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Es gibt kein System ohne Menschen, die mitmachen

„Das Leben der Anderen" — Es gibt kein System ohne Menschen, die mitmachen

Aus der März 2011-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Letztes Jahr habe ich im Rudolf-Harbig-Stadion in Dresden das Fußballländerspiel der Frauen Deutschland-Kanada verfolgt. Neben mir saß ein älteres Ehepaar, das zwar mit Kaffee und Bier ausgerüstet war, aber auf mich einen vergleichsweise desinteressierten bis lustlosen Eindruck gemacht hat. Die Beiden rührten sich mehr oder minder nicht vom Fleck, sie jubelten nicht bei einem Tor, sie klatschten nicht, sie pfiffen nicht bei einem Foul und stöhnten nicht auf bei einer vergebenen Chance. Sie beteiligten sich nicht an den — zugegebenermaßen manchmal auf halbem Weg absterbenden — La-Ola-Wellen, sie feuerten die Spielerinnen kein bisschen an, saßen einfach steif auf ihren Sitzen. Gut, vielleicht hatte ihnen jemand die Eintrittskarten geschenkt. Aber ich kam um den Gedanken nicht herum, dass man bei so wenig Engagement so ein Spiel viel netter zu Hause am Fernseher hätte ansehen können. Fußball im Stadion lebt einfach vom Mitmachen der Fans.

Ein Gedankensprung: Auch über zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer beschäftigt die Geschichte der DDR noch viele Menschen. Sie ist Teil der — guten und schlechten — Erfahrung von Millionen ehemaliger DDR-Bürger. Und immer noch bedarf es einer gedanklichen Auseinandersetzung darüber, wie man die verschiedenen Aspekte dieses Gesellschaftssystems nun einordnen soll, von denen die soziale Sicherheit und eine ungewöhnliche Solidarität unter den Menschen sicher angemessen gewürdigt werden sollten. Auch in meiner Familie gab es hin und wieder Debatten darüber, die sich auch mal zu Streitgesprächen z. B. über die Entscheidungsspielräume des Einzelnen auswachsen konnten.

Die Entwicklung meiner Überzeugungen zu diesem Thema hat unter anderem der oskargekrönte Spielfilm „Das Leben der Anderen" sehr geprägt. Ich habe ihn mittlerweile zum fünften Mal gesehen. Erschüttert hat mich der Film jedes Mal aufs Neue. Aber ich erinnere mich lebhaft, dass ich die ersten Male den Kinosaal jeweils mit noch anderen unterschiedlichen Empfindungen und Erkenntnissen verlassen habe. Mal war ich beinahe empört und wütend, dass dieser Stasi-Hauptmann in einem so milden, versöhnlichen Licht dargestellt wurde. Ein anderes Mal war ich frustriert und mutlos, wie bestechlich und rücksichtslos Menschen sein können.

Die Erkenntnis, die mich zu einer tiefen geistigen Einsicht geführt hat, ist die: Es gibt kein System ohne Menschen, die mitmachen — die es leben, ihm gewissermaßen erst Leben verleihen, die es in ihrem eigenen täglichen Tun und Treiben umsetzen und es somit auch bekanntmachen. All die Stasi-Leute in dem Film (und letztlich auch im realen Leben in der DDR und in anderen Diktaturen) haben irgendwann eine Entscheidung getroffen — ob freiwillig oder unter äußerem Druck, sei zunächst dahin gestellt. Ich will das auch gar nicht bewerten oder beurteilen. Aber sie haben zumindest zugelassen, dass sie sich diesem (Gedanken-) System als Ausdrucksmittel zur Verfügung stellen und auf andere Menschen im Sinne dieses Systems einwirken.

Doch der Film beschreibt eindrucksvoll, dass auch ein Einzelner durchaus Handlungsspielräume finden kann, um die Wirkungsweise eines Systems zum Wohle anderer Betroffener zu verändern. Der Stasi-Hauptmann Wiesler lässt sich sowohl vom künstlerischen Wirken als auch von der Liebe zwischen einer Schauspielerin und einem Theaterschriftsteller berühren. Sein eigenes Leben ist dagegen grau, leb- und lieblos und leer. Er entwickelt eine tiefe Sympathie für die Schauspielerin und unterminiert selbst durch fingierte Bespitzelungsberichte die Überführung des Schriftstellers als vermeintlicher Staatsfeind, obwohl der tatsächlich einen politisch kritischen Bericht in den westdeutschen „feindlichen" Medien veröffentlicht hat. Zwar kann er den tragischen Tod der Schauspielerin nicht verhindern. Aber der Schriftsteller stellt Jahre nach dem Mauerfall bei der Einsicht in seine umfangreichen Stasiakten fest, dass es da in dem Überwachungsapparat der Stasi eine Person gegeben hat, die ihre eigene Karriere ruiniert hat, in dem Bestreben, ihn und seine Geliebte zu schützen. Damit hat der Stasimann letztlich das von ihm vormals vertretene System, für das er gelebt hat, selbst ad absurdum geführt.

In der Psychologie, in der Pädagogik und auch in anderen Geisteswissenschaften gibt es einen Betrachtungsgrundsatz, dass man den Täter von der Tat trennen soll. Mit anderen Worten, dass es wichtig — und in den meisten Fällen auch fair — ist, den Täter zunächst erst einmal als Menschen zu betrachten. Das heißt nicht, dass man den Täter zwangsläufig freispricht, weil man ihn plötzlich zum Opfer der prägenden Umstände erklärt. Aber man gesteht dem Täter ein vom Grundsatz her zumindest neutrales Wesen zu — und betrachtet dann die Umstände, die auf den Menschen eingewirkt und ihn eben ggf. zu einer falschen, zu verurteilenden Handlung geführt haben.

Wenden wir diesen Grundsatz nun auf die Menschen an, die sich für ein bestimmtes System einsetzen — und da kann man politische Bewegungen und gemeinnützige Verbände und Vereine genauso einordnen wie wirtschaftlich orientierte Organisationen, denn es geht dabei nicht um Bewertungskategorien gut oder schlecht, selbstlos oder eigenützig. Betrachten wir die Personen getrennt von dem Anliegen oder lösen wir ihr Engagement los von einem erklärten (oder gar verborgen angestrebten) Zweck, bleiben in den meisten Fällen Einsatzbereitschaft und Hingabe von Gedanken und Energie an eine über den Menschen hinausreichende Sache übrig. Wir können also jeden Menschen, der uns im Zusammenhang zu einer x-beliebigen menschlichen Organisation begegnet, als Individuum auffassen, als reine Idee, als Ausdruck eines vollkommenen Gottes. Damit lösen wir den Menschen nicht nur los von möglicherweise schädlichen oder gar zerstörerischen Machenschaften, sondern wir erlösen, erheben, befreien und reinigen „ganz nebenbei" auch die (Gedanken-)Systeme, denen er dient.

So werden diese menschlichen System auf diese Weise aufgelöst und ersetzt durch hilfreiche, aufbauende Strukturen, die dem einzig nützlichen System entlehnt sind, nämlich dem unauflöslichen Zusammenhang zwischen Gott und Mensch, zwischen einem vollkommenen Gott und Seinem vollkommenen Ausdruck, zwischen Ursache und Wirkung.

Zurück zum täglichen Leben können wir uns bei jedem Gedanken, den wir bewusst wahrnehmen, fragen: Entstammt er einem Gedankensystem, bei dem ich „mitmachen" will, das ich befördern möchte? Möchte ich es mir zu Eigen machen und wünsche ich, dass es allgemein angenommen und verstanden werden sollte, weil es „dem Leben [aller] Anderen" und mir Segen und Fortschritt verheißt? Wenn Sie das mit „Ja" beantworten können, lassen Sie sich nicht aufhalten und machen Sie mit.

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