Angesichts der zahllosen Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten, die nach Europa strömen, mögen sich viele fragen, welche Verantwortung ihnen zukommt. Griechenland bemüht sich derzeit verzweifelt, Tausenden von Flüchtlingen zu helfen, die sich dort vor der Brutalität des Islamischen Staates in Sicherheit zu bringen suchen. In einer Presseerklärung des UN-Hochkommissariats für Flüchtlingsfragen hieß es unlängst: „Trotz der prekären Situation, in der viele Griechen leben, waren ihre Reaktionen gegenüber Flüchtlingen in den meisten Fällen gastfreundlich und großzügig“ (UNHCR: „UNHCR warnt vor Flüchtlingskrise in Griechenland.“ Online im Internet: https://linksunten.indymedia.org/de/node/148040. Stand: 03.09.2015). Die freiwilligen Helfer, die den Flüchtlingen auf ihrem Weg über Mazedonien nach Europa beistehen, sind ein weiteres Beispiel dafür, welche Unterstützung unsere globalen Nachbarn – unsere Nächsten aus aller Welt – erhalten (siehe Chick, Kristen [19.08.2015]: „Seeking Refuge: Migrants trekking to EU find helping hands in Macedonia.“ Online im Internet: http://www.csmonitor.com/World/Europe/2015/0819/Seeking-Refuge-Migrants-trekking-to-EU-find-helping-hands-in-Macedonia-video. Stand: 03.09.2015).
Ich schätze diese humanitären Anstrengungen sehr. Gleichzeitig fühle ich mich dazu veranlasst, menschlicher Gleichgültigkeit und Tatenlosigkeit mit gezieltem, hingebungsvollem Gebet zu begegnen. Um wahrhaft wirksam zu sein, müssen meine Gebete mit der Art von Liebe beginnen, die Christus Jesus durch seine Lehren und Heilarbeit zum Ausdruck brachte. Er lehrte uns, aus Liebe zu Gott und unserem Nächsten zu beten – Gott als Liebe zu verstehen und dieser Liebe durch unsere eigene Liebe zu anderen zum Ausdruck zu verhelfen (siehe 1. Johannes 4:7, 8). Jesus wies darauf hin, dass Hilfeleistung eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Frage erfordert: „Wer ist mein Nächster?“
Jesus beantwortete diese Frage unzweideutig, als ein Gesetzesgelehrter ihn auf die Probe stellen wollte. Jesus erkannte, dass der Mann wohl mit dem Buchstaben des Gesetzes vertraut sein mochte, das besagt, man solle Gott und seinen Nächsten lieben, dass er aber dessen Geist nicht erfasst hatte. Als er den Gesetzesgelehrten hieß , er solle gehen und das Gesetz erfüllen, wollte sich der Mann „selbst rechtfertigen und sagte zu Jesus: ‚Wer ist denn mein Nächster?‘ “ (Lukas 10:29).
Jesus beantwortete diese Frage mithilfe eines Gleichnisses: Er beschrieb einen Mann, der unter die Räuber gefallen war, die ihn schlugen und halbtot liegen ließen. Ein Priester und ein Levit gingen an dem Mann vorüber, ohne sich um ihn zu kümmern. Ein Samariter hingegen nahm sich des Verletzten mitfühlend an – er verband ihm seine Wunden, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte nicht nur dafür, dass man ihn dort gut versorgte, sondern sagte zu dem Wirt: „Pflege ihn; und wenn du mehr ausgeben wirst, will ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme“ (Lukas 10:35).
Nachdem Jesus seine Geschichte beendet hatte, fragte er den Gesetzesgelehrten, wer von den dreien wohl den halbtoten Mann wie seinen Nächsten behandelt habe. Der Gesetzesgelehrte antwortete: „ ‚Der die Barmherzigkeit an ihm tat.‘ Da sagte Jesus zu ihm: ‚Dann geh hin und mach es genauso!‘ “ (Lukas 10:37).
Die Lehre, die sich aus diesem Gleichnis ziehen lässt, ist angesichts der gegenwärtigen Bemühungen, Flüchtlingen zu helfen, die in die Mühlen politischer und nationaler Interessen geraten sind, hochaktuell. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter zeigt unsere wahre Identität als Kinder der göttlichen Liebe aus der Sichtweise des Christus. Als solche nehmen wir uns ganz selbstverständlich und uneigennützig unserer Brüdern und Schwestern an. Jesus lehrt uns, dass wir die Mauer aus Gleichgültigkeit und Tatenlosigkeit mit dem Gesetz der Liebe, das in uns herrscht, durchbrechen können – und müssen.
Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, erklärt die machtvolle Reichweite der göttlichen Liebe und wie man sie praktisch umsetzt: „Mit Gottes Regierung übereinzustimmen ist für alle Völker der rechtmäßige Antrieb zum Handeln. ...
Die Herrschaft der göttlichen Liebe ist über allem erhaben. Die Liebe regiert das Universum, und sie hat das Gebot erlassen: ‚Du sollst keine anderen Götter haben neben mir‘ und: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‘ “ (Die Erste Kirche Christi, Wissenschaftler, und Verschiedenes, S. 278).
Mit der Regierung der Liebe „übereinzustimmen“ bedeutet unter anderem, Gottes Wesen zum Ausdruck zu bringen. Es ist das Wesen, das uns Christus Jesus mithilfe dieses Gleichnisses vor Augen geführt hat, indem er erklärte, dass der Wunsch, sich um andere zu kümmern, aus dem Verständnis erwächst, dass wir, ebenso wie auch alle anderen Menschen, die Kinder der Liebe sind.
Wir entdecken die Liebe Gottes in uns durch Gebet, mithilfe dessen wir uns dem allgegenwärtigen Einfluss des Christus öffnen, der uns dazu anspornt, demütig die Wahrheit anzuerkennen, dass wir als Kinder der Liebe nicht anders als liebevoll sein können. Da wir verstehen, dass Liebe, Gott, unvoreingenommen und universal ist, fordert Liebe von uns, dass wir die Vorstellung aufgeben, andere verdienten es nicht, geliebt zu werden. Die Liebe bewirkt, dass wir der Gleichgültigkeit den Rücken kehren und auf die Bedürfnisse anderer eingehen.
Wir sehen diesen Ausfluss des Geistes Christi sowohl in den Menschen am Wirken, die sich aller Widerstände zum Trotz der Flüchtlinge annehmen, als auch in den Flüchtlingen, die sich um einander kümmern. Die Macht des Christus reicht tief in das Denken der Menschheit hinein, um es mit der Regierung der Liebe in Übereinstimmung zu bringen. Und wenn wir Liebe verstehen, werden wir selbstloser, verlieren die Furcht vor anderen und finden Mittel und Wege, um für unseren Nächsten da zu sein. Auf diese Weise lassen wir die Worte des Propheten Jesaja lebendig werden: „Einer half dem andern und sagte zu seinem Nächsten: ‚Sei getrost!‘ “ (41:6).
