Eine Freundin und ich lasen kürzlich zusammen das Buch Hiob in der Bibel. Wir hatten schon bald genug von den ausführlichen Beschreibungen der Probleme, die Hiob hatte. Meine Freundin war mehr am inspirierten Wort der Bibel interessiert und sagte: „Komm, wir machen mit den Psalmen weiter.“ Das verstand ich gut. Doch Hiob hatte gerade seinen ganzen Kummer geschildert, und ich hörte mich sagen: „Wir wollen ihn da nicht so lassen.“
Und so blätterten wir weiter bis zum Ende der Geschichte, wo Hiob aus unserer Sicht schließlich akzeptierte, dass Gott immer bei ihm gewesen war und dass die Leiden, die ihn ereilt hatten, nicht von Gott geschickt wurden und somit weder sein Erbe noch seine Zukunft waren. Hiob sagte zu Gott: „Ich erkenne, dass du alles vermagst, und nichts, was du dir vorgenommen hast, ist dir zu schwer. ... Nur vom Hörensagen hatte ich von dir gehört; aber nun hat mein Auge dich gesehen“ (Hiob 42:2, 5). Dann betete er für seine Freunde. Gott gab ihm nicht nur seinen früheren Wohlstand und mehr zurück, sondern Hiob erlangte den ewigen Segen zu wissen, dass er von Gott geliebt und erhalten wurde und sich niemals außerhalb von Gottes Fürsorge befand.
Das war etwas, das ich mir hinsichtlich meines Vaters zu eigen machen musste. Es waren gerade dreißig Jahre vergangen, seit er verstorben war. Sein ziemlich plötzlicher Tod hatte so eine große Lücke hinterlassen, dass die Trauer darüber in all den Jahren nicht vergangen war. Obwohl ich gebetet hatte, um mir seines ewigen Wohlergehens sicher zu sein, und überzeugt war, dass es ihm gut ging und dass er seinen Weg fortsetzte, hatten die Umstände seines Todes Kummer und sogar Schuldgefühle bei mir hinterlassen. Ich sehnte mich danach, davon frei zu sein. Ich wollte ihn so gern ohne die negativen Bilder sehen, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt hatten.
Da kamen mir meine eigenen Worte über Hiob in den Sinn, als stammten sie direkt von Gott: „Du willst ihn da nicht so lassen.“ Das war wie eine Einladung, diesen geliebten Menschen dort zu erkennen, wo er wirklich war – in den Armen der göttlichen Liebe, im unendlich Guten des ewigen Lebens, Gottes.
Wie Die Einheit des Guten von Mary Baker Eddy erklärt: „Als das Ebenbild Gottes oder des Lebens spiegelt der Mensch immerdar Leben wider, und er verkörpert Leben, nicht Tod“ (S. 39).
Dieser hilfreiche Rat „Du willst ihn da nicht so lassen“ ließ mich innehalten. Warum sollte ich jemals eine inkorrekte Sichtweise von einem geliebten Familienmitglied – oder sonst jemandem – in meinem Denken zulassen? Ich verstand, dass das wahre Selbst meines Vaters, der Ausdruck des göttlichen Lebens, nie der Materie oder Sterblichkeit ausgesetzt war, sondern immer das Leben widergespiegelt hatte, das ewiger Geist, Gott, ist.
Auch wenn wir uns vielleicht darüber im Klaren sind, dass niemand, den wir lieben, als gebrechlich, gescheitert oder mit Krankheit und Leiden belastet angesehen werden möchte, treten diese scheinbaren Zustände manchmal aggressiv auf und fordern, dass wir die Auffassung akzeptieren, Leben sei in und von der Materie. Aber Jesus, unser Wegweiser, kam, um uns die illusorische Natur von allem zu zeigen, was sterblich und unharmonisch ist. Er lehrte und bewies für die gesamte Menschheit und für alle Zeiten, dass Leben Geist ist und dass wir niemals in Materie hineingeboren werden, niemals Sünde oder Krankheit ausgesetzt, sondern immer geistig und ewiglich vollkommen sind.
Einmal wurde Jesus herbeigerufen, um seinem Freund Lazarus zu helfen, der im Sterben lag, doch es schien, als sei er zu spät gekommen; er kam erst vier Tage nach Lazarus’ Beerdigung an (siehe Johannes 11:1–44). Jesus hatte Mitgefühl mit den Schwestern seines Freundes, die ihren Bruder liebten und um ihn trauerten; er wusste aber auch, dass Lazarus’ Leben ewiglich intakt war, und so tat er zwei Dinge. Erstens wies er die zusammengekommenen Trauernden am Grab an: „Hebt den Stein weg!“ Und dann, bevor er Lazarus aufforderte, aus dem Grab hervorzukommen, dankte er Gott dafür, dass Er immer seine Gebete erhörte.
Ist es möglich, dass Jesus die Menschen nicht nur aufforderte, den Stein vom Eingang zum Grab, sondern die schwere Last der Trauer und der Illusion von ihrem Bewusstsein zu entfernen? Und dankbar für die geistigen Tatsachen zu sein, bevor ein Beweis für die Heilung zu sehen war?
In gewisser Weise lud er die Freunde und Angehörigen von Lazarus ein, ihn da im Grab „nicht so zu lassen“, sondern im Verständnis und der Anerkennung von Lazarus’ ewigem Leben als Gottes Kind höher zu steigen.
Lazarus kam tatsächlich aus dem Grab, als Jesus ihn rief. Nachdem Jesus Lazarus von dem Glauben befreit hatte, dass er gestorben war, wies er die Menschen an: „Löst ihn und lasst ihn gehen!“
Zwar war mein Vater nicht von dem Schritt, von uns gegangen zu sein, erlöst worden, doch es gab viele Beweise für die Gegenwart und den Schutz der Liebe. Als ich beispielsweise am zweiten Tag seiner augenscheinlichen Bewusstlosigkeit still vor seinem Zimmer das Gebet des Herrn betete, wurde mein Denken bei der Zeile „Dein Reich komme“ (Matthäus 6:10) sehr aufmerksam. Die geistige Auslegung der Stelle in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift lautet: „Dein Reich ist gekommen; Du bist immer-gegenwärtig“ (Mary Baker Eddy, S. 16).
Diese machtvolle Beruhigung gab mir Auftrieb. Kurz darauf hörte ich ein Geräusch aus dem Zimmer meines Vaters und ging zur Tür. Er wiederholte leise die Worte „Dein Reich komme“. Der Frieden und die Stille, die er in diesem nun wachen Zustand zum Ausdruck brachte, zeigte, dass die Schmerzen und die Unruhe vergangen waren.
Die Zuversicht meiner Familie, dass mein Vater von Liebe versorgt wurde, war hilfreich, als er kurz danach weiterging. Ich hatte mir einen anderen Ausgang der Situation gewünscht. Doch nun wusste ich, dass die göttliche Liebe, Gott, ihn nie dort zurückgelassen hatte. Die unmissverständliche Botschaft, „ihn da nicht so zu lassen“, die mir von meinem göttlichen Vater, Liebe, gekommen war, befreite mich dauerhaft von der Trauer und gestattete mir, die Wahrheit über meinen Vater und alle anderen Menschen zu erkennen.
Vor nicht allzu langer Zeit erhielt ich telefonisch die Nachricht, dass ein geliebtes Kirchenmitglied gestorben war. Ich sah aus dem Fenster in den Wintertag hinaus, an dem es gerade geschneit hatte. Ich machte mir sofort klar, dass unser Freund frei war und seinen Weg fortsetzte, geliebt und liebevoll. Ehrlich gesagt hatte die Nachricht mich zunächst für einen Moment sehr traurig gemacht. Doch gerade, als ich mir die absolute Ewigkeit seines unterbrechungsfreien Lebens klar machte, sprang ein wunderschöner Rotfuchs auf meine Terrasse. Sein prächtiges Fell hob sich klar und leuchtend vom Schnee ab. Er hielt inne und spazierte dann an der Seite meines Hauses entlang, drehte sich für einen Augenblick um und setzte seinen Weg fort. Und ich setzte meinen fort, beruhigt, dass unser geliebtes Kirchenmitglied dasselbe tat.
Die Entdeckerin der Christlichen Wissenschaft schrieb einmal: „Ich fühle mit denen, die trauern, frohlocke jedoch in der Erkenntnis, dass unser guter Gott sie tröstet mit der gesegneten Gewissheit, dass das Leben nicht verlorengeht; sein Einfluss verbleibt in den Gemütern der Menschen, und die göttliche Liebe bewahrt seine Substanz in der Gewissheit der Unsterblichkeit“ (Mary Baker Eddy, Die Erste Kirche Christi, Wissenschaftler, und Verschiedenes, S. 295).
Wir alle sind ewiglich von Gott geliebt, „bewahrt ... in der Gewissheit der Unsterblichkeit“.
