Jesus fordert uns dazu auf, unser Kreuz auf uns zu nehmen, und diese Aufforderung ist allgemein so gut bekannt, dass sie schon sprichwörtlichen Charakter angenommen hat. Dennoch gehört dieser Satz zu denjenigen, die häufig missverstanden werden. Deshalb ist es vielleicht ganz interessant, ihn einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.
Dieser Satz wird gerne angewandt, wenn jemand mit einem anhaltenden Problem zu kämpfen hat und wenn man einem armen Leidenden Mut zum Erdulden machen möchte. Zum Beispiel, wenn es darum geht, dass eine chronische Krankheit demütig ertragen werden soll oder wenn es angeraten scheint, an einem ungeliebten Arbeitsplatz oder in einer unglücklichen Beziehung auszuharren. Der missverständliche Tenor besteht darin, dass man eine schwere Last auf sich nehmen und diese dann ewig mit sich herumschleppen müsste.
Genau das aber
bedeutet es nicht!
Jesus hat eben nicht gesagt: „Trage dein Kreuz mit dir herum, du musst dich damit abschleppen, denn je schwerer es dir wird, um so mehr wirst du gesegnet sein." Nein. Nein. Nein. Das hat Jesus nicht gesagt und auch nicht gemeint. Schauen wir doch mal genau hin, und zwar auf jedes einzelne Wort:
Nimm ...
Nun, wenn ich mich auf diese Weise einem Begriff nähern möchte, schaue ich gerne im einfachen Wörterbuch nach, das bringt oft schon erstaunliche Klarheit. Der Wahrig schreibt zum Beispiel als Erläuterung zum Verb nehmen ganz wertfrei etwas mit den Händen ergreifen und im Herkunftswörterbuch des Duden las ich, dass die Wurzel des Verbs in einem Wort liegt, das so viel bedeutet wie: sich selbst etwas zuteilen. Diese beiden Beschreibungen besagen, dass es sich erstens um eine leichte und zweitens um eine freiwillige Tätigkeit handelt.
Dieses „nimm" ist also ein ganz leichtes Wort, etwas zu nehmen, bedeutet demnach keinesfalls, es zu stemmen oder es hoch zu wuchten oder es zu reißen, wie ein Gewichtheber, der auf eine spezielle Weise ein enormes Gewicht hebt, das ein untrainierter Mensch keinen Zentimeter vom Fleck wegbewegen könnte.
Und dieses sich selbst zuteilen beinhaltet ganz deutlich den Aspekt der Freiwilligkeit und kann in unserem Fall auch so formuliert werden: Lauf nicht weg, stell dich der Herausforderung. Oder wie es in der englischen Bibel TheMessage heißt: „Don't run from suffering; embrace it;" zu Deutsch: „Lauf nicht vorm Leiden davon, sondern nimm es an; "und zwar im Sinne von: ein Angebot annehmen. (Darauf kommen wir später noch einmal zurück.)
... dein ...
Diese Überlegungen beginnt mit einem großen ABER!-ABER nur „deines"! Denn dieses „dein" bedeutet ganz eindeutig, dass du nicht das gesamte Leid dieser Welt auf deine Schultern laden musst, sondern nur das, was dich angeht, also schau genau hin, ob es wirklich deines ist! Wenn du allerdings erkannt hast, dass es deines ist, dann lauf nicht weg, sondern nimm es an.
... Kreuz ...
Damit ist eigentlich jede Herausforderung gemeint, die sich uns entgegenstellt. Das Kreuz ist eben kein nimmer enden wollendes Leid, das wir buckeln und auf ewig mit uns herumtragen müssen. Es ist einfach eine Anforderung, die an uns gestellt wird. Wir sollten das so neutral wie möglich betrachten: Etwas hat sich uns in den Weg gestellt und es ist unsere Aufgabe, das entweder zu überwinden oder zu entfernen.
Ob wir diese Aufgabe annehmen oder nicht, das ist unsere freie Entscheidung. Es ist ein Angebot, das wir annehmen oder ablehnen können. Für diejenigen, die das Angebot ablehnen, endet die Geschichte an dieser Stelle; sie werden einen anderen Lösungsansatz suchen müssen. Für diejenigen, die das Angebot annehmen wollen, geht die Geschichte weiter:
... auf ...
Nimm es auf, geh ran und fasse es an und hebe es hoch. Man könnte auch sagen: Nimm es mit ihm auf. Und - das ist das Entscheidende - habe keine Angst. Oder wenn du Angst hast, dann nimm es erst recht mit ihr auf. Mein Motto heißt in solchen Fällen: Da, wo die Angst ist, da geht es lang.
Erinnern wir uns an dieser Stelle z. B. an Mose, den Gott aufforderte, eine Schlange beim Schwanz zu packen, was anerkanntermaßen die gefährlichste Art ist, eine Schlange anzufassen. Als er es aber tat, wurde diese Schlange zu einem Stab, auf den er sich stützen konnte. Das Interessante an dieser Geschichte ist dies: Immer, wenn Mose sich angstvoll abwandte, wurde sie (die Herausforderung) zur Schlange, und immer wenn er sich ihr zupackend zuwandte, wurde sie zum Stab. (s. 2. Mose 4)
... dich ...
Das heißt, DU bist gemeint, und zwar du allein: nicht du und noch jemand anders, nicht du und dein Mann oder du und deine Mutter oder du und dein Lieblingskirchenmitglied - nein: DU! DU allein.
Jemand hat mal geschrieben: Wir kommen nicht paarweise oder in Gruppen in das Himmelreich.
Jeder muss also seinen eigenen Eingang in das Reich Gottes finden und jeder muss selbst hinein gehen. Keiner kann einen anderen quasi auf seinen Schultern hinein tragen bzw. ihm/ihr den Weg abnehmen.
Zusammengefasst bedeutet die Aufforderung Jesu „Nimm dein Kreuz auf dich" demnach: „Nimm das an, was auf dich zukommt. Weiche ihm nicht aus, laufe nicht davon, packe es an und dann ..." Ja, was dann? Meistens übersehen wir, dass der Satz immer noch weitergeht, nämlich:
„... und folge mir nach."
Das sollten wir wirklich genau lesen, es heißt eben nicht: „Nimm das Kreuz und trage es hinter mir her." Sondern wie The Message schreibt: „Follow me and I will show you how." Zu Deutsch: „Folge mir und ich werde dir zeigen, wie." Jesus sagt demnach: „Gehe den Weg, den ich vorgezeichnet habe, und schau genau auf mich. Achte darauf, wie ich es gemacht habe, und dann mache du es genauso."
Und wie hat er es gemacht?
Sprechen wir zunächst einmal über die Kreuzigung. Wenn Jesus gegen seinen Willen, also gewaltsam gekreuzigt worden wäre, er hätte vielleicht gar nicht auferstehen können. Aber Jesus hat diese große Herausforderung wohl freiwillig auf sich genommen. Wie gewaltig das war, wird in einer Aussage der Wuppertaler Studienbibel deutlich: „Das Kreuz ist die schimpflichste Todesstrafe, die es je überhaupt gegeben hat." Die Zeitgenossen Jesu hatten entsprechend große Angst davor, gekreuzigt zu werden. Es konnte durchaus auch schon mal recht willkürlich geschehen, dass man Opfer wurde.
Aber Jesus wurde nicht Opfer, sondern er hat sich selbst geopfert. Das ist ein himmelweiter Unterschied. Er war bereit, durch diesen Tod hindurch zu gehen, zum Einen, um seinen Nachfolgern zu zeigen, dass er sich nicht scheute, diesen Weg zu gehen. Deshalb konnte er ihnen aus der eigenen Erfahrung heraus sagen: „Lauft nicht weg, egal wie schlimm es auch aussieht, denn wenn ihr euch einer Sache stellt, könnt ihr viel souveräner damit umgehen."
Das Kreuz ist eben kein nimmer enden wollendes Leid, das wir buckeln und auf ewig mit uns herumtragen müssen. Es ist einfach eine Anforderung, die an uns gestellt wird. Wir sollten das so neutral wie möglich betrachten: Etwas hat sich uns in den Weg gestellt und es ist unsere Aufgabe, das entweder zu überwinden oder zu entfernen.
Zum Anderen wollte er beweisen, dass der Tod keine Macht hat. Er sollte und wollte den Tod, den letzten Feind, wie ihn die Bibel nennt, überwinden, um zu beweisen, dass das Leben stärker ist. Das war die eigentliche Herausforderung. Er sollte etwas vollbringen, was noch kein Mensch zuvor getan hatte, nämlich von den Toten auferstehen. Das war so ungeheuerlich, dass nicht einmal seine Jünger es verstanden, als Jesus sie darauf vorbereiten wollte. Sie „... befragten sich untereinander: Was ist das, auferstehen von den Toten?" (Markus 9)
Die Kreuzigung war also das Opfer, das er brachte, um sein Ziel - die Auferstehung - zu erreichen. Könnte es nicht sein bzw. wäre es nicht sogar charakteristisch für Jesus, gerade diese Todesform regelrecht auszuwählen? Ebenso wie er häufig die Öffentlichkeit auf eine bevorstehende Heilung aufmerksam machte (z. B. bei der Auferweckung des Lazarus), könnte er die öffentliche Hinrichtung ja ganz bewusst gewählt haben. Die Menschen sollten seinen Tod miterleben und nach drei Tagen würde er sich ihnen als der Auferstandene präsentieren. Das Kreuz, das Jesus auf sich nahm, war also die Bereitschaft, sich kreuzigen zu lassen, damit Gott durch ihn verherrlicht würde. (Siehe das 17. Kapitel des Johannesevangeliums)
Allerdings hat Jesus auch im buchstäblichen Sinne „sein Kreuz getragen", denn entsprechend der Sitte musste er sein Kreuz selbst zur Richtstätte tragen. Als ihn die Kräfte verließen, wurde Simon von Kyrene, der zufällig auf dem Heimweg von der Arbeit dort vorbei kam, dazu gezwungen, es für ihn weiter zu tragen. Jesu hätte sicherlich noch letzte Kräfte in sich mobilisieren können, um das zu verhindern — wenn er der Ansicht gewesen wäre, dass es hätte verhindert werden müssen.
Dass er es nicht getan hat, dass er sich also quasi beim Kreuztragen hat helfen lassen, das ist für mich auch ein Hinweis darauf, dass er uns zeigen wollte, dass auch wir uns durchaus helfen lassen dürfen. Natürlich ist unser Kreuz unsere eigene Angelegenheit (s. o.), aber sich gelegentlich helfen zu lassen, widerspricht dem nicht! Ich sehe darin auch ein Indiz dafür, dass Jesus nicht meinte, wir müssten unser Kreuz auf jeden Fall bis zum bitteren Ende allein tragen, sondern dass wir uns auf das Wesentliche konzentrieren sollten.
Jesus ist nicht am Kreuz geblieben. Jesus hat das Kreuz überwunden. Jesus ist auch nicht im Grab geblieben. Jesus hat den Tod überwunden. Jesus ist von den Toten auferstanden. Das Wesentliche ist also der Sieg.
Was ist das Wesentliche?
Jesus ist nicht am Kreuz geblieben. Jesus hat das Kreuz überwunden. Jesus ist auch nicht im Grab geblieben. Jesus hat den Tod überwunden. Jesus ist von den Toten auferstanden. Das Wesentliche ist also der Sieg. Und damit sind wir bei dem Kern der Sache angelangt, nämlich: Wir sollen das Kreuz keineswegs um des Tragens willen auf uns nehmen, sondern um des Sieges willen. Wenn wir an diesem Punkt angekommen sind, dann wird alles ganz leicht.
Ein schönes Beispiel für diese Leichtigkeit finden wir in dem Buch „Wir kannten Mary Baker Eddy". Auf Seite 20 lesen wir in der Erinnerung von Julia S. Bartlett folgendes: „Ich bemerkte Mrs. Eddy gegenüber:, Es wird von uns verlangt, dass wir täglich unser Kreuz auf uns nehmen, aber ich tue das nicht, denn ich sehe keins, das ich aufnehmen könnte.' Sie antwortete:, Das ist so, weil es für Sie kein Kreuz mehr ist.'"
Die drei synoptischen Evangelisten haben den Text der Aufforderung Jesu wörtlich übereinstimmend überliefert, nur Lukas hat noch das Wort „täglich" eingefügt. Dieses Wort macht die Aufforderung für jeden von uns praktisch anwendbar. Damit handelt es sich nun nicht mehr unbedingt um eine einmalige große Angelegenheit, die vielleicht eine Nummer zu groß ist für uns, sondern schlicht und einfach um das tägliche Überwinden des inneren Schweinehundes, wenn ich das mal so formulieren darf. Damit geht es um die tägliche Selbstüberwindung, um das tägliche Nein zu jeglicher Form von Begrenzung, also um das Kreuztragen, das wir alle praktizieren können.
Und dass wir alle gemeint sind, zeigt der Blick in die Bibel, denn nachdem Jesus zunächst zu seinen Jüngern gesprochen hat, heißt es nun ganz ausdrücklich: „Da sprach er zu ihnen allen: Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach." (Lukas 9)
Wenn wir nun das Wort täglich in unsere Betrachtungen mit einbeziehen, können wir die eingangs aufgezählten Fälle noch einmal unter die Lupe nehmen. Wenn wir nämlich mit der richtigen Auffassung vom Kreuz tragen an solche Aufgaben herangehen, dann sieht das so aus:
Wir sollen eine chronische Krankheit nicht demütig ertragen, sondern mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln gegen sie rebellieren. Das Kreuz tragen heißt hier nicht ertragen, sondern ausarbeiten, also Heilung suchen.
Wir sollen nicht an einem ungeliebten Arbeitsplatz ausharren, sondern wir sollten uns täglich fragen, ob wir etwas verbessern können, entweder an den äußeren Umständen oder an unserer eigenen inneren Einstellung. Wenn beides überdacht ist, dann könnte sich sogar herausstellen, dass ein Wechsel die richtige Lösung ist.
Wir sollen nicht bis zum bitteren Ende an einer unglücklichen Beziehung festhalten, sondern wir sollten täglich daran arbeiten, unseren rechten Platz zu finden und einzunehmen. Wenn wir erkennen, dass er innerhalb dieser Beziehung liegt, dann sollten wir täglich mehr zur Harmonie dieser Beziehung beitragen. Wenn wir glauben, dass er außerhalb liegt, dann kann das Kreuz vielleicht bedeuten, dass wir sie beenden müssen.
In allen genannten Fällen, wie ganz grundsätzlich beim Kreuz auf sich nehmen, geht es nicht so sehr darum, zu welchem Ende eine Sache kommt, sondern dass das Gute den Sieg erringt. Dass wir unsere Auferstehung erleben. Täglich. In jedem Moment.
Zitate zum Thema „Kreuz" aus Wissenschaft und Gesundheit:
9:15 Wir müssen ein Kreuz auf uns nehmen, bevor wir die Früchte unserer Hoffnung und unseres Glaubens genießen können.
15:18 Wir müssen uns entschließen, das Kreuz auf uns zu nehmen, und uns mit ehrlichem Herzen aufmachen, für Weisheit, Wahrheit und Liebe zu arbeiten und zu wachen.
39:7 Wir brauchen „Christus, den Gekreuzigten". Wir müssen Prüfungen und Selbstverleugnungen wie auch Freuden und Siege haben, bis aller Irrtum zerstört ist.
254:33 Deine guten Werke werden verleumdet werden. Das ist das Kreuz. Nimm es auf dich und trage es, denn durch das Kreuz gewinnst und trägst du die Krone.
