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Treue im Kleinen.

Aus der September 1908-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Es muß einem jeden aufmerksamen Bibelforscher beim Lesen der Geschichte Davids der Umstand auffallen, daß David zu Hause war und seines Vaters Schafe hütete, als er auf ein wichtigeres Arbeitsfeld gerufen wurde. Es gab wohl keine bescheidenere Arbeit für ihn als diese, und dieselbe bot ihm scheinbar die allerwenigste Gelegenheit zu einem aktiven Angriff auf die Feinde seines Volkes. Mancher Jüngling, der weit weniger Mut besaß als David, hätte wohl an seiner Stelle Einspruch erhoben, als die Brüder ohne ihn in den Krieg zogen; wir lesen jedoch nicht, daß David etwa protestiert hätte und seiner Pflicht untreu geworden wäre. Wie aus seinen Worten vor König Saul klar ersichtlich ist, blieb er gewissenhaft bei seiner Arbeit. Obgleich er dem biblischen Bericht nach bloß ein Jüngling war, so hatte er doch einen genügenden Grad der Erkenntnis der Allgegenwart und Allmacht Gottes erlangt, um sich „von dem Löwen und Bären” erretten zu können. Er war daher zu etwas Höherem fähig als zur friedlichen Beschäftigung des Schafehütens an sonnigen Hügelabhängen. Wir sehen das klar ein, und vielleicht kam ihm zuweilen derselbe Gedanke; jedoch haben wir hier entschieden nur den einen Punkt zu erwägen: er tat seine Pflicht.

Diese einfache Erzählung wird sehr interessant, wenn wir ihre tiefere Bedeutung erkennen; wenn wir sehen, daß sie nicht bloß die Lebensgeschichte eines längstverstorbenen israelitischen Königs repräsentiert, sondern daß sie uns in einen Gedankenzustand hineinblicken läßt, der so alt ist wie die Hügel von Judäa. Es gibt nichts Neues unter der Sonne; deshalb finden sich noch andere Leute außer David, welche wohl manchmal die Notwendigkeit ihres Zuhausebleibens, um die wenigen Schafe in der Wildnis zu hüten, für ein Unrecht halten mögen, und welche lieber bei ihren Brüdern im dichtesten Kampfgewühl sein möchten. Das geduldige Warten fällt uns oft recht schwer. Unsere Führerin erinnert uns daran, daß „eine jede Stunde des Wartens” Gott gehört („Miscellaneous Writings,“ S. 389). Es sollte uns stets ein Trost sein, wenn wir daran denken, daß David in diesen Stunden „des Wartens” die Aufgabe lernte, welche ihm seine späteren siegreichen Kämpfe ermöglichte.

Zu Anfang meiner Bekanntschaft mit der Christian Science hatte ich gar wunderbare Träume in Bezug auf die Hilfe, die ich „einer müden, schlafenden und gefesselten Welt” bringen wollte. Ich war bereit, die wenigen mir anvertrauten Schafe ohne weiteres zu verlassen und dachte nicht daran, was aus ihnen werden würde. Ich wollte die einfachen, alltäglichen Pflichten, die ich ja doch schon so lange erfüllt hatte, einfach beiseite legen, um den Brüdern, welche bereits gegen den Riesen Goliath ausgezogen waren, nachzulaufen. Aber die göttliche Liebe wußte besser als ich, was zu meinem Heil diente. Ich hatte mich noch nicht genug im Gebrauch meiner Hirtenschleuder geübt. Anstatt den Riesen Goliath vor den Augen des ganzen Israel auf eine eklatante Weise zu bekämpfen, mußte ich in die Wildnis zurückkehren, um da, allein mit Gott, einen weit gefährlicheren Feind zu überwinden, nämlich mein eigenes ehrgeiziges, stolzes und ungeduldiges Ich mit seiner Armee von falschen Begriffen. David mußte den Löwen und den Bären erlegen, ehe er den Philister besiegen konnte. Ebenso muß der irrtümliche Glaube an die Materia Medica, und an die falsche Theologie aus dem Bewußtsein entfernt werden, ehe wir dem stärkeren Feind, dem Goliath des Glaubens an die Materie, mutig begegnen können. David trat nur mit seiner Schleuder bewaffnet und „im Namen des Herrn Zebaoth” vor den Philister. „Fünf glatte Steine” widerlegten das Zeugnis der fünf Sinne und erwiesen sich als ein genügender Schutz gegen die riesige Anmaßung, daß das wahre Leben in der Materie wohne. Wie auf jenem Schlachtfelde, so stehen auch heute noch das geistige Verständnis und der Glaube an die Materie einander gegenüber. Die geistige Idee rückt gegen das Materielle zu Felde; sie kämpft mit dem Sterblichen im menschlichen Bewußtsein, das von dem nutzlosen Panzer der falschen Erziehung der Jahrhunderte niedergedrückt wird. Das Ergebnis dieses heiligen Krieges ist die Selbstzerstörung des Irrtums. Es wird dem Goliath mit seinem eigenen Schwert — mit seinem Vertrauen auf das Materielle — der Todesstoß gegeben.

„Die Waffen unserer Ritterschaft sind nicht fleischlich”; wenn wir aber deren Gebrauch lernen, o wie köstlich sind dann die Stunden „des Wartens.” Das Heim, das Geschäftsbureau, der Kaufladen oder die Werkstatt mögen wohl die Bedeutung einer Wildnis für uns haben, und unsere einfachen, alltäglichen Pflichten, gegen die sich unser neuerwachter Arbeitseifer auflehnt, sind vielleicht die „wenigen Schafe.” Der Irrtum flüstert uns zu: „Derartige Dinge solltest Du nicht mehr tun müssen. Du bist zu etwas Besserem fähig.” O, wie schön klingen doch diese Schmeichelworte! Fürwahr, „die Schlange war listiger, denn alle Thiere auf dem Felde.” Wie verhalten wir uns diesen Einflüsterungen gegenüber? Lassen wir ohne weiteres unseren Hirtenstab fallen, und „rennen” wir „eifrig umher” („Miscellaneous Writings,“ S. 230), um Arbeit zu suchen, die unseren Fähigkeiten so ganz besonders angemessen ist? Sollten wir dieser Versuchung nicht lieber entschieden den Rücken zuwenden? Gewiß! Wir wollen antworten: „Ja, ich bin zu etwas Besserem fähig; aber ich beweise das nur dadurch, daß ich zuerst die mir bevorstehenden Pflichten getreulich erfülle; dadurch, daß ich die Aufgaben lerne, die mich mein himmlischer Vater täglich, stündlich lehren will, nämlich Geduld, Selbstverleugnung, Gehorsam und Liebe.”

Wie klein werden wir doch in unseren eigenen Augen, wenn wir anfangen uns so zu sehen, wie Gott uns sieht, und wenn wir auch nur einigermaßen begreifen, wie viel wir noch zu lernen haben! Wir erkennen dann sehr bald den Unterschied zwischen der törichten Ruhmsucht und dem regen Eifer, welcher sich stets da zeigt, wo ein Erwachen aus „der Erde dumpfer Ruhe,” wie sich unsere Führerin ausdrückt, stattgefunden hat („Miscellaneous Writings,“ S. 398). Wir müssen so weit kommen, daß wir ohne Murren den letzten Sitz in der Synagoge einnehmen können; daß wir es uns gefallen lassen, wenn man uns als einen der Geringsten ansieht, selbst wenn wir unserer Meinung nach gute Fortschritte gemacht haben; daß wir da bereitwillig folgen, wo wir einstmals die Stellung eines Führers einnehmen wollten. Wir müssen einsehen lernen, daß wir für keine ehrenhafte Arbeit zu gut oder zu nobel sind. Wenn uns andere bemitleiden, dürfen wir uns nicht beleidigt fühlen. Unsere scheinbaren Mißerfolge dürfen uns nicht mutlos, unsere Erfolge nicht hochmütig machen. Es darf uns kein Verweis zum Zorn reizen und kein Lob mit Stolz erfüllen. Wir müssen die gute Arbeit anderer neidlos anerkennen, gegen ihre Fehler nachsichtig sein, verdienten Tadel mit Dank und unverdienten mit Geduld annehmen, vergeben und vergessen und uns stets empfangener Wohltaten erinnern. Wenn wir zurückgelassen werden, dürfen wir uns nicht beklagen. Ungerechtes Urteil darf keine Selbstbemitleidung in uns erwecken. Falls man uns beleidigt, müssen wir an den denken der „nicht auf Ein Wort” antwortete. Es darf uns nicht kränken, wenn die Welt kopfschüttelnd an uns vorbeigeht, da wir ja wissen, daß Gott uns versteht. Unser Gebet muß eine klare Vergegenwärtigung der Tatsache sein, daß alles Gute, das wir uns wünschen, bereits in unserem Besitz ist. Wir müssen einsehen, daß es nichts zu vergeben gibt; dann vergeben wir auf die rechte Weise. Es muß uns klar werden, daß wir nur dann erfolgreich arbeiten, wenn wir die Nichtigkeit unserer eigenen Kraft und die Allmacht Gottes, „der in” uns „wirket,” erkennen. Wir müssen nicht aus bloßem Pflichtgefühl, sondern vielmehr mit freudigem Herzen unseres Vaters Schafe weiden, weil es sein „Wohlgefallen” ist. Und als schwerste Aufgabe von allen muß ein jeder von uns lernen, sich nicht zu beklagen, wenn auch der Schafe „so wenige” sind.

Es hat jemand das christliche Leben in folgenden Worten kurz und bündig charakterisiert: „Das christliche Leben besteht darin, daß man immer im Dienste Gottes tätig ist und sich keine Sorgen macht, selbst wenn die Dienstleistungen klein sind.” Ist auch ein Tag so eintönig wie der andere, und nehmen auch die Kleinigkeiten des Lebens die Zeit in Anspruch, welche wir gerne höheren Zwecken widmen möchten: dennoch dürfen wir nicht ungeduldig werden. Vielleicht machen wir dann und wann mitten in einer widerwärtigen Arbeit eine Pause, um auf das Triumphgeschrei unserer kämpfenden Brüder zu horchen und fragen dann, warum die Arbeit, welche uns Gott angewiesen hat, so ganz anderer Art ist als diejenige, welche wir uns ausgesucht hätten. Im nächsten Augenblick gehen wir jedoch wieder ans Werk und erklären: „Es gibt keine widerwärtige Arbeit, denn Gott ist der Geber aller Dinge.” Und dann — o Wunder der Liebe! — erreichen wir endlich den Zeitpunkt, da uns unsere Umgebung nicht mehr als eine Wildnis erscheint, sondern da „das Gefilde wird fröhlich stehen, und wird blühen wie die Lilien.” Auf solch herrliche Weise führt uns Gott heraus aus der Wildnis. Was aus unserem Bewußtsein verschwunden ist, kann uns nicht länger fesseln. Wir verlieren es, wie David es verlor, nämlich in dem Maß wie sich das höhere Bewußtsein des Lebens und der Liebe entfaltet.

Ich stelle mir gerne im Geiste den längstvergangenen denkwürdigen Tag vor, an dem sich der schlichte Schäferknabe in den König seines Volkes verwandelte; wie er all die einfachen, langweiligen Pflichten des Tages erfüllt hatte und nun zu Sonnenuntergang, den Schäferstab in der Hand, seine Herde mit der altgewohnten Treue und Sorgfalt zu der Hürde zurückführte. Ich kann es mir vergegenwärtigen, wie seines Vaters Bote auf ihn zuritt, und sehe sein freudestrahlendes Antlitz, als er den Ruf vernahm, den er schon so lange erwartet hatte. Auf eine ähnliche, angenehm-überraschende Weise wird einem jeden von uns die goldene Stunde schlagen. Wie nahe sie herangerückt sein mag, können wir nicht beurteilen. Wir sollten uns auch nicht einen Augenblick diesbezüglichen Grübeleien hingeben, denn Gott, „der Allwissende, Allsehende, Allwaltende und Allweise” („Science and Health,“ S. 587) sorgt für uns. Wir haben weiter nichts zu tun als mit unserer jetzigen Arbeit ruhig fortzufahren, dieselbe so gut als nur möglich zu verrichten und uns klar bewußt zu werden, daß etwas Besseres für uns bereit stehen wird, sobald wir für etwas Besseres bereit sind. Solches bewirkt das Gesetz der Liebe. Und wenn wir dann eines Tages mit dem Hirtenstab in der Hand und mit einem stets harmonischen und lauschenden Herzen zu der Hürde zurückkehren, wird ganz unerwartet der Ruf unseres Vaters an uns ergehen: „Du bist über Wenigem getreu gewesen; ich will dich über Viel setzen.”


Wer erst im Kleinen untreu wird, von dem kann man sicher voraussetzen, daß er nach einiger Zeit auch das Große versäumen wird.

Willst das Große du erreichen,
Fange mit dem Kleinen an;
Deine Tadler werden schweigen,
Ist das Kleine groß getan.

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