das hatte alles mit meinen lustig weitergesponnenen Bildern vom alten Mann in Filzpantoffeln und Lehnsessel überhaupt nichts zu tun. Und diese Fantasiebilder von Gott hatten auch mit mir nichts zu tun, wenn ich ein Bild und Gleichnis Gottes war! Mit dieser wahren Auffassung von Gott als Geist hatte ich etwas, womit ich mich mit allem Nachdruck und voller Überzeugung wehren konnte gegen eine materielle Gottesauffassung und damit auch gegen eine materielle Menschenauffassung! Dann war auch ich geistig und damit unangreifbar von einem rauen Mistgabelstiel. Ich lebe im Geist – und nicht auf einem Misthaufen!
Der Bauer versuchte während der Arbeit mehrmals Gespräche mit mir. Ich gab knappe Antworten, denn die Hand schmerzte. Deshalb wollte ich mich von meinem Gebet nicht ablenken lassen.
Ein weiteres Bild kam mir in den Sinn: Der Baggerarm drüben auf der Baustelle, wird der nachmittags müde und hängt dann herunter wie weich gewordene Schokolade in der Sonne? Unsinn! Und was ist mein Arm, meine Hand anderes als so ein Bagger- oder Kranarm? Mein Arm ist nur das Hilfsmittel, die „Nächstenliebe“ in sichtbare Arbeitsleistung für jemand anderen umzusetzen. Und wenn der Baggerarm nicht müde wird, dann brauchte auch meine Hand nicht zu leiden wegen des Mistgabelns!
So gabelten wir den zweiten und dritten großen Miststreuer voll, Mittagessen, dann den vierten und fünften. Feierabend. Dann wusch ich mir die Hände und zeigte sie der Bäuerin. Von den ehemals beängstigenden Wasserblasen waren kaum mehr Spuren sichtbar. Da stellte die Bäuerin einige sehr tiefe Fragen nach Weltanschauung und Lebensgestaltung.
Nun unternahm ich noch einen kleinen Ausflug mit meinen Lieben. Ich war erfüllt von Glück und Erfolg, von der beseligenden Gewissheit, dass die neu erworbene Christliche Wissenschaft in schwierigen Lebenslagen tatsächlich zuverlässig hilft. Ich war richtig aufgeblasen von Glückseligkeit. Und das sah ich am nächsten Morgen auch an meiner Hand: Auch sie war geschwollen. Da merkte ich, dass ich mich wohl etwas zu sehr aufgeblasen hatte, und wurde demütiger. Und sehr schnell war auch die Hand wieder schlank.
Ich habe schon schönere Urlaubstage als diesen erlebt. Aber für mich Neuanfänger dieses geistig-wissenschaftlichen Weges war dieser Tag des ersten echten Durchbruchs zumindest der denkwürdigste, wenn nicht gar doch der schönste Urlaubstag.
HAMBURG