Die Aussage der Bibel „Auge um Auge, Zahn um Zahn" ist schon seit langem im allgemeinen Sprachgebrauch angekommen und hat längst sprichwörtlichen Charakter angenommen. Meistens wird sie im Sinne von „Wie du mir, so ich dir" verstanden. Das ist aber nur bedingt richtig, denn es geht eigentlich nicht darum, dass ein Geschädigter zur Rache gegen seinen Widersacher aufgerufen wird, sondern es geht vielmehr darum, dass ein faires Verhältnis zwischen Straftat und Strafe hergestellt wird.
Schauen wir uns doch mal an, wo diese Regel ihren Ursprung hat. In der Bibel finden wir sie zum ersten Mal im 2. Buch Mose. Dort lesen wir, dass Gott, nachdem er dem Mose die Zehn Gebote gegeben hatte, ihm darüber hinaus „Rechtsverordnungen" diktiert hat, die dieser dem Volk „vorlegen" sollte. Darin werden die verschiedensten Schadensfälle sehr detailliert geregelt. Unter anderem eben auch, wie bei „Vergehen gegen Leib und Leben von Menschen" zu verfahren ist. Da heißt es dann wörtlich: „... entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde." (Kap. 21)
Historisch befinden wir uns mit dem 2. Buch Mose, das über den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten berichtet, etwa im 14. bzw. 13. Jahrhundert vor Christus. In dieser Zeit lebten die Menschen überwiegend in Sippen und Stämmen zusammen. Damals konnte es recht schnell geschehen, dass aus einem einzelnen Todesfall eine Eskalation von Gewalt entstand. Wenn einer einen anderen getötet hatte (und selbst wenn es sich um einen Unfall handelte), verlangten die Angehörigen des Getöteten unter Umständen den Tod aller männlichen Angehörigen des Täters und so etwas konnte sich durchaus zu einem Stammeskrieg ausweiten.
Die Rechtsverordnung „Auge um Auge" sollte dazu dienen, die hemmungslose Blutrache zu überwinden. In diesem so genannten „Talionsgesetz Gottes" wird geregelt, dass nicht zwei Augen für eines, nicht zwei Zähne für einen, nicht zwei Leben für eines gefordert werden dürfen. Die Devise könnte also heißen: Gerechtigkeit statt Hass. Wenn wir also bedenken, in welcher Zeit wir uns befinden, dann können wir die Großartigkeit dieser Verordnung nur bewundern. Das Talionsgesetz begrenzt die Vergeltung. Es fordert eine faire Vergeltung, die Strafe soll im rechten Verhältnis zur Tat stehen.
Selbst unsere heutige Rechtsprechung geht letztendlich auf dieses „Lex Talionis" zurück. Sowohl inhaltlich als auch organisatorisch. Denn was für diese frühe Zeit besonders bemerkenswert ist: Es gab von Anfang an auch die Möglichkeit so genannter Ersatzleistungen. Das eröffnete dem Geschädigten die Möglichkeit, sich von dritter Stelle helfen zu lassen. Man musste nicht mehr unbedingt selbst zur Tat schreiten, um sein Recht zu erhalten, sondern man konnte sich an eine, wie auch immer geartete, Gerichtsbarkeit wenden.
Die Rechtsverordnung „Auge um Auge" sollte dazu dienen, die hemmungslose Blutrache zu überwinden. In diesem so genannten „Talionsgesetz Gottes" wird geregelt, dass nicht zwei Augen für eines, nicht zwei Zähne für einen, nicht zwei Leben für eines gefordert werden dürfen.
Wer sich allerdings jemals in einem Rechtsstreit befunden hat, der weiß, dass einen die Dinge doch sehr beschäftigen können, selbst wenn man seine Sache einem Anwalt oder dem Gericht übergeben hat. Der Groll begleitet einen unter Umständen während der ganzen Zeit des Verfahrens. Ganz zu schweigen von der Sorge, die durch die Ungewissheit entsteht, ob die Sache auch wirklich zu einem gerechten Ende kommen wird. Wer dem entkommen möchte, dem sei Jesu Betrachtungsweise ans Herz gelegt. Er greift nämlich dieses Gesetz auf und hebt es auf eine höhere Ebene. Er formuliert es so:
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist [...]: 'Auge um Auge, Zahn um Zahn.' Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will." (Matthäus 5)
Ebenso wie das Talionsgesetz häufig falsch interpretiert wird, so wird auch Jesu Auslegung ‚gerne‘ missverstanden. Schauen wir uns einmal im Einzelnen an, was Jesus gesagt hat und was er nicht gesagt hat. Er hat nicht gesagt, dass Straftaten nicht verfolgt werden sollen, er hat auch nicht gesagt, dass man Diebe, Räuber oder Mörder nicht vor Gericht bringen soll. Jesus beginnt seine Aufzählung mit dem Wort Übel; er rät seinen Nachfolgern, sich dem Übel, das andere ihnen zufügen wollen, nicht zu widersetzen. Und dann zählt er beispielhaft einige solcher Übel auf, nämlich erstens Beleidigung oder Kränkung, zweitens unnötige Rechtshändel und drittens anmaßende Forderungen.
Man könnte seine Ratschläge so auslegen: „Überlegt es euch gut, ob es wirklich sinnvoll und nötig ist, in jedem Fall auf eurem Recht zu bestehen. Was bringt es euch denn, wenn ihr auf Vergeltung besteht? Überlegt doch erst mal, ob euch das tatsächlich irgendetwas einbringt. Das ist nämlich nicht immer der Fall! Deshalb ist es doch besser, dass ihr nicht unnötig darauf reagiert, wenn euch jemand schaden möchte. Hört doch einfach auf mit dem ganzen ‚Wie du mir, so ich dir‘! Lasst das alles sein. Bleibt gelassen. Seid großzügig!"
Das ist nämlich das Geheimnis. Es geht nicht darum, sich einfach alles gefallen zu lassen, sondern es geht darum, großzügig zu sein, keinen Groll aufkommen zu lassen und vor allem, nicht nachtragend zu sein. Jesus gibt seinen Nachfolgern hier eine Anleitung, wie sie auf Kränkungen und Beleidigungen reagieren können, nämlich mit innerer Gelassenheit. Er gibt den Rat, ruhig mal lächelnd und zuvorkommend dem Ansinnen eines anderen nachzukommen, selbst wenn es vielleicht etwas überzogen ist.
Das Talionsgesetz begrenzt die Vergeltung. Es fordert eine faire Vergeltung, die Strafe soll im rechten Verhältnis zur Tat stehen. Selbst unsere heutige Rechtsprechung geht letztendlich auf dieses „Lex Talionis" zurück.
Allerdings empfiehlt er keineswegs, dass man ängstlich zurückstecken soll. Jesus beschreibt einen grundsätzlich anderen Ansatz. Er sagt, dass man sich weigern soll, das eigene Denken und Handeln von der Bosheit eines anderen bestimmen zu lassen. Jesus zeigt seinen Nachfolgern, wie sie sich viel besser gegen Bosheit zur Wehr setzen können. Man könnte Jesu Worte auch so deuten: „Lass doch nicht zu, dass das unrechte Handeln eines anderen dein Fühlen so sehr gefangen hält, dass du gar nichts anderes mehr denken kannst. Halte dein Denken rein, dann wird es dir viel besser gehen, denn dann behältst du deine innere Ruhe!"
Man könnte Jesu Worte so zusammenfassen: Auch wenn dich jemand angreift: Du hast das Recht, deinen inneren Frieden zu bewahren!
Diese geniale Auslegung des Lex Talionis durch Jesus wurde von Mary Baker Eddy aufgegriffen. Sie hat sie für sich überprüft und für uns in weiterführende Worte gefasst. In dem Aufsatz „Beleidigtsein" schreibt sie unter anderem: „Es ist unser Stolz, der die Kritik eines anderen kränkend macht, unser Eigenwille, der eines anderen Handlung beleidigend macht, unsere Selbstsucht, die sich durch eine Anmaßung verletzt fühlt." (Vermischte Schriften, S. 224)
In dem gleichen Artikel rät sie des Weiteren zu „größter Geduld, heiterer Gelassenheit ... gefestigtem Gleichmut ... einer Liebe, weit genug, die Übel der ganzen Welt zu bedecken ...", und sie fordert uns auf, „uns weder durch unbeabsichtigtes noch selbst durch beabsichtigtes Unrecht verletzen zu lassen ..." (ebd.)
Die Autorin weiß, wovon sie spricht. Sie hat es selbst erleben müssen, dass ehemalige Schüler, ja auch angebliche Freunde und sogar Familienangehörige diverse Gerichtsverfahren gegen sie angestrengt haben. Sie hat alle Angriffe dieser Art erfolgreich abgewehrt; das heißt, sie hat alle Prozesse gewonnen und ist sich dennoch dabei immer treu geblieben. Allerdings hat sie diese Prozesse nicht geführt, um ein persönliches Interesse zu verteidigen, sondern um ihre Entdeckung, die Christliche Wissenschaft, zu schützen. Um „ihrer Bewegung" willen hat sie diese Herausforderungen angenommen — und wir wissen, dass sie allen Beteiligten immer liebevoll begegnet ist. Selbst denjenigen, die ihr ganz offensichtlich Schaden zufügen wollten, hat sie unerschütterliche Liebe entgegengebracht.
Das bedeutet, dass sie auch das beherzigt hat, was Jesus als weitere Forderung an seine Jünger formulierte, nämlich: „Liebt eure Feinde" (Matthäus 5). Während Jesu oben erwähnter Ratschlag, sich dem Übel nicht zu widersetzen, noch ein gewisses Eigeninteresse beinhaltet, nämlich sich in bestimmten Situationen klug und sanft zu verhalten, eröffnet diese weiterführende Empfehlung einen viel weiteren Horizont. Sie besagt nämlich, dass es eigentlich gar nichts geben sollte, was uns aus einem Status des generellen Wohlwollens herausbringen könnte.
Um diesem verheißungsvollen Ziel näher zu kommen, empfiehlt Eddy ihren Nachfolgern, „so zu leben, dass das menschliche Bewusstsein ständig in Verbindung mit dem Göttlichen, dem Geistigen und dem Ewigen bleibt, ..." (Erste Kirche Christi, Wissenschaftler, und Verschiedenes, S. 160). Auch sie rät also, dass wir eine bedingungslose Liebe in uns aufrichten und uns durch nichts und niemanden aus diesem Zustand herausreizen lassen sollen. Und genau wie Jesus beließ auch sie es nicht dabei, schöne Gedanken weiterzugeben, sondern auch sie lebte, was sie predigte.
In dem Buch „In My True Light and Life" lesen wir auf Seite 507: Eddy beschrieb einmal einer Schülerin [Abigail Dyer Thompson] ihre heilende Arbeit: „Ich sah die Liebe Gottes das Universum und den Menschen umfassen, allen Raum füllend, und diese göttliche Liebe durchdrang so sehr mein eigenes Bewusstsein, dass ich alles, was ich sah, mit Christ-gleichem Mitgefühl liebte. Diese Vergegenwärtigung der göttlichen Liebe brachte, die Schönheit der Heiligkeit, die Vollkommenheit des Seins' zum Ausdruck, und heilte und erneuerte und rettete alle, die sich um Hilfe an mich wandten."
An vielen Stellen in ihren Werken weist sie wiederholt auf die Notwendigkeit dieser Grundhaltung hin und zwar in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Stellvertretend für all diese Zitate, in denen sie uns diese unerschütterliche Liebe sozusagen ans Herz legt, sei ein Zitat aus dem Kirchenhandbuch erwähnt. Diese Aussage war ihr so wichtig, dass sie verfügte, dass sie ein Mal pro Monat in den Gottesdiensten ihrer Kirche verlesen werden sollte. Sie schreibt:
„Weder Feindseligkeit noch rein persönliche Zuneigung sollte der Antrieb zu den Beweggründen oder Handlungen der Mitglieder Der Mutterkirche sein. In der Wissenschaft regiert allein die göttliche Liebe den Menschen;" (S. 40).
Das heißt letztendlich: Erhebe dich über die menschliche Form der Liebe. Versuche die göttliche Liebe zu erkennen. Dann fülle dein Denken so sehr mit dieser göttlichen Liebe, dass nichts anderes eindringen kann. Und aus diesem Zustand der unendlichen Liebe lass dich durch nichts herausbringen. Kurz gesagt: Bleibe in der Liebe.
