Endlich war er da, der lange erwartete kleine Bruder. Das „Brüderchen“, über das Mama und Papa ständig redeten. Wenn sie „Brüderchen“ sagten, hörte es sich an, als wäre das etwas ganz Besonderes. Aber Michael war sich da nicht so sicher.
Da war er also. Winzig klein, aber schrecklich laut.
Und alles drehte sich nur noch um ihn:
„Sei vorsichtig mit ihm.“
„Nimm Rücksicht, stell den Fernseher
leiser. Er schläft.“
Sei vorsichtig, nimm Rücksicht. Das war alles, was er ständig zu hören bekam.
Seitdem Papa und Mama das himmelblaue Bündel mit dem runden Gesicht nach Hause gebracht hatten, sahen sie nur noch das Baby.
„O wie süß, er lacht.“
„O wie süß, er gurrt.“
„O wie süß, er verzieht sein Näschen.“
Es war schlimm, einfach schlimm!
„Mama, so ein kleiner Bruder macht
gar keinen Spaß.“
„Du musst ihm Zeit geben, Michael. Du
musst warten, bis er größer ist. Dann
könnt ihr zusammen spielen.“
„Und mit welchen Spielsachen?“
„Mit ... na, mit allen.“
„Aber nicht mit meinen Er soll mit seiner Babyrassel und den kleinen Glöckchen spielen.“
Michael war enttäuscht, ein bisschen böse, ein bisschen eifersüchtig. Dieser kleine Bruder war wirklich nicht so toll, wie Mama und Papa ständig sagten.
Alle Naselang spitzte Mama zur Tür herein, um zu sehen, was das Baby machte, und um aufzupassen, dass er, Michael, ihm nicht zu nahe kam.
„Steck ihm nichts in den Mund.“
„Leg ihm die Decke nicht übers Gesicht.
Er könnte ersticken.“
Nein, es war einfach nicht zum Aushalten.
„Alle glauben, ich könnte ihm etwas tun“,
dachte Michael.
Mama war in der Küche und kochte. Süßer Vanilleduft erfüllte das ganze Haus. Das Baby weinte leise, dann lauter und noch lauter. Michael ging zur Wiege und betrachtete sein Brüderchen. Mit jedem Schrei öffnete sich der kleine Mund weiter.
Michael wollte gerade losrennen und seine Mama suchen, da hörte das Baby auf zu weinen. Die glänzenden kleinen Knopfaugen musterten ihn. Der weit geöffnete Mund verzog sich zu einem kleinen Kuss. Das Brüderchen lächelte ihn an. Ob es
Michael wohl erkannte? Wusste es
vielleicht, dass er, der Junge mit dem
zerzausten Haar, Michael war?
Michael steckte seine Hände durch die Gitterstäbe der Wiege, und das Baby packte einen Finger. Mit seiner kleinen runden Hand drückte das Baby ganz fest. Und es lächelte. Nein, es lächelte nicht bloß, es lachte Michael an.
Das Baby gluckste und gurrte.
Da spürte Michael etwas in seinem Herzen. Einen kleinen Freudensprung.
„Ich bin Michael, dein Bruder“, sagte er. „Dein Bruder, der auf dich aufpassen und mit dir spielen und dafür sorgen wird, dass dir niemand etwas tut oder dich zum Weinen bringt.“
Das wollte er wirklich. Er liebte sein Brüderchen.
Als Mama stutzig wurde, weil es plötzlich so still war und sie in der Zimmertür erschien, musste sie zweimal hinsehen, und ihre Augenlider machten: Klick, klick. Obwohl sie keinen Fotoapparat hatte, wollte sie diesen Moment für immer festhalten.
In dem „Foto“, das sie in ihrem Kopf aufnahm, lag ein Baby in seiner Wiege und lachte. Davour stand ein kleiner Junge mit wildem Haar und lächelte auch. Und rings um die Wiege lagen Berge von Spielsachen, die alle Michael gehörten: kleine Bären, kleine Autos, Flugzeuge, Soldaten, Bälle, Geduldspiele, sein Krokodil und die Giraffe, und noch vieles mehr.
Mama nahm das Foto auf: Klick, klick.
Es war ein wunderschönes erstes Foto von den Geschwistern! Von Brüderchen und Bruder.