Waran können wir einen Christian Scientisten erkennen? Gibt es irgend ein Erkennungszeichen, irgend etwas Charakteristisches von dem man sagen könnte, daß es diese Gemeinschaft von Christen klassifiziere? Darauf kann geantwortet werden, daß die Christian Scientisten vor allen Dingen die wohlwollendsten von allen Menschen auf Erden werden sollten. Dies wird durch die Vernunft ihrer Lehren bewirkt, aber die besondere Lehre, welche am meisten dazu beitragen wird sie vor anderen christlichen Denkern zu unterscheiden, ist die neue Behauptung, daß alles Böse unpersönlich und unwirklich ist. Diese Lehre ist keineswegs modern, sie datiert mindestens bis zu Jesu Zeit zurück und es ist möglich, daß vor seiner unvergleichlichen irdischen Laufbahn andere bereits genügend geläutert waren, um einen Strahl dieser großen übersinnlichen Wahrheit zu erkennen. In ihrer gegenwärtigen Form ist die Lehre nur deshalb einzig in ihrer Art, weil sie ebenso wie viele andere Gedanken Jesu nicht verstanden wurde und daher immer unbeachtet geblieben ist — ein unberechenbarer Verlust für die Menschheit. Diese Lehre zieht sich wie ein leuchtender Faden durch die ganze Theologie von „Science and Health“; und die praktische Anwendung ihrer Wahrheit beweist die Allheit Gottes und heilt die Kranken.
In ihrer Betätigung finden wir, daß selbst ein sehr geringes Verständnis von dem Grundsatz: daß das Böse unpersönlich ist, uns befähigt aufrichtiger zu lieben und aufrichtiger zu vergeben. Jeder Bewußtseinszustand, der Eigenschaften wie Liebe und Vergebung enthält, kann nicht verfehlen seinen milden Einfluß auf die ganze Umgebung auszuüben. Wenn man die unpersönliche Natur des Bösen erkennt, so versüßt einem dies das Leben, wie es nichts anderes kann. Es ist ein mächtiges Gegenmittel gegen all das Gift des Hasses, welches aus persönlicher Abneigung entsteht. Es heilt die zehrenden Gedanken der Eifersucht und des Neides, die der falsch geleitete Glaube verursachte, daß das Böse, was wir sehen, die Bosheit irgend einer Person sei. Es befähigt uns das wirklich zu vergeben, was uns wie ein persönlich zugefügtes Unrecht erscheint und zwar nicht heuchlerisch, sondern aufrichtig zu sagen: „Vater vergieb ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.”
Kein Ereignis der irdischen Geschichte reicht an die Erhabenheit des Vorganges bei Pilatus heran, wo Jesus schwieg und seine himmlische Ruhe bewahrte, unverzagt bei Spott und Hohn, bei grausamer Falschheit und körperlicher Marter. Er wurde persönlich angegriffen und mißhandelt, seine Absichten, seine Beweggründe und sein Lebenszweck wurden mißverstanden und all dies durch scheinbar persönliche Feinde. Sicherlich wurde das Böse durch persönliche Ansichten ins Werk gesetzt. Das Blut seiner christlichen Nachfolger, die durch beinahe zwei Jahrtausende von diesen Vorgängen getrennt sind, wallt auf vor Scham und Zorn, wenn sie der Brutalität seiner Verfolger gedenken, aber er selbst öffnete nicht seinen Mund. Was befähigte ihn dazu, so zu handeln? Welch erhabenes Bewußtsein hielt ihn in dieser schweren Prüfung aufrecht? Es umgab ihn mit göttlicher Majestät und erhob ihn zu der einzigen erlauchten Erscheinung in jener merkwürdigen Gesellschaft jüdischer und römischer Würdenträger. Ihnen gehörte all der menschliche Pomp, der Sieg und die Macht, aber sein war der größeste jemals errungene Sieg, der Sieg über die Persönlichkeit. Göttliche Liebe war damals der Sieger und muß immer der einzige Sieger über die Ansprüche des Irrtums bleiben. Jesus lehnte es einfach ab zu hassen. Er wies die Beeinflussung durch die irdischen Anschauungen, daß diese Persönlichkeiten um ihn seine Feinde wären, daß sie ihm Leid zufügen könnten, zurück. Es muß das Verständnis gewesen sein, daß das Böse nicht persönlich ist, das ihn befähigte all diese Prüfungen durchzumachen und dabei unerschüttert und erhaben zu bleiben.
Seine ganze Philosophie führte zu diesem höchsten Beweise der Selbstbeherrschung hin. Beim Beginn seines Wirkens kündigte er seine Lehre an, welche Israel errettet haben würde und die Israel noch erretten wird, wenn die Zeit erfüllt ist. Er sagte: „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen, thut wohl denen die euch hassen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen ... —. Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Thun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und so ihr euch nur zu euren Brüdern freundlich thut, was thut ihr Sonderliches? Thun nicht die Zöllner auch also? Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist.” Der Inbegriff dieser Lehre bildet die goldene Regel. Wie können wir aber ohne das Verständnis von der Unwirklichkeit und Unpersönlichkeit des Bösen, welches uns Jesus klar machte und das uns die Christian Science von neuem schenkt, zu anderen so sein, wie wir wünschen, daß sie zu uns sein sollen? Wie können wir unseren Feind lieben, wenn wir ihn für eine Person halten, die unsere Niederlage plant?
Die Christian Scientisten müssen für vieles dankbar sein, aber in keiner Hinsicht werden sie mehr gesegnet als durch das Erziehen zum milden Denken. Die Neigung zu kritisieren, zu verdammen, zu tadeln, ist ein Auswuchs der persönlichen Auffassung des Bösen. Wenn wir in der Christian Science beginnen die Wahrheit hinsichtlich der Natur des Bösen in uns aufzunehmen, so ändert sich unsere Lebensansicht und unser Denken wird geistiger. Liebe für Gott und den Menschen nimmt dann allmählich den Platz jenes übertriebenen, irdischen, persönlichen Daseinsbegriffes, der die Wurzel all unsrer Disharmonie bildet, ein.
So lange wir uns das Böse ausmalen, es einen Mann oder eine Frau nennen und es dann hassen, fürchten oder bemitleiden, so lange sind wir noch sehr weit von der wahren wissenschaftlichen Stellungnahme entfernt. Die Prüfung des Christian Scientisten ist sein Benehmen im Feuer, seine geistige Haltung unter der Einwirkung böser Einflüsse. Wenn wir durch unsere Umgebung versucht werden anzunehmen, daß es Sünde gibt; oder wenn wir durch Einflüsse aus zweiter Hand glauben, daß A. oder B. nicht tut, was er tun sollte, und daß sein Betragen — unserer Meinung nach — weit vom wissenschaftlichen Standpunkt entfernt ist, so sind wir, wie wir zu sein pflegten: „denn thun nicht die Zöllner auch also?” Ist das nicht die Gewohnheit und der Brauch der irdischen Sinnesart? Dann mögen wir uns fragen: in wie weit bin ich ein Christian Scientist, wenn ich Böses noch für wirklich halte und es eine Person nenne, wenn ich es als eine Person kritisiere, ihm gestatte mich aufzuregen oder irgend ein Gefühl der Empfindlichkeit, des Zornes oder der Verdammung in mir zu wecken? Was tat Jesus während der Herausforderung, als sich alle bösen Mächte verbanden und darauf bestanden, daß er persönliche Feinde hätte, die nach seinem Leben trachteten? Was er tat, war das Beste, was unter diesen Umständen geschehen konnte, weil alles, was er tat, wissenschaftlich und folglich richtig war. Demnach können wir nichts Besseres tun als uns seine Handlungen zum Vorbild zu erwählen. Was den Christian Scientisten auszeichnet, ist seine Fähigkeit: sich seine Harmonie trotz allem zu bewahren! Wenn du in den Tagen der Anfechtung schwach wirst, so ist deine Kraft gering. Wenn der Traum des sterblichen Daseins uns eine fröhliche Zeit darstellt, dann kann sich selbst der „trübseligste Michel” ein Herz fassen und sich des Lebens freuen. Es ist nicht sonderlich ruhmvoll uns wohl zu fühlen, wenn der sterbliche Geist uns Ruhe läßt. Wir müssen trotz des Irrtums gesund und glücklich sein, nicht weil uns der Irrtum noch ein gewisses Maß von Harmonie gestattet. Sind wir auch nur etwas besser als wir waren, wenn wir nach dem alten Glauben vom persönlichen Guten und Bösen, von sterblichen Sündern und Heiligen weiter leben und demgemäß handeln?
Die Leute gehen ins Theater und vergessen sich selbst eine Zeitlang über den Vorgängen, welche sich auf der Bühne abspielen. Sie leiden mit denen, welche leiden; sie freuen sich und fürchten sich und sie hassen mit, gradeso wie die Charaktere auf der Bühne diese Empfindungen ausdrücken und seufzen tief, wenn alles vorüber ist, froh wieder zu ihrem eigenen Selbst zurückzukehren — in dem Bewußtsein, daß das, was sie gesehen haben, sich niemals wirklich ereignete. Die Personen in dem Spiel, ihre Namen und Charaktere mit all den sich daraus entwickelnden Ereignissen hatten weder eine tatsächliche Begründung noch irgendwelche Wirklichkeit; es war nur ein durch die Schauspielkunst begriffenes und objektiv dargestelltes Bild. Auf ähnliche Weise müssen wir dahinkommen: dies Schauspiel des menschlichen Lebens mit seiner trügerischen Scenerie, seinen wechselnden Gemütsstimmungen und seinen vielen Schauspielern zu betrachten.
Wie Shakespeare sagt, —
„Die ganze Welt ist eine Bühne und alle,
Männer und Frauen sind nur Schauspieler;
Zu bestimmter Zeit müssen sie kommen
Und gehen — und mancher Mensch spielt mehrere
Rollen auf einmal in seinem Leben.”
Unser wahres Selbst zu vergessen und anscheinend in den Vorgängen oder den Bildern zu leben, heißt all die Leidenschaften und Gefühle, all die Erfahrungen, welche dieses Bühnenvolk, Sterbliche genannt, durchmacht, zu teilen. Wenn wir weise und gut in der Christian Science unterrichtet sind, werden wir dies nicht mehr tun. Wenn wir dem hypnotischen Einfluß, daß alle diese Personen wirklich seien nachgeben und das was sie sagen, denken und tun wirkliche Ereignisse seien, und daß wir zu ihnen gehören und durch sie beeinflußt werden, dann werden die Resultate mit unserem Glauben übereinstimmen. Es gibt in der Bibel und in dem Buch „Science and Health“ deutlichen Hinweis darauf, daß unser wirklicher Standpunkt in der Christian Science durch das, was wir tun, und nicht durch das, was wir sagen, erkannt wird. Jesus sagte: „Liebet ihr mich, so haltet meine Gebote.” Und eines seiner Gebote war, daß wir einander lieben sollen, wie er uns liebte. Der Beweis unsres Fortschrittes, der in Wahrheit die einzige Kundgebung unserer Besserung ist, welche wert ist in Betracht gezogen zu werden, kann nur in unserer geistigen Stellungnahme gegen unsern Bruder geliefert werden, und dieser geistige Standpunkt wird sehr durch unser Verständnis von der unpersönlichen Natur des Bösen beeinflußt sein.
Der echte Christian Scientist ist ein Wunder an Höflichkeit und Menschenliebe. Ähnlich wie von einem Ritter „ohne Furcht und Tadel” — wie von Spencers „gentle Knight“ — sollte man auch von ihm sagen: „gerecht, treu und wahr ist er in Wort und Tat.” Er ist ritterlich und immer bereit denen beizustehen, die Hilfe brauchen. Er unterscheidet zwischen dem selbstgerechten Anliegen und der bescheidenen Bitte eines ehrlichen Herzens; aber sogar für die Selbstgerechtigkeit hat er kein persönliches Verdammungswort. Er ist immer im Geiste bereit Gedanken der Wahrheit aufzunehmen, und daher kommt es oft vor, daß er unvermutet Engel beherbergt. Argwohn, Furchtsamkeit, übertriebene Vorsicht haben keinen Teil an ihm. Er beugt sich nicht vor Einflüsterungen und Einflüssen. Er ist frei, ehrlich, schlicht, natürlich, furchtlos. Er streitet mit niemand, ist menschenfreundlich, dankbar, barmherzig. Die Wärme seiner eigenen gütigen Gedanken teilt sich seiner Umgebung mit. Er bringt immer eine geistige Atmosphäre von Güte, guten Sitten und guter Gesundheit mit sich, er hat es gelernt sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern und seine Unterhaltung ist wohl durchdacht, weil er stets daran denkt, daß die Menschen von jedem törichten Wort, das sie sprechen, am jüngsten Tage Rechenschaft geben müssen. Dies gibt uns ein Bild von dem echten Christian Scientisten, dessen Vorbild der vollkommene Mensch Christus Jesus ist.
