Ein Motorradfahrer und ich waren allein auf einer dreispurigen Straße. Gerade als ich beschloss, ihn zu überholen, fing er an, Kunststücke zu machen, daher verlangsamte ich die Fahrt. Sekunden später hatte er die Kontrolle über sein Motorrad verloren und brauchte alle drei Spuren, um sie zurückzugewinnen. Da ich genug Abstand gehalten hatte, war es kein Problem, noch langsamer zu werden und ihm den Platz zu lassen, den er brauchte. Kurz darauf hatte er das Motorrad wieder unter seiner Gewalt; er drehte sich kurz um, winkte mir ein „Dankeschön“ zu und fuhr davon. Als ich zurückwinkte, murmelte ich: „Ja, ich bin wohl meines Bruders Hüter.“ Im Nachhinein hoffte ich auch, dass er aufhören würde, auf offener Straße Kunststücke zu versuchen.
Ich liebe den Gedanken, meines Bruders Hüter zu sein. Mir ist wichtig, mich meinen Mitmenschen so verbunden zu fühlen, dass ich Anteil an ihrem Wohl nehme, auch wenn ich sie nicht persönlich kenne. Ich betrachte es als Pflicht und als Privileg, dafür Sorge zu tragen, dass andere Hilfe erhalten. Häufig, wie bei meiner Begegnung mit dem Motorradfahrer, ist es keine große Sache. Ein Augenblick der Aufmerksamkeit, ein paar Sekunden und die Bereitschaft, jemandem Platz zu machen, reichen schon. Hinterher bin ich froh.
Doch es gibt Zeiten, wo mehr vonnöten ist. Ein ganz besonderes Beispiel für eines Bruders Hüter ist meiner Meinung nach im fünften Kapitel von 2. Könige in der Bibel zu finden (siehe Vers 1–14). Ein namenloses junges Mädchen erteilt uns eine wertvolle Lektion. Sie war aus Israel nach Syrien verschleppt worden, wo sie im Dienst der Frau des Feldhauptmanns des Königs von Syrien war. Naaman, der Hauptmann, war aussätzig. Wir erfahren, dass das Mädchen sich zu Wort meldet. Sie sagt zu Naamans Frau: „Ach, dass mein Herr doch bei dem Propheten in Samaria wäre! Der würde ihn von seinem Aussatz befreien.“ Sie muss eine gute Beziehung zu der Frau des Hauptmanns gehabt haben, sonst wären ihm ihre Worte sicher nicht zugetragen worden. Doch das wurden sie und er reiste schließlich zu Elisa, dem Propheten, und wurde geheilt.
Man sollte meinen, dass das aus der Heimat verschleppte Mädchen nicht unbedingt einen Grund hatte, gut zu ihren Entführern zu sein. Und doch hat ihre Empfehlung dem Hauptmann das Leben gerettet. Wir erfahren ihren Namen nicht, trotzdem ist ihr immenser Akt der Nächstenliebe in der Bibel verewigt. Sie verkörpert die gute und liebevolle Natur des Menschen als Gottes Bild und Gleichnis. „Gott ist Liebe“ (1. Johannes 4:8), und dieses Mädchen spiegelt diese Liebe auf strahlende Weise wider. Wie sie, spiegeln auch wir – Gottes Bild und Gleichnis – diese Liebe wider und können unser liebevolles Wesen im Alltag zum Ausdruck bringen.
Christus Jesus erklärte, dass die beiden größten Gebote sich auf Gott und den Menschen beziehen (siehe Markus 12:29–31). Das erste Gebot ermahnt uns, nur einen Gott zu haben; das zweite verlangt, dass wir unseren Nächsten lieben wie uns selbst. Somit wird uns aufgetragen, unseres Bruders Hüter zu sein. Wir müssen Liebe praktisch ausdrücken, nicht nur theoretisch. Jesu Liebe zu seinen Mitmenschen befähigte ihn, diejenigen zu heilen, denen er begegnete – er heilte physische Gebrechen und seelische Pein. Unsere eigene Aufgabe ist meist weniger dramatisch, doch scheinbar kleine Gesten können tiefgreifend sein. Wir haben sicher alle schon Geschichten von Leuten gehört, die der Engelsbotschaft nachgegangen sind, dass sie jemanden anrufen oder über eine Sache beten sollen, und dieser Anruf oder das Gebet hielt jemanden davon ab, etwas Drastisches zu tun, oder stellte Hilfe in einem Notfall bereit. Anteilnahme an unseren Mitmenschen kann sehr lohnend sein und Menschen in Not Harmonie und Heilung bescheren.
Vor Jahren äußerte sich eine Frau auf einer Jahresversammlung der Ersten Kirche Christi, Wissenschaftler in Boston, dankbar über eine Dame, die genug geliebt hatte, um die Eltern der Frau mit der Christlichen Wissenschaft bekanntzumachen. Als sie ihre Geschichte erzählte, sagte die Frau mehrmals: „Sie liebte genug.“ Und auf einmal dachte ich: „Ich liebe genug!“ Von da an war ich offener dafür, die Sehnsucht anderer Menschen nach Spiritualität und Antworten zu erkennen. Seitdem habe ich das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, an viele Menschen weitergegeben. Jedes Mal erkläre ich ihnen, dass dieses Buch der größte Schatz ist, den ich kenne, und dass es meinem Leben geistiges Verständnis und Heilung beschert hat. Manche lesen es sofort, manche später, manche gar nicht, doch jeder hat das Buch mit Dankbarkeit für meine Anteilnahme entgegengenommen.
Wenn wir Gott über alles lieben, werden wir ganz natürlich auch Seine Kinder lieben. Wie können wir die Nachkommen unseres himmlischen Vaters nicht lieben, den wir verehren? Und wenn wir Gott und unseren Nächsten lieben, werden wir selbstverständlich alle Gebote halten, die Mose uns gegeben hat (siehe 2. Mose 20:3–17).
Im Lukasevangelium (18:9–14) lesen wir Jesu Gleichnis von einem Pharisäer, der folgendermaßen im Tempel betete: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner“ – womit er einen anderen Mann meinte, der im Tempel betete. In gewisser Weise ist die Selbstgerechtigkeit dieses Pharisäers gut zu verstehen, da er die Regeln für Männer seiner Stellung befolgte, wenn nicht sogar übertraf, darunter zweimal in der Woche zu fasten und den Zehnten zu geben. Und doch stellte Jesus die Einstellung des Mannes als negatives Beispiel dar und sagte: „Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“
Jesus zeigte mit seinem ganzen Leben, dass Demut vonnöten ist, um unseres Bruders Hüter zu sein – andere so zu sehen, wie Gott sie erschaffen hat, und sie entsprechend zu behandeln. Selbstgerechtigkeit steht uns im Weg, statt uns zu helfen.
Die Christliche Wissenschaft, von Mary Baker Eddy entdeckt und gegründet, stellt sehr hohe Anforderungen an die Menschen. Dieser hohe Standard wird aus allen ihren Werken über die Christliche Wissenschaft deutlich. Eines ihrer bekanntesten Gedichte, das auch als Lied vertont wurde, hat folgende Strophe:
Eh’ ihr zerbrecht das schwache Rohr
mit Worten übereilt,
fleht um den Geist, den der erkor,
der uns geliebt, geheilt.
Sucht heil’ges Denken, himmelrein,
um in der Liebe eins zu sein.
(Vermischte Schriften 1883–1896, S. 387)
Mir machen diese Worte bewusst, dass auch in Situationen, wo jemand uns gegenüber lieblose Gedanken oder Worte äußert, unsere Aufgabe darin besteht, heiliges Denken zu suchen, und dass unseres Bruders Hüter zu sein bedeutet, selbst liebevoll zu denken und zu handeln. Jemanden als Gotteskind so zu lieben, dass wir keinen lieblosen Gedanken hegen, und selbst Lieblosigkeiten anderer uns gegenüber völlig loszulassen, ist viel verlangt. Doch genau das befähigte Jesus zu heilen. Er sah Menschen so, wie Gott sie erschaffen hatte: vollkommen, vollständig, intelligent.
Unsere Einstellung anderen gegenüber ist von Bedeutung. Eine Freundin sagte einmal im Kontext, anderen gegenüber nicht kritisch eingestellt zu sein: „Ich werde nicht kritisieren, was zu sein scheint, sondern das beschützen, was wirklich ist.“ Und jemand anderes schrieb über den Wert einer richtigen Einstellung: „Es ist eine Sache, nicht die gemeinen Dinge auszusprechen, die man über andere denkt; es ist eine andere Sache, sie gar nicht erst zu denken“ (Max Strom, A Life Worth Breathing, S. 151).
Wenn man den von Gott geschaffenen Menschen in Gedanken anerkennt, gestattet man dem Christus, der göttlichen Wahrheit, die Jesus vertrat, schädliche oder böswillige Gedanken aufzulösen. Die richtigen Gedanken über andere zu hegen, ist eine wundervolle Art und Weise, unseres Bruders – und unserer Schwester – Hüter zu sein.
Das Leben mit wahrer Liebe zu unseren Mitmenschen zu führen, eröffnet uns viele Gelegenheiten, Gutes zu tun. Mrs. Eddy drückte es in ihrem Buch Vermischte Schriften folgendermaßen aus: „Wir sollten unsere Liebe zu Gott an unserer Liebe zum Menschen messen; und unser Verständnis von der Wissenschaft wird gemessen an unserem Gehorsam Gott gegenüber, indem wir das Gesetz der Liebe erfüllen, allen Gutes tun, allen innerhalb unseres Gedankenbereiches Wahrheit, Leben und Liebe mitteilen, soweit wir selbst sie widerspiegeln“ (S. 12). Jeder gute Gedanke und jede gute Tat bringt die Freude mit sich, Gott und Seine geliebten Kinder wahrhaft zu lieben. Und am Ende sind unsere Brüder und Schwestern vielleicht auch unsere Hüter.