Die Bibel berichtet, dass Simon Petrus bei Jesu Verhaftung sein Schwert zückte und damit einem Knecht des Hohepriesters namens Malchus das Ohr abhieb. Aber Jesus gebot Petrus sofort Einhalt und befahl ihm, sein Schwert wieder zurück in die Scheide zu stecken (siehe Johannes 18:1–11). Daraufhin berührte Jesus das Ohr des Malchus und heilte ihn (siehe Lukas 22:51). Für mich enthält dieser Bericht eine tiefe Lehre in Sachen Liebe und Vergebung, die sich jeder von uns im Alltag zunutze machen kann. Mir wurde dies so richtig vor drei Jahren bewusst, als es an meiner Universität zu einem Zwischenfall kam.
Im August 2012 saß ich gerade in einer Prüfung, als plötzlich einer der Fachbereichsleiter den Raum betrat. Schnurstracks kam er auf mich zu und begann zu schimpfen, weil ich meine Schultasche noch bei mir hatte. Ich versicherte ihm, dass es ein Versehen war. Als ich aufstand, um sie woanders abzustellen, sagte er, dass die Tasche beweise, dass ich geschummelt hätte (obgleich sie fest verschlossen gewesen war). Er nahm meinen Testbogen und schrieb mit roter Tinte „SCHUMMLER“ darauf. Vor allen Kommilitonen protestierte ich vehement gegen diese Behandlung. Ich war sehr aufgebracht und wütend auf ihn.
Kurz darauf wurde ich, wie es die Prüfungsordnung der Universität vorschreibt, von einem diensthabenden Polizisten vernommen, und die Vernehmung wurde aufgezeichnet. Ich erklärte ihm genau, wie sich alles zugetragen hatte. Der Polizist, der es gut mit mir meinte, schlug vor, ich solle doch zugeben, dass ich geschummelt hätte. Dann könne er bei dem Fachbereichsleiter ein gutes Wort für mich einlegen. Ich weigerte mich aber strikt, diesen Vorschlag auch nur in Erwägung zu ziehen.
Ich wusste, dass ich über diese Angelegenheit beten konnte, so wie ich es in der Sonntagsschule der Christlichen Wissenschaft gelernt hatte. Aber durch einen Anflug von Selbstgerechtigkeit, die mir einredete, ich hätte es nicht nötig zu beten, ließ ich mich zunächst davon abhalten.
Zuhause angekommen lauschte ich schließlich doch auf „die ‚stille, sanfte Stimme‘ der Wahrheit“ (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, S. 323). Ich wandte mich an Gott und begann zu beten. Hilfreich fand ich in diesem Zusammenhang u. a. das neunte Gebot; es lautet: „Du sollst nicht falsche Zeugenaussage machen gegen deinen Nächsten“ (2. Mose 20:16). Diese Worte bildeten die Grundlage für mein Gebet und halfen mir verstehen, weshalb niemand eine falsche Aussage gegen meine geistige Identität als das Kind Gottes vorbringen kann. Ich betete, um zu erkennen, dass dieser Fachbereichsleiter – mein Nächster – nur Gutes über mich wissen konnte, denn Gott ist das einzige Gemüt. Er konnte nichts als die Vollkommenheit in mir sehen, da es nur ein Gemüt gibt, das wir alle widerspiegeln.
Ich machte mir außerdem klar, dass wir, wie es in Wissenschaft und Gesundheit heißt, „das Bild der Liebe“ sind: „Der Mensch ist Idee, das Bild der Liebe; er ist kein physischer Organismus“ (S. 475).
Das wichtigste für mich war jedoch der Schritt, dem Fachbereichsleiter zu vergeben und ihm liebevoll zu begegnen. Durch die Christliche Wissenschaft habe ich gelernt, dass wahre Vergebung göttlich ist und die Sünde zerstört (siehe ebd., S. 339). Sie vertreibt Traurigkeit und Groll, Wut und Schuldgefühle. Wenn man vergibt, gewinnt man wieder die Kontrolle – man steckt sozusagen sein „Schwert in die Scheide“. Andererseits ruft Mary Baker Eddy die Christlichen Wissenschaftler dazu auf, das „Schwert des Geistes“ zu ergreifen. Sie formuliert es folgendermaßen: „Meine Schüler stehen am Anfang ihrer Demonstration; sie haben einen langen Kampf mit dem Irrtum in sich und in anderen auszufechten, und in diesem Stadium müssen sie das Schwert des Geistes benutzen“ (Vermischte Schriften 1883–1896, S. 215). Nachdem ich ernsthaft gebetet hatte, gelang es mir, dem Fachbereichsleiter von ganzem Herzen zu vergeben. Indem ich erkannte, dass seine wahre Identität geistig ist, wurde mir immer klarer, dass jeder von uns als das Kind Gottes ein individueller und göttlicher Ausdruck und fähig ist, Liebe, Güte und Frieden auszudrücken und Gutes zu tun.
Zwei Tage darauf kam ebendieser Fachbereichsleiter in den Hörsaal, in dem wir eine weitere Prüfung schrieben, und entschuldigte sich zur großen Überraschung aller Anwesenden für sein Verhalten mir gegenüber. Ich durfte die verpasste Prüfung dann im Oktober desselben Jahres nachholen.
Diese Erfahrung bedeutet mir sehr viel. Es ist nicht nötig, das Schwert der Wut oder der Vergeltung, des Hasses oder des Grolls zu ziehen. Nur Liebe kann dem Herzen Frieden bringen und alles harmonisch fügen.
