„Doch ich möchte wissen, wie man vergibt!“
Die junge Frau saß im Praxis-Büro einer Praktikerin der Christlichen Wissenschaft. Sie fühlte sich durch eine lieblose Handlung anderer sehr verletzt und suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, ihre schrecklichen Ressentiments und die Bitterkeit loszuwerden.
Einige in ihrem Freundeskreis hatten gesagt, es würde Jahre dauern, wieder glücklich zu werden. Sie wusste, dass nachtragend zu sein eine große Belastung ist und dass Selbstmitleid und Groll ihr nur schadeten. Sie beschäftigte sich erst seit kurzem mit der Christlichen Wissenschaft und wollte nicht etwa Mitleid von der Praktikerin, sondern hatte den Wunsch, von den Hassgefühlen befreit zu werden.
Als Antwort erzählte die Praktikerin eine kleine Geschichte: „Stellen Sie sich vor, Sie gehen an einem schönen Tag die Straße entlang. Sie haben ein neues Kleid an und fühlen sich sehr schick. Plötzlich prallt jemand von hinten so stark auf Sie, dass Sie hinfallen. Ihre Knie sind aufgeschürft und kriegen blaue Flecke. Ihr Kleid hat einen Riss; die Hände sind schmutzig. Sie sind stinksauer und drehen sich um, bereit, dem Übeltäter Ihre Meinung zu sagen ... und sehen, dass er blind ist. Was würden Sie tun? Sie hätten Mitgefühl. Ihre Wut würde vergehen. Sie hätten Mitgefühl mit dem Blinden.“
Der Frau ging ein Licht auf. Sie erkannte, dass die Menschen, die sie verletzt hatten, im übertragenen Sinne blind waren. Hätten sie erkannt, dass Gott allumfassende, immer gegenwärtige Liebe und der Mensch Sein Ebenbild ist, dann hätten sie sich nicht bewogen gefühlt, gehässig zu sein. Selbstverständlich konnte sie Mitgefühl haben! Sie konnte ihnen vergeben und sie auch wirklich lieben.
Die Verletzung und Härte fielen wie eine Last von ihr ab, und die junge Frau verließ das Praxis-Büro befreit und froh. Sie wusste, dass die Christliche Wissenschaft ihr wirklich einen Weg zur Erlösung ebnete, einschließlich der Freiheit von Verletzungen. Sie fing an, diesen Weg – ihre neue Art zu lieben und zu vergeben – weiterzugehen, und erlangte eine neue Sichtweise von Gott. Sie begann, tiefer in die Bibel und das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft einzudringen.
Vielleicht befinden auch wir uns in einer Situation, die unseren Frieden und unsere Freude zu zerstören scheint oder uns die Fähigkeit nimmt, andere zu lieben. Diese Erfahrungen verleihen uns manchmal den Eindruck, dass unser Leben zerbricht, und wir fragen uns, welchen Wert die Existenz überhaupt hat. Wer einen Weg aus Rache und Hass heraus sucht, wird getröstet sein zu erfahren, dass andere ähnliche Schwierigkeiten erlebt und überwunden haben.
Die Bibel enthält viele Beispiele von Frauen und Männern, die mit Problemen aller Art konfrontiert waren, einschließlich unharmonischer persönlicher Beziehungen. Die Überreste der Bevölkerung Jerusalems kehrten nach dem Babylonischen Exil in eine zerstörte Stadt zurück. Sie wurden von feindseligen Nachbarn geschunden, und die Stadtmauern waren eingerissen. Das, was von ihnen gefordert wurde, um ihre Freiheit von Unterdrückung zu erlangen, wird heute auch von uns gefordert. Unter der Führung des geistig gesinnten Mannes Nehemia machten sie sich bereitwillig ans Werk, die Mauern Jerusalems wiederaufzubauen (siehe Nehemia 2:17, 18).
Wenn zu Hause, in der Kirche oder am Arbeitsplatz ein Mangel an Harmonie herrscht, wenn wir Freiheit von der Knechtschaft des Grolls und der Böswilligkeit anderen gegenüber ersehnen, dann müssen auch wir einen geistig-mentalen Wiederaufbau in Angriff nehmen. Wir müssen mit tiefer Ehrlichkeit unser Verständnis von Gott kräftigen und befestigen.
Wo setzen wir an? Eine Möglichkeit ist, uns zu fragen, ob wir diese grundlegende Aussage der Bibel wirklich verstehen: „Gott ist Liebe“ (1. Johannes 4:8). Verstehen wir die heilende Macht, die dieser Tatsache zugrunde liegt? Alles Sein, jede Handlung, jedes Bewusstsein, die bzw. das wirklich existiert, wird von der göttlichen Liebe hervorgerufen. Da Gott, das Gute, die einzige Macht und das einzige Leben ist, gibt es in Wirklichkeit keine Macht, die der göttlichen Liebe entgegengesetzt, und kein Sein, das der göttlichen Liebe unähnlich sein könnte. Mrs. Eddy erklärt in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, dem Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft: „Für die unendliche, immer-gegenwärtige Liebe ist alles Liebe, und es gibt keinen Irrtum, keine Sünde, keine Krankheit und keinen Tod“ (S. 567).
Daraus ergibt sich, dass unendliche Liebe, Gemüt, unser aller Urheber, nur liebevolle Identitäten erschaffen hat – liebevolle, geistige Ideen. Die höchste Idee, die von Gott, Liebe, ausgeht, ist Sein geliebtes Ebenbild, der Mensch. Denken Sie an diese herrliche Wahrheit! Der Mensch spiegelt das Bewusstsein und Wissen der Liebe wider. Der Mensch kann nur lieben, nicht hassen, denn göttliche Liebe ist sein Ursprung, und Liebe ist seine Substanz.
Wie kann dann Hass wirklich sein? Kann er eine Motivation, ein Gemüt, eine Ursache oder die Fähigkeit haben, sich selbst fortzusetzen? Kann Hass, der sich in Wut, Ressentiments oder Kritik äußert, wirklich einen Platz im menschlichen Bewusstsein haben? Nein, das ist unmöglich. Hass hat keine Wirklichkeit und braucht nicht gefürchtet zu werden. Christus Jesus sagte vom Teufel – von allem Irrtum bzw. Bösen –: „Er ist ein Lügner und der Vater derselben“ (Johannes 8:44).
An dieser Stelle findet unser geistiger Neuaufbau statt. Wenn wir anfangen zu verstehen, dass unsere wahre Identität die Idee der Liebe ist, dann begreifen wir besser, dass Hass in keiner Form zu uns gehört. Dann erkennen wir, dass unsere Gedanken, Handlungen oder Worte nicht von Bitterkeit und Gehässigkeit beherrscht sein müssen. Die angebliche Anziehungskraft von Unfreundlichkeit verschwindet, wenn unser von Reinheit gezeichnetes Leben die geistige Tatsache verdeutlicht, dass unser Bewusstsein der Ausdruck der göttlichen Liebe ist. Dann verstehen wir nicht nur besser, woraus wir bestehen, sondern, dass jeder Mensch ebenfalls Gottes Idee und somit von Natur aus so lieblich ist wie wir.
Durch unseren gottgegebenen geistigen Sinn – unsere natürliche Fähigkeit, Gott zu verstehen – können wir die Tatsache akzeptieren und umsetzen, dass Gott Disharmonie und feindseliges Verhalten unbekannt sind. Die Liebe hat niemals etwas anderes als vollkommene Harmonie geschaffen.
Die angebliche Anziehungskraft – persönlicher oder materieller Sinn genannt –, die uns vom geistigen Sinn fortziehen will, möchte die Menschheit dazu verleiten, Rache zu üben und zu rechtfertigen. Der persönliche Sinn behauptet, dass das Böse eine Wirklichkeit besitzt. Er ruft aus: „O ja, das war so! Er hat dies gesagt und ich jenes. Das ist einfach zu schlimm, als dass ich ihm verzeihen könnte!“ Wut, Irritation, Frust und eine nachtragende Haltung entstammen diesem falschen, materiellen Selbstverständnis. Doch wenn wir auf Gott lauschen und das göttliche Gemüt in unserem Bewusstsein die wahre Sichtweise von uns als der Ausstrahlung der Liebe aufrichten lassen, werden wir von den Fallen des persönlichen Sinnes befreit.
Vor einiger Zeit habe ich die Vorgehensweise des sogenannten persönlichen Sinnes durchschaut und erkannt, wie er uns an hasserfüllte Gedanken kettet. Eine Freundin hatte mich tief verletzt. Ich hatte versucht, mir einzureden, dass ich keinen Grund hatte, mich aufzuregen, und dass es nun wirklich Wichtigeres für mich gab. Doch je mehr ich mit menschlicher Vernunft und Eigenwillen versuchte, mich davon zu überzeugen, desto verletzter fühlte ich mich.
Als Christliche Wissenschaftlerin dachte ich, dass ich viel über Vergebung gelernt hatte, aber nun zeigte sich, dass ich etwas Neues erkennen musste. Ich fing an zu beten, um zu verstehen, dass nur persönlicher Sinn Freundschaften und Familienbeziehungen auseinandertreiben möchte und dass es in der göttlichen Wirklichkeit keinen persönlichen Sinn gibt, der auch nur auf die Fähigkeit anspielen könnte, den Menschen von der Harmonie der Liebe, Gottes, zu trennen.
Ich besuchte den Sonntagabendgottesdienst meiner Zweigkirche Christi, Wissenschaftler, um Trost zu finden. Als wir das Gebet des Herrn mit seiner geistigen Auslegung aus dem Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft beteten, klangen diese Worte in meinen Ohren, als hörte ich sie zum ersten Mal: „Und Liebe spiegelt sich in Liebe wider“ – Mrs. Eddys geistige Auslegung der Zeile: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldigern vergeben“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 17; siehe Matthäus 6:12). Was bedeutet diese Aussage: „Und Liebe spiegelt sich in Liebe wider“? Ich dachte tief darüber nach, während die Worte in meinem Denken nachklangen.
Schließlich verstand ich, dass ich versuchte, meiner Freundin zu vergeben, während ich weiter daran festhielt, dass sie mich verletzt hatte. Stattdessen musste ich mich der Wahrheit der Vollkommenheit Gottes und des Menschen fügen, der Wahrheit, dass Gott durch Seinen Christus beständig mit dem individuellen menschlichen Bewusstsein kommuniziert. Der Christus, die wahre Idee Gottes, die geistige Idee der Gotteskindschaft, befähigt uns, unvoreingenommen zu vergeben. Der Christus zeigt uns, dass es in Wirklichkeit nichts zu vergeben gibt! Wenn wir dies durch den Christus lernen, wird es ebenso natürlich für uns, Vergebung auszudrücken, wie Freude. Es macht sogar Spaß zu vergeben!
Ich fühlte mich sehr befreit und erkannte, wie wunderbar es ist zu vergeben. Ich war geheilt, und unsere Freundschaft war kurz darauf wiederhergestellt.
Solche Vergebung durch Christus löst die Konflikte auf, die so häufig aus Eigenliebe erwachsen, ob es um Selbstzufriedenheit, egoistische Wünsche, Eigenwillen, Selbstgefälligkeit oder Stolz geht. Diese Vergebung stoppt die destruktive Fehlersuche und heilt die Böswilligkeit, die so oft auf einer unnachgiebigen Einstellung anderen gegenüber beruht.
Wie erkennen wir, dass wir vergeben haben? Durch den inneren Frieden, den wir dann empfinden. Und man kann ein letztes Mal prüfen, ob es noch irgendwo versteckte Reste an Ressentiments oder Unversöhnlichkeit gibt. Wir können unser Herz prüfen und uns fragen: „Befürchte ich, dass das noch einmal passiert?“ Wenn wir wahrhaft vergeben haben, werden wir diese Befürchtung nicht haben. Dann werden wir wissen, dass der Vorfall und die Verletzung nur Teil des Traums des materiellen persönlichen Sinnes waren. Gott hat kein Übel erschaffen und wird es nie tun.
Ob wir persönlich, als Kirche oder als Land angegriffen wurden, wir müssen vergeben. Was ist dazu vonnöten? Anteilnahme und geistige Erneuerung, bei der wir mehr über die Natur der Liebe, Gottes, und unsere wahre Identität als Idee der Liebe lernen. Wir werden schnell begreifen, dass Vergebung keine Last ist. Sie ist eine Freude. Wahre Vergebung ist Freiheit. Das ist der hehre Weg!
