Als sich Allegra auf den Weg zum Tanzstudio machte, rief ihre Mutter ihr nach: „Hast du denn nichts anderes im Kopf als nur dich selbst?"
Sie war empört über die Frage ihrer Mutter. Sie hatte eine Menge anderes im Kopf. Da waren ihre Freunde. Und das Ballett. Und nicht zuletzt ihre Eltern.
Sie dachte viel an das Baby, das ihre Mutter letztes Jahr erwartet hatte und dann verlor.
Sie wäre so gern einem kleinen Fratz die große Schwester gewesen. Sie hätte ihn spazieren gefahren. Sie hätte sich angeboten, auf ihn aufzupassen, wenn die Eltern ausgehen wollten. Vielleicht hätten sie sich dann nicht mehr so viel gestritten.
Aber jetzt sagte ihre Mutter, sie hätte sich in jemanden „verliebt". Sie dächte an Scheidung.
Tanzt nach Herzenslust, hatte Miss Salter, Allegras liebste Tanzlehrerin, den Schülern in der Klasse gesagt. Wenn ihr glaubt, euch bricht das Herz, bringt euer Herz zum Tanzen. Tanzt mit vollem Herzen.
Allegra wollte tanzen. Sie wollte von der Erde wegspringen, wie ein schwereloses Licht. Doch sie sorgte sich um die Eltern. Deren Leben glich einer Seifenoper. Ein trauriges Ereignis folgte auf das andere.
Natürlich sahen ihre Eltern nicht wie die Schauspieler im Fernsehen aus. Die Männer in den Seifenopern waren schlank und gutaussehend, ihre Augenbrauen vollkommen geformt wie Bumerangs. Bei ihrem Vater dagegen hing der Bauch über die Gürtelschnalle. Und seit einigen Monaten hatte er eine leichte Stirnglatze.
Die Mutter war in der letzten Zeit dünner und dunkler geworden. Sie trug kein Make-up mehr. Auch machte sie sich nicht mehr die Mühe, die Haare ordentlich zu einem Chignon aufzustecken. Allegra hatte die Mutter immer für schön gehalten. Jetzt sah sie nicht mehr so jung und hübsch aus.
Mindestens ein anderer Mensch schien ebenfalls zu glauben, dass ihre Mutter alt wurde. Allegra war neulich mit ihr im Auto unterwegs gewesen, als sie an einer Kreuzung zu früh das Tempo verlangsamte. Der Fahrer hinter ihnen hatte kräftig auf die Hupe gedrückt und war an ihnen vorbeigerast. „Weg da, Oma!" hatte er gebrüllt.
„Du liebe Zeit", sagte Allegras Mutter, „warum hat er das bloß gesagt?"
Allegra fühlte sich in entzweigerissen. Die eine Hälfte stimmte dem Sportwagenfahrer zu. Die Mutter fuhr ständig zu langsam. Sogar wenn die Ampel an einer Kreuzung auf Grün stand, senkte sie das Tempo.
Die andere Hälfte fühlte sich verletzt für die Mutter wegen der Worte, die der Sportwagenfahrer gebrüllt hatte.
Danach hatte sie sich einmal den Mann, den ihre Mutter zu lieben behauptete, unter die Lupe genommen. Sie fuhr mit dem Bus zu dem Geschäft, wo er angestellt war, ging zu ihm hin und sagte, sie wollte ein paar Jogging-Schuhe anprobieren.
„lch weiß noch nicht, ob ich sie kaufen werde", informierte sie ihn, „aber ich möchte sie gern anprobieren, wenn das geht."
Als sich der Mann über ihre Füße beugte und die Schuhbänder zuschnürte, beäugte sie seinen Kopf von oben. Wolken von dichtem weißen Haar umkreisten den Wirbel und erinnerten sie an eine Wetterkarte, die einen aufziehenden Sturm zeigt. Was hatte sich die Mutter bloß gedacht?
„Trotzdem, vielen Dank", sagte sie zu dem Mann. Sie verließ das Geschäft.
Jetzt musste sie das ganze Stück zum Ballettunterricht rennen. Die Tanzschule bestand darauf, dass die Schüler für die Übungen an der Stange nicht mehr als fünf Minuten zu spät kamen.
Mit gesenktem Kopf, die Augen auf den blank gebohnerten Parkettfussboden geheftet, schlich sie durch die Studio-Tür.
„Kopf hoch!" sagte Miss Salter. „Konzentration!" Sie unterrichtete die Klasse seitenverkehrt vom Spiegel vorne an der Wand. Ihr entging nicht, wie sich Allegras Spiegelbild den langsamen, rhythmischen Bewegungen der anderen Tänzer an der Stange eilig hinzugesellte.
„Wir sind bei demi plié á la seconde, Allegra", sagte Miss Salter.
Allegra streckte den Arm aus und beugte sich.
„Folge deiner Hand, Sydney. Achte auf deinen Oberkörper, Barbara. .. Ausgezeichnet, Thomas, richtig, gute Form. .. .. Vergesst das Atmen nicht!"
Die Lehrer erinnerten sie immer daran zu atmen. Allegra holte tief Luft und blies sie wieder aus.
Sie war einmal zu einer Vorführung mit Miss Salter gegangen, nur um zu beobachten, wie ihre Lehrerin atmete. Nachdem sie ihren Platz hinten in dem erdrückenden Dunkel des kleinen, heißen Theaters eingenommen hatte, hatte sie Miss Salter zuerst nicht erkannt, als die Truppe auf die Bühne trat — fünf schlanke Gestalten in identischen Kostümen: schwarze Trikots und rote Samtkleider. Alle trugen schwarze Perücken mit glatten Ponyfransen, die bis an die Augen reichten.
Doch als jede Tänzerin eine Pose einnahm, entdeckte Allegra ihre Lehrerin. Unverkennbar waren die perfekte Drehung, die Wölbung ihres Genicks, die ausdrucksvolle Art, wie sie ihren Ellbogen hob oder ihre Arme bewegte oder ihren kleinen Finger in bras bas krümmte.
Ein Tänzer vereinigt sich auf der Ballett-Linie mit der Unendlichkeit, hatte Miss Salter zu ihnen gesagt. Die Ballett-Linie setzt an der Fußspitze ein und läuft über die Spitze des ausgestreckten Armes hinaus.
Als Allegra an jenem stillen, heißen Abend ihrer Lehrerin beim Tanzen zuschaute, dachte sie, Miss Salter könnte geradezu ein Punkt auf dieser Ballett-Linie sein. Aber trotzdem war sie auch ein lndividuum.
„Findet eure Mitte!", sagte Miss Salter jetzt zu ihnen. „Bewahrt die Konzentration!"
Allegra merkte, dass sie sich durch ihre Gedanken hatte ablenken lassen.
Sie lauschte auf das bewusst übertriebene Eins-zwei-drei, Eins-zwei-drei des Chopin-Walzers, den die Pianistin spielte. Ein Ton irgendwo im oberen Register war verstimmt. Klimper, machte er. Boing.
Sie blickte hinüber und sah den krausen blonden Dutt der Pianistin. lhre runden braunen Augen lugten oben übers Klavier, die Augenwinkel waren nach oben gezogen, als sie lächelte. Ob sie wohl immer Pianistin hatte sein wollen, so wie Allegra schon immer Tänzerin sein wollte? Hatte sie Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 2 spielen wollen, so wie Allegra Tschaikowskys prächtigen weißen Schwan tanzen wollte? Nicht jeder Pianist würde auf einer Konzertbühne auftreten. Nicht jede Ballerina würde einen pas de deux mit Barischnikow tanzen.
„Wir anderen machen alle unsere ronds de jambe en dehors, Allegra!" sagte Miss Salter. Sie stand jetzt neben Allegra. „Du aber machst sie en dedans."
Schon wieder hatte sie ihre Konzentration verloren.
„Gut", sagte Miss Salter. „Wir machen fünf Minuten Pause, bevor wir in der Mitte zusammenkommen."
Allegra kam vor den anderen aus der Pause zurück. Miss Salter saß in ihrem Klappstuhl vor dem Spiegel und schrieb in ihrem violetten Velours-Tagebuch. Allegra fragte sich, was für Dinge Miss Salter wohl darin niederschrieb. Allegra ist heute zu spät zum Unterricht gekommen.
Sie setzte sich auf den Fußboden, streckte die Beine aus und reichte mit den Fingerspitzen nach ihren Zehen.
Die Lehrerin legte das Tagebuch auf den Fußboden. „lst was nicht in Ordnung mit dir, Allegra?"
Allegras Wange ruhte auf ihren Knien. Sie war dankbar, dass Miss Salter ihre Augen nicht sehen konnte. „Haben Sie schon mal einen schlechten Traum gehabt, Miss Salter?" Sie hatte fast jede Nacht den gleichen. lhr Vater marschierte aus dem Haus. Der Mann mit dem weißen Haar wartete in einem zerbeulten alten Kombiwagen vor der Tür. Und weit und breit war kein süßes kleines Kind in Sicht, dem sie eine große Schwester sein konnte.
„lch hatte in deinem Alter eine Menge schlechte Träume", sagte Miss Salter.
Allegras Brust zog sich zusammen. Atme!
„Einer meiner schlechten Träume war, dass ich ein Hühnchen bin."
Allegra schaute auf.
„Meine Eltern sagten, ich wachte auf, gluckte und gackerte und schlug mit den Armen — etwa so." Miss Salter sprang anmutig auf ihre Füße. Sie machte ein paar Laufschritte durchs Studio und nahm dann eine Pose ein, bei der sie die Hände unter den Achselhöhlen hochsteckte — die perfekte Vorführung des Hühnchen-Traums einer Ballerina.
Allegra lachte.
Sie sprang auf, machte eine glissade, einen pas de bourrée und drei kleine chaines, um zu ihrer Lehrerin hinzukommen.
Miss Salter klatschte. „Du und ich gäben sehr schlechte Hühnchen ab, Allegra", sagte sie und legte den Arm um ihre Schultern. „Deshalb haben du und ich das Tanzen gewählt."
Allegra schloss die Augen. Gleich würden die anderen zurückkommen. Aber noch stand sie hier allein mit Miss Salter, zwei Tänzerinnen auf der Ballett-Linie mit der Unendlichkeit vereint.