Als ich unlängst an einem Artikel zum Thema Perfektion oder Vollkommenheit arbeitete (siehe Herold-Online 8. April 2024), fiel mir ein vertrauter Bibelvers ins Auge. Jesus sagt in seiner Bergpredigt: „Darum sollt ihr vollkommen sein, so wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Matthäus 5:48). Aus diesem Vers, liest man ihn alleingestellt, lässt sich die Wissenschaft des Seins schließen – die Wahrheit über die geistige Identität eines jeden Menschen als Gottes Ebenbild, wie die Bibel es ausdrückt: die Widerspiegelung Gottes in all Seiner Vollkommenheit.
Als ich diese Worte diesmal las, war mir ihr Kontext allerdings sehr präsent. Ihnen gehen konkrete Anweisungen von Jesus bezüglich der christlichen bzw. Christus-ähnlichen Art und Weise voran, mit der wir diejenigen behandeln sollen, die wir als unsere Feinde empfinden. Wir sind angehalten, sie zu lieben und für sie zu beten – wie Gott zu sein, der Sonne und Regen für die Guten und die Bösen bereitstellt. (Womit er sowohl Sonne als auch Regen zum Guten zählt!) Jesus schließt diese Anweisungen folgendermaßen: „Wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes? Tun das nicht auch die Zöllner?“ (Matthäus 5:47).
Und direkt danach fordert er uns auf, so vollkommen zu sein wie unser Vater im Himmel. Diese Worte vermitteln uns eindeutig, wer wir als Gottes geistige Schöpfung sind, doch diesmal fiel mir auf, wie deutlich die Anweisung damit verknüpft ist, wie und wen wir lieben. Kurz gesagt, wir sind nicht vollkommen in unserer Liebe zu anderen, solange wir nicht diejenigen lieben, die wir als unsere Feinde zu betrachten geneigt sind. Mary Baker Eddy erklärte in einem Essay auf der Grundlage dieser Forderung von Jesus, unsere Feinde zu lieben: „Wir müssen unseren Feinden in allem und durch alles die gleiche Liebe bezeugen wie unseren Freunden, müssen sogar versuchen, ihre Fehler nicht bloßzustellen, sondern ihnen Gutes zu tun, wenn immer sich eine Gelegenheit dazu bietet“ (Vermischte Schriften 1883–1896, S. 11).
Jesus tat dies selbst während der Kreuzigung und zeigte uns somit allen den Weg. Er sagte über seine Peiniger: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lukas 23:34). Um dies nachzuahmen, müssen wir also die ausgesprochene und unausgesprochene Wut und unsere Ressentiments zugunsten von Vergebung aufgeben, wie unlogisch oder schwer das auch erscheinen mag. Wir müssen darum beten, andere so zu sehen, wie Jesus die Menschen sah, und zwar auf derselben Grundlage. Er erkannte jeden Menschen als Tochter oder Sohn Gottes, des Guten. Und er tat dies auf der Grundlage dessen, was beständig wahr ist über die wahre, geistige Identität als Gottes Nachkommen, und nicht anhand eines vergangenen oder gegenwärtigen Verhaltens.
Diese Sicht auf andere entschuldigt schlechtes Verhalten, die menschliche Vergangenheit oder die zugrundeliegenden Motive nicht. Die Bibel sagt, dass Jesus „die Gerechtigkeit geliebt und die Ungerechtigkeit gehasst“ hat (Hebräer 1:9). Doch der Christus-ähnliche Hass der Ungerechtigkeit ist das Gegenteil davon, Menschen zu hassen, die ungerecht handeln. Es bedeutet, sie genug zu lieben, um die Ungerechtigkeit als das zu erkennen, was sie ist, nämlich eine unpersönliche, ihnen auferlegte falsche Vorstellung. Wenn wir dies erkennen, können wir darum beten, das Wesen der Ungerechtigkeit im Licht der geistigen Wahrheit von Gottes Allmacht und reiner Güte als unfähig zu erkennen, Gottes Kind zu regieren.
Beständig an diesem höheren Standard der Betrachtung anderer festzuhalten ist gelinde gesagt ein hoher Anspruch. Doch es ist machbar, denn die Anweisung, unsere Feinde zu lieben, ist nicht nur ein hilfreicher Tipp von jemandem, der dies zufällig gut kann. Das Leben von Christus Jesus war von Gottes Liebe zu allen motiviert und demonstrierte, dass jeder Mensch in Wirklichkeit das Ebenbild unseres himmlischen Vater-Mutter-Gottes und somit fähig ist, Gottes Liebe uneingeschränkt widerzuspiegeln. Jesus hat uns gezeigt, dass wir nicht dazu aufgerufen sind, eine Liebe zu produzieren, die wir gar nicht besitzen. Die Weigerung, andere als Feinde zu betrachten, ist ein natürlicher Bestandteil unserer inhärenten Widerspiegelung von Gottes Liebe.
Wie Jesus erklärte, widerspricht dies der menschlichen Neigung, nur diejenigen zu lieben, die hinsichtlich Geschlecht, Familie, Staatsbürgerschaft, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, politischer Überzeugung usw. als „richtig“ einzuordnen sind. Doch wenn wir Christi Botschaft aufnahmebereit empfangen und akzeptieren, werden wir aus diesem begrenzten und begrenzenden Denk- und Handlungsmodell herausgehoben. Die praktische Anwendbarkeit, selbst diejenigen in einer „falschen“ Kategorie zu lieben, ist aus einem Zeugnis jüngeren Datums mit dem Titel „Wut, Angst und Mobbing hörten auf“ zu erkennen. Als der Verfasser Jesu Anweisung folgte, seine Feinde zu lieben, indem er „die gottgegebene Unschuld und das Gute eines jeden“ erkannte, wurde nicht nur sein Sohn davon befreit, ein Opfer zu sein, sondern der andere Junge in der Situation wurde von den Charaktereigenschaften befreit, die das Mobbing hervorgerufen hatten.
Jesus zu folgen bedeutet, zunehmend die Identität anzunehmen, die uns allen zu eigen ist und Gottes Liebe korrekt widerspiegelt: unvoreingenommen und allumfassend. Wir können Gelegenheiten finden, dies im kleinen und im großen Radius zu tun. Wie Mrs. Eddy in ihrem Artikel „Liebet eure Feinde“ sagt: „Wenn jemand keine besondere Gelegenheit hat, seinen Feinden Gutes zu erweisen, so kann er sie doch einschließen in seine allgemeine Bemühung, der Menschheit Gutes zu tun“ (Vermischte Schriften, S. 11). Wenn wir diejenigen lieben, bei denen es uns am schwersten fällt – ob Bekannte von uns oder Menschen in den Schlagzeilen –, stellen wir uns auf die Seite der Wirklichkeit, die die Welt so dringend verstehen und beweisen muss: Wir sind Schwestern und Brüder in der all-harmonischen, geistigen Familie unseres himmlischen Vater-Mutter-Gottes.
Tony Lobl
Stellvertretender Chefredakteur
