Das innerste Wesen des Christentums oder der christlichen Philosophie ist das gerechte Urteil über unsere Mitmenschen. Christus hat kein Gebot gegeben, das größer wäre als dieses: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.” Richtig verstanden, bedeutet dies genau das, was Jesus in dem darauffolgenden Satz sagte, daß es bedeuten solle, nämlich: „Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden.”
Ein aufmerksamer Leser sieht sofort, daß es nicht nur ein persönliches Gebot des Lehrers war, sondern die Behauptung einer großen philosophischen Wahrheit oder der Ausdruck des gewaltigen moralischen Gesetzes der unabänderlichen Ursache und Wirkung. Wenn dies noch nicht klar sein sollte, so macht er es im nächsten Satz ganz klar: „und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.”
Dies Wort heißt, daß wir den Wert haben, den wir unsern Mitmenschen beimessen, daß so, wie wir sie sehen, wir auch gesehen werden. Wir haben unser eigenes Maß festgestellt und damit werden wir gemessen werden. Wir haben die Norm unseres Maßes bestimmt und nach dieser Norm werden wir gerichtet, und diese Regel besteht für jeden unserer Gedanken und für jede unserer Handlungen. Laßt uns dies bedenken.
Laßt uns auch noch weiter bedenken, was diese Lehre in sich faßt. Diese Philosophie lehrt ebenfalls, daß wir andere von unserm eigenen Standpunkt aus richten, weil wir sie nicht anders richten oder beurteilen können. Wir können nur von unserm Standpunkt aus sehen. Nur in dem Maße, wie wir selbst gerecht sind, können wir andere gerecht richten. In andern Worten: nur wenn unser Denken rein ist, können wir die Reinheit anderer richtig bemessen oder würdigen. Nur wenn wir aufrichtig sind, können wir die Aufrichtigkeit der andern wirklich verstehen. In dem Maße, wie wir unrein sind, sind wir unfähig, die Reinheit oder Unreinheit unseres Nächsten zu beurteilen; wenn wir unaufrichtig sind, sind wir zu blind die Aufrichtigkeit oder Unaufrichtigkeit eines andern zu bestimmen. In dem Maße, wie wir in andern den Irrtum als etwas Wirkliches sehen und ihn nach unserem eigenen irrtümlichen Urteil verdammen, sind wir die Knechte des Irrtums und müssen wir die Strafe leiden dafür, daß wir eine Wirklichkeit aus dem Irrtum machen oder ihm Macht geben, denn wir haben uns bis zu diesem Grade seiner Herrschaft unterworfen.
Das Gesetz also, von dem Jesus sprach, war nicht sein Gesetz, sondern eines jener unerbittlichen Gesetze von Ursache und Wirkung oder von der Strafe, die der schlechten Tat folgt; ein Gesetz, welches es uns von seinem hohen Standpunkt aus zu geben im Stande war.
Wie wichtig, ja wie höchst notwendig ist es also für uns, das Gesetz des gerechten Richtens erkennen zu lernen!
