Wenn ich die Nachrichten schaue, von Hass, Gewalt, Rache und Terror höre oder lese, dann frage ich mich oft, wie ich zur Versöhnung beitragen kann. Dabei hilft mir die Geschichte aus der Bibel von Jakob und Esau. Diese Zwillingsbrüder haben vor ungefähr 3500-4000 Jahren im Gebiet des heutigen Nahen Ostens gelebt. Jakob hatte Esau überlistet und ihm sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht abgekauft. Und dann hat er sich auch noch als Esau ausgegeben, wodurch der erblindete Vater Isaak dem Jakob den Erstgeborenensegen gab. Eigentlich war Esau der Erstgeborene und hätte traditionsgemäß den Segen bekommen sollen. Die Bibel berichtet hier: „Esau sprach zu seinem Vater: ‚Hast du denn nur einen Segen, mein Vater? Segne mich auch, mein Vater!‘ Und Esau erhob seine Stimme und weinte.“ (1. Mose 27:38) Dieser tiefe Kummer, das Gefühl, betrogen, weniger geachtet, weniger geliebt, weniger wert zu sein, wurde zu einem geeigneten Nährboden für Hassgedanken, die in seinem Denken schnell in Mordplänen aufgingen.
Esau plante, seinen Bruder umzubringen. Doch die Geschichte hat ein Happy End: Die beiden versöhnen sich nach Jahren wieder. Wenn ich darüber nachdenke, was ich daraus lernen kann, damit auch heute Versöhnung da möglich wird, wo Unrecht, Betrug, Gemeinheit, verletzte Gefühle, Hass und Furcht das Denken augenscheinlich beherrschen, dann hallt der Ruf „Segne mich auch, mein Vater!“ in meinen Ohren wider.
Vor dem Hass stand bei Esau der Wunsch, gesegnet zu sein. Warum ist es so wichtig, gesegnet zu sein? Zur Zeit der Patriarchen war der Segen des Vaters die Basis für Erfolg, Versorgung und Ansehen.
Ist heute ein Segen noch wesentlich? Wir möchten glücklich sein, geliebt, anerkannt und wertgeachtet. Wir möchten gebraucht werden. Das ist genau, was gesegnet sein meint.
Manchmal sind wir uns dieser Grundbedürfnisse, gesegnet zu sein, gar nicht mehr bewusst. Vielleicht haben wir sie unter einer Deckschicht aus Frust, Wut oder auch Hass zugeschüttet? Es tut mitunter gut, sich bestehende Wünsche und damit verbundene innere Triebkräfte bewusst zu machen, den Mut zu finden zu der Selbsterkenntnis: „Ja, das wünsche ich mir, ich möchte gesegnet sein.“ Vor Hass und Mordplänen steht auch heute oft der unausgesprochene Aufschrei: „Segne mich auch, mein Vater!“
Ist jeder gesegnet? Der Verfasser des Briefs an die Epheser in der Bibel gibt folgende Antwort: „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus. Denn in ihm hat er uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten; in seiner Liebe hat er uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein …“ (Epheser 1:3-5, nach der Lutherbibel 1984).
Der Mensch – alle Männer, Frauen und Kinder – ist grundsätzlich durch Gott gesegnet.
Diesen Segen hat unsere Familie mit einem unserer Söhne kurz nach seiner Einschulung erlebt. Schon gleich in den ersten Wochen kam es wiederholt zu üblen Streitszenen in der Schule. Ein Junge fiel dabei immer wieder durch sehr unbeherrschtes Benehmen auf, das so weit ging, dass er manchmal vor Wut sogar sein Pult umschmiss. Unser Sohn merkte bald, dass dieser Junge überhaupt nicht beliebt war, keiner mochte ihn, überall hatte er schnell Probleme wegen seiner Wutausbrüche. Alle Bemühungen, ihn in die Klassengemeinschaft zu integrieren, schienen wirkungslos. Unser Sohn erzählte zu Hause oft von den Vorfällen und wir sahen die Notwendigkeit, gemeinsam zu beten. Dabei wurde uns klar, dass der Junge mit seinem auffälligen Verhalten eigentlich um Liebe schreit, ja er wollte sich geliebt fühlen und auch gesegnet sein. Wir erfuhren, dass seine Eltern vorhatten, sich scheiden zu lassen.
In unserem Gebet erkannten wir an, dass Gott alle Mitglieder dieser Familie liebt und als Seine Kinder, Sein Ausdruck, immer nur segnen kann. An dieser Idee galt es, entgegen dem äußeren Erscheinungsbild festzuhalten. Gemeinsam mit unserem Sohn fanden wir Trost darin, den Freund in Gottes Liebe geborgen zu wissen, unfähig Hass, Einsamkeit, Zurückweisung zu erleben. Und unser Sohn hielt zu ihm, auch wenn das nicht immer einfach war.
Und der Effekt? Zum Ende des Schuljahres war der Junge in die Klassengemeinschaft integriert. Alle Kinder hielten jetzt zu ihm und halfen ihm, sich nicht provozieren zu lassen. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass dieser Junge richtig gut in Mathe ist und alle in pures Erstaunen versetzt, wie ruhig und konzentriert er in kurzer Zeit die schwierigsten Aufgaben lösen kann. Heute fliegen keine Hefte oder Möbelstücke mehr herum und alle sehen in ihm einen guten Freund.
Wir stellten uns sozusagen als Zeugen für den Segen zur Verfügung! Der Segen kam von Gott, dem göttlichen Prinzip, Geist, der allen Raum erfüllt, alle Macht darstellt und der einzige Schöpfer ist. Gott ist Vater und Mutter von uns allen. Sein Segen ist unser aller Geburtsrecht.
Der Mensch – alle Männer, Frauen und Kinder – ist grundsätzlich durch Gott gesegnet und diese Tatsache ändert sich nicht. Wir alle sind „erwählt“, „untadelig“ und „heilig“, „dazu vorherbestimmt“, für immer ein Gotteskind zu sein. Das ist die Wirklichkeit – im Gegensatz zu dem Bild, das auf der Oberfläche erscheinen mag. Die physischen Sinne betrügen uns, wollen uns den Segen stehlen, uns unsere Gotteskindschaft streitig machen, uns als vom Guten getrennt, arm, sündig, unwissend hinstellen. Erkennen wir diesen Betrugsversuch, wenn uns jemand als unaufrichtig, gemein, brutal und skrupellos erscheint? Wir brauchen einen solchen Betrug nicht zu akzeptieren.
Esau erlebte, dass er doch gesegnet war. Er traf seinen Bruder wieder und konnte ihn lieben, so wie er sich von Gott geliebt fühlte. Aufrichtigen Herzens konnte er Jakob antworten: „Ich habe genug, mein Bruder; behalte, was du hast.“ (1. Mose 33:9)
Mir zeigt Esaus Erfahrung, dass das Verständnis, dass wir alle Söhne und Töchter Gottes sind und Gott alle segnet, egal welcher Religion oder welcher Ideologie jemand anhängt, im Gebet anerkannt und verteidigt werden kann. Im Ergebnis werden Hass und Gewalt geheilt und ihre Auswüchse verhindert. In solchem Gebet liegt ein großes Potenzial, Frieden in unseren Familien, in der Schule und letztlich in der ganzen Welt zu stiften. Wir alle können es nutzen und damit jeden segnen.
