Chronologisch gesehen sollte Rut die nächste Frau in der Bibel sein, über die wir sprechen. Doch ich nehme Hanna zuerst dran, und zwar aus Gründen, die gleich deutlich werden. Hannas Notlage sieht so einfach aus. Sie Wünscht sich einen Sohn! Ihr Wunsch nach einem Sohn ist so groß, dass sie verspricht, ihn in jungen Jahren Gott zu überlassen, wenn Gott ihr nur dieses Kind geben würde. Wir verspüren großes Mitgefühl mit Hanna. Wir haben Verständnis für ihren Mann Elkana, der sein Bestes tut, sie mit seiner Liebe zu trösten. Doch warum hält Eli, der Priester, sie für betrunken und erkennt nicht ihre tragische Situation? Warum ist es für Hanna so tragisch, kein Kind zu haben? Weil ihre Geschichte auf dramatische Weise klar macht, was es bedeutet, in einer patriarchalischen Gesellschaft eine Frau zu sein. Die Frau existiert nur zu dem Zweck, Kinder zu gebären, besonders einen Sohn, der das Fortbestehen der Familie gewährleistet. Ein Mädchen galt als Eigentum, zuerst gehörte es dem Vater und später als Ehefrau dem Mann. Und für den Fall, dass sie ihren Mann überlebte, war es ihr Sohn, der für sie sorgte. Keinen Sohn zu haben war sehr bedauernswert, doch kinderlos zu sein, war eine tragische Sache, weil es bedeutete, dass Gott sich gegen die Frau gewandt hatte. Die einzige Möglichkeit in die ser Gesellschaft Würde zu erlangen und als Person geachtet zu werden war Mutter eines Sohnes zu sein.
Stellen wir uns die Szene in Silo vor: Elkana, der Patriarch, bewirtet freudig seine Familie; Peninna, seine Frau, ist glücklich inmitten ihrer Söhne und Töchter. Wir fühlen mit Hanna mit, die verspottet und gequält wird, bis ihr fast das Herz bricht, weil sie kein Kind hat. Was als nächstes geschieht, ist ungewöhnlich. Die religiösen Bräuche in Silo sind kommunal; alle nehmen daran teil. Silo ist ein Ort ritueller Zeremonien, Tiere werden geopfert und Weihrauch verbrannt; die einzige Stimme war die kollektive Stimme.
Was tut Hanna allein abseits? Ihre Lippen bewegen sich, als ob sie spräche, doch man hört nichts. Ihr Gebet richtet sich nach innen. Siehe Marcia Falk, Out of the Garden (New York, N.Y.: Fawcett Columbine, 1994), S. 94. Sie stellt sich einen Gott vor, der nicht nur der Schöpfer des Universums ist — der nur ein Wort zu sagen braucht und es geschieht —, sondern ein Gott, der lauscht, der hört, der sich um sie kümmert. Und das ist die Freude, der Geist von Hannas Gebet; es erkennt sie als Frau an, die einen eigenen Wert besitzt. Und diese Art der stillen, individuellen Kommunikation mit Gott ist unser Erbe.
Wir haben einen Schimmer davon erlangt, was es bedeutete, in einer patriarchalischen Gesellschaft eine Frau zu sein. Unser nächstes Porträt steht in direktem Kontrast dazu. Denn wenn es jemals die Geschichte einer Frau in der Welt des Mannes gegeben hat, dann ist es die Geschichte von Rut. Die Geschichte beginnt mit einem „Mann von Bethlehem in Juda. .. " Rut 1: 1 .. Und sie schildert, dass Elimelech und Noomi und ihre beiden Söhne Juda verließen und ins Moabiterland zogen, weil in ihrem Land Hungersnot herrschte. Noomi kann sich glücklich schätzen. Sie hat einen Ehemann und zwei verheiratete Söhne, die ihr bestimmt viele Enkelkinder geben werden. Doch ihr Mann stirbt; dann sterben ihre beiden Söhne; sie haben keine Kinder und Noomi bleibt allein zurück. Das, was ihr vorher als Frau Wert gegeben hat, existiert jetzt nicht mehr. Sie hat nur noch die zwei Schwiegertöchter Rut und Orpa, die wie sie Witwen sind. Als wollte sie die traurige Lage dieser Frauen hervorheben, drängt Noomi jede ihrer Schwiegertöchter in das Haus ihrer Mutter zurückzukehren — eine ungewöhnliche Aussage in einer patriarchalischen Gesellschaft. Dreimal befiehlt Noomi ihren Schwiegertöchtern, nach Hause zurückzukehren und wieder zu heiraten — deren einzige Aussicht auf Erfüllung.
Jetzt sehen wir, wie jede Frau über ihr eigenes Schicksal entscheidet. Orpa kehrt tatsächlich ins Haus ihrer Mutter zurück. Rut widersetzt sich dem Befehl Noomis und besteht darauf, mit ihr zu gehen als Fremde in ein fremdes Land. Das völlig Ungewöhnliche ist, dass sich Rut einer älteren Frau, einer Witwe, anschließt, anstatt sich einen Ehemann zu suchen. Doch trotz dieses unglaublichen Treuebeweises beharrt Noomi darauf, dass sie sich durch den Verlust der Männer in ihrer Familie leer fühlt. Noomi scheint Ruts Anwesenheit nie anzuerkennen.
Rut und Noomi treffen zur Zeit der Gerstenernte in Bethlehem ein. Wir hören bald von Boas, einem Verwandten des Elimelech. Doch Rut nimmt jetzt die Zügel in die Hand und sagt Noomi, dass sie aufs Feld gehen wird, um Ähren aufzulesen „bei einem, vor dessen Augen ich Gnade finde" Rut 2:2.. (Denken Sie an die Worte: Vor dessen Augen ich Gnade finde.) Zum ersten Mal, seit Rut sich Noomi widersetzt hat, bekommen wir eine Ahnung von Noomis Zuneigung für Rut. Sie erwidert: „Geh hin, meine Tochter!"
Als Rut dann auf Boas' Feld Ähren aufsammelt, fragt dieser in echt patriarchalischem Ton: „Zu wem gehört das Mädchen?" Sie muss jemandem gehören sie ist ein Eigentum, keine Person. Ein Knecht identifiziert sie, nicht mit Namen, sondern als Fremde, die mit Noomi, einer anderen Frau, gekommen ist. Boas erlaubt Rut, auf seinem Feld zu bleiben. Rut ist angemessen höflich und respektvoll, doch sie übernimmt die Führung und stellt die Frage: „Womit hab ich Gnade gefunden vor deinen Augen, dass du mir freundlich bist, die ich doch eine Fremde bin?" Rut 2 10.
Rut hatte sich vorgenommen, Gnade zu finden, und Boas hat ihr diese Gnade gewährt. Er erkennt an, was sie für Noomi getan hat, und fügt einen Segen hinzu: „Der Herr vergelte dir deine Tat, und dein Lohn möge vollkommen sein bei dem Herrn, dem Gott Israels, zu dem du gekommen bist, dass du unter seinen Flügeln Zuflucht hättest." Rut 2: 12. Rut isst mit Boas' Leuten zu Mittag; Boas trägt seinen Knechten auf, etwas für Rut aus den Garben herauszuziehen und liegen zu lassen, damit sie es auflesen kann, und sie las bis zum Abend. Was Rut sich vorgenommen hatte, das hat sie erreicht.
Als Rut nach Hause zurückkehrt und Noomi berichtet, was sie erlebt hat, antwortet Noomi mit einem Segen, der dem Herrn gilt, „der seine Barmherzigkeit nicht abgewendet hat von den Lebendigen und von den Toten" Rut 2:20.. Noomi, die so verbittert darüber gewesen ist, dass der Allmächtige sie „betrübt" hat, wird sanftmütiger. Sie erklärt Rut, dass Boas ein Verwandter ist, der „zu unsern Lösern [ = Erlösern]" gehört. Rut wird nun in Noomis Familie eingeschlossen. Man wundert sich, warum Noomi nicht Boas direkt um Hilfe bat. Liegt es daran, dass sie ein Produkt ihrer Kultur ist und darauf wartet, dass der Mann den ersten Schritt tut? Wir erfahren es nicht.
Rut verkündet, dass sie die ganze Gestenernte hindurch auf Boas' Feld Ähren aufsammeln wird. Dadurch ist sie in der Lage, für sich und Noomi Nahrung zu beschaffen; sie ist nicht auf der Suche nach einem Ehemann.
In der nächsten Szene ist es Noomi, die Rut anbietet: „Meine Tochter, ich will dir eine Ruhestatt suchen, dass dir's wohl gehe." Rut 3: 1 . Sie hat einen Plan für Rut, der mutig und etwas schockierend ist: Sie fordert Rut auf, zur Tenne zurückzukehren und sich spät am Abend Boas zu Füßen zu legen.
Noomi hat Rut versichert, dass Boas ihr sagen wird, was sie tun soll. Doch in Wirklichkeit ergreift Rut wieder die Initiative. Als Boas merkt, dass eine Frau zu seinen Füßen liegt, fragt er: „Wer bist du?" Bei diesem zweiten Treffen mit Boas erkundigt er sich danach, wer sie ist, nicht danach, wem sie gehört. Sie antwortet: „Ich bin Rut, deine Magd" und sie fährt fort: „Breite den Zipfel deines Gewandes über deine Magd, denn du bist der Löser." Rut 3:9. Rut hat Boas gesagt, was er tun soll, und sie fordert ihn heraus, ihr den himmlischen Segen zuteil werden zu lassen, den er anfangs für sie erbeten hatte, als er sagte: „Dein Lohn möge vollkommen sein bei dem Herrn, dem Gott Israels, zu dem du gekommen bist, dass du unter seinen Flügeln Zuflucht hättest."
Die Geschichte geht noch weiter. Noomi besitzt ein Stück Land und der nächste Verwandte Elimelechs kann die Linie vor dem Aussterben bewahren, wenn er das Land kauft, Rut heiratet und einen Erben hervorbringt, durch den Elimelechs Familie fortbesteht. Folgendes ist hier geschehen: Die Frauen erzwingen eine Entscheidung. Boas muss jetzt handeln. Letzten Endes kauft Boas das Land, er heiratet Rut und sie bekommen einen Sohn.
In der letzten Szene sind nur die Frauen aus Bethlehem anwesend. Das Kind wird als Noomis Sohn bezeichnet anstatt Elimelechs Sohn. Man spricht von Rut, die ihn geboren hat, anstatt von Boas, der ihn gezeugt hat. Man bezeichnet Rut als „Schwiegertochter, die dich geliebt hat,. .. die dir mehr wert ist als sieben Söhne." Rut 4: 15. Glauben Sie, dass man die Geschichte von Rut niedergeschrieben hätte, wenn sie nicht die Urgroßmutter von König David gewesen wäre?
Ich schulde Phyllis Trible sehr viel für diese Einsichten. Zu Rut bemerkt Dr. Trible: „Als Ganzes betrachtet, legt dies. .. eine theologische Interretation von Feminismus nahe: Frauen, die mit Furcht und Zittern schaffen, dass sie selig werden, denn Gott ist's der in ihnen wirkt. Noomi wirkt als Brücke zwischen Tradition und Innovation. Rut und die Frauen von Bethlehem wirken als Paradigmen für Radikalität. Insgesamt handelt es sich um Frauen, die in einer Kultur leben, gegen die sie sich auflehnen und die sie letztendlich umwandeln. Was sich in ihnen spiegelt, wird von ihnen in Frage gestellt. Und dieses In-Frage-Stellen ist bis auf den heutigen Tag für all jene ein Erbe des Glaubens, die Ohren haben, um die Geschichten der Frauen in einer Männerwelt zu hören." Phyllis Trible, God and the Rhetoric of Sexuality (Philadelphia, Pa.: Fortress Press, 1978), S. 196.
Diese Geschichte ist vom Geist des Lebens dieser Frauen geprägt.
Den dritten Teil dieser Serie, die einer Ansprache entnommen ist, lesen Sie im nächsten Monat.
