Es wird heutzutage immer wichtiger, dass wir liebevoller miteinander umgehen. Im öffentlichen Umfeld sind polarisierende Reden und falsche Anschuldigungen verbreitet, und Beleidigungen gehen hin und her. Viele private Beziehungen leiden unter Spannungen. Was muss passieren, damit wir liebevoller werden? Die letzte Strophe von Mary Baker Eddys Gedicht „‚Weide meine Schafe!‘“ gibt uns einige Hinweise:
Wird es dunkel dann und kalt,
schadet Leid und Lust,
trage Deine Lämmlein heim,
warm an Deiner Brust.
Still den Hunger, heil das Herz
bis zum Morgenschein;
schneeweiß, eh’ sie weiterziehn,
Hirte, wasch sie rein.
(Vermischte Schriften 1883–1896, S. 398)
Was wäscht Wut und Hass rein? Was befähigt uns, unsere Pflicht der Nächstenliebe zu erfüllen, die so unverzichtbar für die Erlösung der Welt ist? Wenn wir bereit sind, Stolz und Selbstgerechtigkeit abzulegen, und Gott demütig um Führung bitten, wird die wahre Natur von Gott und Seinem Ausdruck, dem Menschen, in unserem Herzen offenbart.
Es mag angesichts von Hass unmöglich scheinen, Liebe zu empfinden. Eine Person zu lieben bedeutet im Allgemeinen, gern Zeit mit ihr zu verbringen, während es als unmöglich angesehen wird, einen aufreibenden Menschen zu lieben. Verlangte Jesus, als er uns aufforderte, einander zu lieben, dass wir eine sterbliche Persönlichkeit lieben sollten, also einen Menschen, der hasserfüllt und verletzend ist?
Die Schriften von Mrs. Eddy, der Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, zeigen uns den Unterschied zwischen menschlicher Persönlichkeit und der geistigen Natur, die jedem Menschen, dem Bild und Gleichnis Gottes, zu eigen ist. In ihrem Hauptwerk Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift lesen wir: „Die Persönlichkeit ist nicht die Individualität des Menschen“, „Der Mensch ist Idee, das Bild der Liebe; er ist kein physischer Organismus“ und „Die göttliche Liebe ist unendlich. Deshalb ist alles, was wirklich existiert, in und von Gott und offenbart Seine Liebe“ (S. 491, 475, 340).
Jesu Beispiel lehrt uns, wie man liebevoller ist: indem man diese Wahrheitsinhalte im Alltag anwendet und Gottes Menschen bzw. Idee dort wahrnimmt, wo die sterbliche Sicht nur Unvollkommenheit sieht. Diese korrekte Sicht vom Menschen als Gottes Ausdruck bewirkt Heilung und befähigt uns, unsere Mitmenschen zu lieben.
Ich hatte während meiner Berufstätigkeit einmal eine Kollegin mit einer aufreibenden Persönlichkeit. Es schien mir unmöglich, weiter mit ihr zusammenzuarbeiten. Ich wechselte den Arbeitsplatz, doch kaum hatte ich mich eingearbeitet, war ich mit einer anderen schwierigen Person konfrontiert. Es hatte den Anschein, als würde überall, wo ich hinkam, jemand meinen Frieden stören.
Da wurde mir langsam klar, dass ich diese Angelegenheit aus der christlich-metaphysischen Sicht der göttlichen Wissenschaft betrachten musste. Als ich mein eigenes Denken prüfte, erkannte ich, dass ich den Menschen als sterblich und materiell ansah. In Wissenschaft und Gesundheit fand ich folgende Aussage: „Unberührt inmitten des misstönenden Zeugnisses der materiellen Sinne entfaltet die allzeit über allem thronende Wissenschaft den Sterblichen das unwandelbare, harmonische, göttliche Prinzip – entfaltet sie Leben und das Universum als immer gegenwärtig und ewig.
Der Mensch Gottes ist geistig erschaffen und weder materiell noch sterblich“ (S. 306).
Ich fing an zu erkennen, dass ich das störende Bild aufgrund dieser sterblichen Sichtweise als wahr akzeptierte. Dies zu korrigieren war meine Aufgabe, nicht die der anderen Person.
Ich fragte mich, wovor ich eigentlich weglief. Vor dem von Gott geschaffenen Menschen? Ganz sicher nicht. Ich verstand, dass wir im Zustand des Beleidigtseins aus einer materiellen Sichtweise heraus handeln, die Stolz, Eigenwillen und Egoismus fördern kann. Wir betrachten nicht nur andere, sondern auch uns selbst als sterblich. Dies zu überwinden erfordert Demut – eine Bereitschaft, die falsche Sichtweise von uns und anderen abzulegen. In einem Artikel mit dem Titel „Beleidigtsein“, der in Mrs. Eddys Buch Vermischte Schriften 1883–1896 abgedruckt ist, lesen wir: „Nichts Geringeres als unsere eigenen Irrtümer sollte uns kränken“ (S. 224).
Wenn wir uns an den höheren Standard von Christus, Gottes geistigem Ideal, halten, können wir unsere Einheit mit unserem Schöpfer, Gott, bestätigen. Wir können wissen, dass unser wahres Selbst vollständig geistig und somit für materielles Denken unerreichbar ist, das keinen Ursprung, keinen Urheber und somit keine Manifestation hat. Gott ist die einzige Quelle, und unser wahres Selbst geht von Ihm aus.
Jesus fragt in seiner Bergpredigt: „Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders und nimmst den Balken in deinem Auge nicht wahr?“ (Matthäus 7:3). In ähnlicher Weise ermahnt uns Paulus: „Worin du den andern richtest, verurteilst du dich selbst, weil du genau dasselbe tust, was du richtest“ (Römer 2:1).
Man tut genau dasselbe? O je, das stimmt! Ich war zeitweise so von den Kränkungen der anderen mesmerisiert gewesen, dass ich unangenehm reagiert hatte. Die Versuchung, auf das fixiert zu sein, was mir passiert war, ständig darüber zu grübeln und zu reden, war groß gewesen. Doch durch Gebet erkannte ich, dass das, was uns „unter die Haut geht“ und unseren Frieden stört, nicht die von Gott geschaffene Person ist, sondern der akzeptierte falsche Glaube, dass der sterbliche Mensch wirklich ist. Diese falsche Sichtweise drängt sich unserem Denken auf, und das ist es, was wir handhaben müssen.
Mit einer neuen Bereitschaft, demütig zu sein, fing ich an, nach allen positiven Eigenschaften Ausschau zu halten, die andere zum Ausdruck brachten, darunter künstlerisches Talent, Ausdauer, Verständnis, Treue oder Freundlichkeit. Selbst wenn ich nur eine solche Eigenschaft fand, konzentrierte ich mich darauf in dem Wissen, dass diese Qualitäten ihren Ursprung nicht in der Materie haben, sondern ein Beweis für göttlichen Geist, Gott, sind. Schon bald fing ich an, den Christus statt einer sterblichen Persönlichkeit in meinen Mitmenschen zu erkennen.
Da Gott Alles ist, gibt es nichts von Ihm Getrenntes. Nichts kann Gottes vollkommenen Ausdruck, den unsterblichen Menschen, besudeln. Es gibt keine Quelle des Bösen, die einen unvollkommenen Sterblichen erschaffen könnte, noch Böses, das den Menschen hypnotisch dazu verleiten kann, an einen unharmonischen Ausdruck von Gott zu glauben. In diesem Licht sehen wir alle als aufrechte und reine Personen, die Gott zum Ausdruck bringen. Wenn wir dies tun, haben wir zugelassen, dass Liebe sie in unserem Denken reingewaschen hat.
Eine falsche Sichtweise über unsere Mitmenschen zu haben, ist mentale Malpraxis. Im Gegensatz dazu segnet eine wahre, geistige Sichtweise diese Menschen – und uns selbst. Unsere Bereitschaft, dies zu tun, ist tätige Liebe. Also wollen wir zulassen, dass die reinen Wasser der Liebe frei in unser Bewusstsein fließen und unsere Sicht von uns selbst und allen, an die wir denken, reinwaschen.
Als ich das tat, fing ich an, den himmlischen Frieden der göttlichen Liebe überall um mich zu fühlen. Ich hatte es nicht länger nötig, vor anderen wegzulaufen, sondern konnte sie lieben, ohne von einem kränkenden Verhalten verstört zu werden. Ich habe sogar erlebt, dass unangenehme Verhaltensweisen nachließen, als ich diese Wahrheitsgedanken angewandt habe.
Ob zu Hause, in der Kirche, im Büro oder im Leben insgesamt, es ist befreiend – für uns und unsere Mitmenschen –, andere so zu sehen, wie Gott sie sieht.
