Wohl keine Erzählung ist dem Herzen des Christlichen Wissenschaftlers teurer als die Geschichte von der Befreiung der drei hebräischen Gefangenen aus dem glühenden Ofen Nebukadnezars. Sie ist uns allen und selbst denen, die die Bibel bisher nur gelegentlich gelesen haben, so vertraut, dass sie hier nicht wiederholt zu werden braucht. Indessen hatte ein schon oft erörterte Punkt darin zum mindesten einen Schüler der Christlichen Wissenschaft besonders interessiert, und das ist, dass, nachdem Schadrach, Meschach und Abed-Nego schließlich befreit waren, nicht nur ihre Kleidung unversehrt und ihr Haupthaar nicht versengt war, sondern dass man sogar „keinen Brandgeruch an ihnen riechen“ konnte (Daniel 3:27).
Dass man „keinen Brandgeruch an ihnen riechen“ konnte – das ist die Stelle, an der man in seinem Bestreben, die Heilige Schrift in ihrer wahren geistigen Bedeutung und Tragweite zu verstehen, innehalten dürfte; denn was ist, metaphysisch gesprochen, Brandgeruch? Ist er nicht die Erinnerung an Feuer, dessen Qual, die Erbitterung darüber? Brandgeruch an sich tragen heißt zugeben, dass etwas Böses geschah. Es bedeutet, dass das Böse eine Geschichte hat. Es bedeutet, dass es einmal ein Feuer gegeben hat – obgleich es jetzt gelöscht ist – und wir darin gewesen sind. So hartnäckig scheint diese letzte Schlussfolgerung in unserem Bewusstsein zu haften, dass manch einer unter uns durchs Feuer geht und Jahre danach noch Brandgeruch verbreitet. Wenn das so ist, können wir dann sagen, dass wir wie die drei vor alters unberührt durch die Erfahrung gegangen sind?
Wir wollen uns weigern zuzulassen, dass sich der Irrtum in irgendeiner Art, Form oder Gestalt an uns heftet. Sein Anspruch, einmal wirksam, gegenwärtig, mächtig, intelligent, gesetzmäßig gewesen zu sein oder einen Ursprung gehabt zu haben, ist ein falscher unrechtmäßiger Anspruch; er sollte nur als die letzte verzweifelte Anstrengung des Irrtums gesehen und gehandhabt werden, sich als Annahme in unserer Erinnerung Fortdauer zu verschaffen, weil alles andere fehlschlug. Weigern wir uns, ihm auch nur so weit Leben zu geben! Weigern wir uns zuzugeben, dass das Böse je Anfang oder Ende gehabt hat! Weigern wir uns zuzugeben, dass es auch nur für einen einzigen unseligen Augenblick da war! Das bedeutet natürlich keineswegs, dass wir nicht zur rechten Zeit und am rechten Ort Dankbarkeit für unsere Befreiung von der Irrtumsannahme ausdrücken sollten, in dem lauteren Verlangen, einem anderen zu helfen, der durch eine ähnliche Erfahrung gehen mag. Es bedeutet nur, dass es nicht leicht ist, den Brandgeruch aus unseren Kleidern zu entfernen, wenn wir die Erinnerung an das Geschehen mit uns herumschleppen, wo immer wir sind, unnötig im Stillen darüber brüten, unnötig öffentlich davon sprechen und ein melancholisches Vergnügen darin zu finden scheinen, die unerquicklichen Einzelheiten immer wieder aufzuzählen. Kann der Brandgeruch bei einem solchen Verhalten wirklich von Tag zu Tag abnehmen?
In einer rein geistigen Kriegsführung sollte es einfach darum keine Kriegsversehrten geben, die mit verzeihlichem Stolz auf ihre Narben weisen, weil es, wenn der Kampf richtig geführt worden ist, keine Narben geben wird, die zur Schau gestellt werden könnten. In Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy heißt es (S. 66): „Prüfungen sind Beweise von der Fürsorge Gottes“, und sicherlich stimmt es nicht mit dem Wesen der Liebe überein, dass wir mit einem unvergänglichen Stempel vergangener Leiden gebrandmarkt werden, wenn wir einen Beweis für diese zärtliche Fürsorge erhalten. Gottes Mittel und Wege sind schmerzlos, einfach, sanft, natürlich. Nur unsere Auflehnung gegen eine Lektion, die zu lernen uns so nottut, ruft Leiden hervor. Kleine Kinder in der Schule leiden nicht notwendigerweise und werden nicht für ihr ganzes Leben gezeichnet, nur weil sie von der untersten zur nächsten Klasse aufsteigen. Wir wollen uns weigern, narbengezeichnete Christliche Wissenschaftler zu sein. Wir brauchen es nicht zu sein. Wir wollen einfach Christliche Wissenschaftler sein, die ihre Lektion gelernt haben und höher gestiegen sind.
Indessen hält vielleicht Selbstbedauern am häufigsten den Brandgeruch fest. Wir bemitleiden uns so sehr und vergessen, dass wir dadurch andere bewegen, uns zu bemitleiden, denn wir empfangen gewöhnlich das, wofür wir Abnehmer sind. Jesus sagte: „Es kommt der Fürst der Welt. Er hat keine Macht über mich“ (Johannes 14:30, Lutherbibel 1984). Wenn „der Fürst der Welt“ an der Tür des menschlichen Bewusstseins erscheint, kann er keinen Einlass erwirken, es sei denn, es ist etwas in diesem Bewusstsein, das auf ihn eingeht. Er mag sich immer wieder einstellen; findet er jedoch keinen Widerhall, so wird er des Kommens bald müde werden. Selbst die hartnäckigste Lüge wird nur eine gewisse Zeit lang an eine Tür klopfen, die ihr resolut verschlossen und verriegelt bleibt. Wir wollen den Irrtum müde machen, anstatt uns von ihm müde machen zu lassen.
Was das Bemitleidetwerden betrifft, so gibt es wohl kaum etwas, was dumpfer Lethargie mehr förderlich ist als der Mesmerismus des Mitleids. Menschliches Mitleid neigt dazu, sein Opfer wie eine Schlange zu erwürgen, und nennt dreist diese Umschlingung „Liebe“. Unter ihrem Einfluss ist selbst die hohe, heilige „Mutterliebe“ manchmal zu etwas herabgezogen worden, was man besser „Affenliebe“ nennt. Man gerät jedoch oft unbewusst unter ihren Einfluss, denn sie nimmt jene Form des Bösen an, die am schwersten zu durchschauen ist, nämlich die des Bösen, das im Namen des Guten kommt – etwas, was die Christlichen Wissenschaftler schneller als alles andere in der Welt ihre Wachsamkeit vergessen lässt. Das Böse, das im Namen des Bösen kommt, kämpft ungetarnt. Wir sehen es in seiner ganzen Scheußlichkeit, erkennen es als das, was es ist, und verhalten uns entsprechend. Aber das Böse, das im Namen des Guten kommt, legt himmlische Gewänder an, stellt sich dem Wächter in dieser gestohlenen Uniform, spricht das Losungswort „Liebe“ und schleicht sich unerkannt ins Lager ein.
In ihrem Buch Vermischte Schriften 1883‑-1896 hat uns unsere verehrte Führerin Mrs. Eddy eins der besten Gegenmittel gegen das Selbstbedauern gegeben, sollten wir je zu diesem Übel neigen: „Du sollst dich nur als Gottes geistiges Kind sehen und den wahren Mann und das wahre Weib, das all-harmonische ‚männlich und weiblich‘, als geistigen Ursprungs, als Gottes Widerspiegelung erkennen – somit als Kinder eines gemeinsamen Elterngemüts, worin und wodurch Vater, Mutter und Kind göttliches Prinzip und göttliche Idee sind, ja das göttliche ‚Uns‘, eins im Guten und gut in Einem“ (S. 18). Diese inspirierte Erklärung streift dem Irrtum ganz gewiss augenblicklich seine Verkleidung ab und lässt ihn zusammengekauert und beschämt vor der Wahrheit zurück; denn wenn wir uns erst einmal in unserer wahren Identität und Wesenheit erkannt haben, was bleibt da übrig, das Mitleid empfinden oder mit bemitleidet werden könnte? Ist „Gottes geistiges Kind“ jemals ein Gegenstand des Bedauerns? Sind wir Sterbliche oder Unsterbliche? Natürlich können wir uns für Sterbliche halten, wenn wir wollen. Niemand hindert uns daran; ja, das sterbliche Gemüt würde uns gern in dem Wahn bestärken. Aber weder unsere falsche Selbsteinschätzung noch die falsche Meinung, die die Welt über uns hegt, kann jemals auch nur für einen Augenblick die ewige Tatsache ändern, dass wir „nun Gottes Kinder“ sind (1. Johannes 3:2).
Neben dem Selbstbedauern gibt es indessen noch etwas, was den „Brandgeruch“ lebendig erhalten kann, und das ist Selbstverdammung. Eins von beiden ist schlimm genug, aber wenn sie, wie so oft, Hand in Hand gehen, kann man ebenso gut in seinen feurigen Ofen zurückkehren und dort noch ein wenig verweilen, denn man hat seine Demonstration noch nicht gemacht. Klingt das entmutigend? Vielleicht zuerst; wenn aber jemand „die Wahrheit in Liebe spricht“, wie es der Apostel so schön ausdrückt (Epheser 4:15, nach der englischen Bibel), so kann tatsächlich niemand darüber bedrückt sein, dass es ihm gesagt wurde. Wir wollen uns vor dem Irrtum der Selbstverdammung hüten. Wie ihr gefälliger Begleiter setzt sie voraus, dass das Böse eine Geschichte hat und wir darin verwickelt waren. Selbstverdammung führt uns dazu, erst einmal zuzugeben, dass es einen feurigen Ofen gegeben habe, der für uns persönlich „siebenmal heißer“ gemacht wurde, „als man es sonst zu tun pflegte“ (Daniel 3:19). Ist das zugegeben, so folgert sie weiter, dass wir einmal darin waren und zwar schließlich herausgekommen sind, aber keineswegs so schnell, so rühmlich oder bewundernswert, wie es angeblich hätte sein können oder wie ein anderer unter denselben Umständen es vermocht hätte.
Wir sollten uns weigern, eine Schlussfolgerung anzunehmen, die den Glauben an eine materielle Vergangenheit fortdauern lässt. Dem Irrtum einen Nachruf widmen heißt stillschweigend zugeben, dass er einmal Leben besaß. Warum nicht vergessen, „was dahinten ist“, wie der Apostel sagt (Philipper 3:13, Lutherbibel 1984), und vorwärtsdringen? Wir wollen die Tür vor der Selbstverdammung von innen und außen verschließen. Was andere über unsere Erfahrung sagen, ist belanglos, solange Gott uns versteht. Nur wenn jene, die uns jetzt kritisieren mögen, die ganze Zeit im feurigen Ofen neben uns gestanden hätten, könnten sie ermessen, wie heiß das Feuer war.
Wie herrlich wäre es, wenn jeder, der je eine Feuerprobe zu bestehen hatte, herauskäme „heil am ganzen Leibe“ (Johannes 7:23, nach der englischen Bibel), erhobenen Hauptes und mit leuchtenden Augen, mit einer größeren Liebe zu Gott und dem Menschen, einer tieferen Dankbarkeit, einem stärkeren Glauben; und mit einer größeren Nachsicht gegenüber den Fehlern und Kämpfen der Schwachen und Beladenen auf Erden! In welch guter Gesellschaft wären wir, wenn diese Gereinigten mitten unter uns schweigend ihren Weg gingen, friedevoll, erhoben, geläutert, demütig, ihr Antlitz noch strahlend vor Freude über ihre Demonstration!
Sollten wir jemals anders als in Dankbarkeit auf eine solche Erfahrung zurückblicken, zumal unsere Führerin uns sagt: „Die allein, die im Feuerofen geläutert worden sind, spiegeln das Bild ihres Vaters wider “ (Vermischte Schriften 1883-‑1896, S. 278)? „Geliebte“, schrieb der Apostel Petrus aus der Tiefe seiner eigenen Erfahrung, „lasst euch die Feuerglut, die euch als Prüfung begegnet, nicht befremden, als widerführe euch etwas Seltsames; sondern insofern ihr der Leiden Christi teilhaftig seid, freut euch, damit ihr auch bei der Offenbarung seiner Herrlichkeit Freude und Wonne habt. … Denn der Geist der ein Geist der Herrlichkeit und Gottes ruht auf euch“ (1. Petrus 4:12-14).
Der „Geist der Herrlichkeit und Gottes“! Ihn zu gewinnen, ist das nicht einige Qual, wenn nötig viele Qualen wert? Lasst uns nicht vergessen, dass gerade dort, mitten im Feuer, jene Gefangenen vor alters die Vision vom Christus hatten. Ihre menschliche Not war so groß, dass sie sich zu einer geistigen Höhe erhoben, die aus der Notwendigkeit des Augenblicks geboren war, und den Menschen sahen, wie er wirklich ist, geistig, nicht materiell; ja, sie sahen die rettende Wirklichkeit so klar, dass selbst die stumpfen, beobachtenden Augen Nebukadnezars die Erscheinung wahrnahmen. „Haben wir nicht drei Männer gebunden in das Feuer werfen lassen?“ schrie er erstaunt. Und er setzte hinzu: „Sehe ich doch vier Männer frei im Feuer gehen, und sie sind unversehrt; und der vierte ist gleich, als wäre er der Sohn Gottes“ (Daniel 3:24, 25, nach der englischen Bibel).
Jener himmlische Schimmer göttlicher Wirklichkeit, jene klare Vergegenwärtigung des Menschen, wie er in Christus ist, als „Sohn Gottes“, wird nicht so oft in Stunden des Behagens gewonnen wie in Zeiten der Prüfung, wenn der tierische Magnetismus seine äußersten Anstrengungen macht, um die Christusidee zu zerstören, für die wir einstehen. Darum: Freuen wir uns, dass uns die göttliche Vision zuteilwurde, wenn auch unter großer Trübsal, denn die Gestalt des Vierten, einmal erblickt, ist unvergesslich; wir können auch niemals dahin zurückgehen, wo wir waren, ehe ihre wunderbare Herrlichkeit sichtbar wurde. So erlischt das Feuer; die Fürsten, Herren, Vögte und Räte gehen verwirrt und zornig davon; Nebukadnezar erklärt öffentlich: „Es gibt keinen andern Gott als den, der so erretten kann“ (Vers 29), und die Männer, deren Leib „das Feuer … nichts hatte anhaben können“ (Vers 27), gehen ruhig ihren Geschäften nach.
Wenn die Demonstration vollkommen war, fehlerlos, von Dauer und überzeugend, dann wird der soeben Befreite, nach seiner Erfahrung gefragt, ganz natürlich antworten: „Ob es schwer war? Ich weiß es nicht. Die Vision war so schön, dass ich alles andere vergessen habe.“ Und wenn er dies absolut wahrheitsgemäß und aufrichtig sagen kann, darf er ganz sicher sein, dass man auch „keinen Brandgeruch“ mehr an ihm riechen wird.
