Die hohen Fluten der Menschheit, die bei der geringsten Gelegenheit zusammenwogen, beweisen die Kraft und Allgemeinheit des geselligen, sich gern scharenden Triebes, wodurch die Phänomene der Warnung: „Du sollst nicht folgen der Menge zum Bösen,” nicht selten bestätigt wurden. Die Herrschaft dieses Triebes ist so allgemein und wir sind so an deren Kundgebungen gewöhnt, daß die Gemütsart allein zu sein, oder ohne Bezugnahme vorherrschender Meinungen zu handeln, wohl Erstaunen erregt, wenn nicht gar einen Ruf der Sonderbarkeit. Und doch erkennen alle Menschen in gewissem Grade die angeborne Größe und den Adel einer Natur, welche durch einsichtsvolle Überzeugung bezeichnet ist, — ein gleichmäßiges Selbst, welches nicht des Beistandes herkömmlicher Meinung bedarf; das ohne Gesellschaft — ausgenommen die der Wahrheit — zufrieden und sogar glücklich sein kann; das bereit ist alles aufzugeben, auf daß es, wie der große Apostel sagt: „Christum gewinne.”
Das Bild von Daniel, der allein unter den Löwen und doch die Herrschaft über sie besitzt, ist von jedem Standpunkt aus betrachtet, höchst eindrucksvoll; aber die hauptsächliche Bedeutung geht verloren wenn wir nicht in seiner ruhigen Herrschaft über tierische Wut, die Geschichte des Sieges über den sterblichen Sinn und das Selbst lesen, durch einen unbestechlichen Ritter der Wahrheit vollbracht. An dem Tage als Feinde Ränke schmiedeten und Freunde zur Vorsicht mahnten, war er von ihnen „ausgegangen” und „abgesondert”; er zog es vor, allein mit Gott zu sein und sein individuelles Problem zu lösen, und in der Stunde der Versuchung fand er aus, daß er, indem er das tat, alle Probleme löste; die Harmlosigkeit jedes tierischen Irrtums, in der Gegenwart der Wahrheit, war dadurch bewiesen. Die Löwen waren nichts weniger als Löwen, aber der Duft des Fleisches war nicht mehr vorhanden, nichts was ihren Hunger stillen würde. In seinem Aufstieg zu einer erhabenen Ebene geistigen Bewußtseins und Entschlossenheit, hatte er alles zurückgelassen, was die tierische Natur unterhält.
Obwohl Daniels Erfahrung in mannigfacher Weise einzig in seiner Art war, so sind wir doch alle berufen, uns derselben Prüfung zu unterziehen, die er so großartig bestand, und nur wenige Tage vergehen, an denen die geistig Strebenden nicht genötigt sind, gleichgültig gegen eine gebräuchliche Verordnung, gegen einen allgemein angenommenen Glauben, eine lange gehegte Gewohnheit oder anmaßende Persönlichkeit zu sein. Früher oder später muß jeder selber lernen, daß der einzige Platz der Sicherheit gefunden wird, wenn er allein mit Gott ist; in der Drangsal und Wut der Fluten der Versuchung kann kein anderer Arm retten. Im Brief an die Galater ermahnt Paulus sie, fest in der Freiheit zu stehen zu der sie berufen waren, die Freiheit für sich selber ein Mensch zu sein, nicht länger durch Umstände, Antriebe, anerzogene Neigungen oder persönlichen Einfluß beherrscht, sondern frei, sogar ein Kind Gottes zu sein. Er zählt die vielen und gesegneten Früchte dieser individuellen Treue gegen die Wahrheit auf und fügt dann hinzu: „Wider solche ist das Gesetz nicht”; z. B. keine Löwen wider Daniel, noch wider uns!
Bis wir diese Unabhängigkeit des geistigen Selbst erlangt haben, sind wir dem Eindrängen des Zweifels, falschen Glaubens und der Furcht unterworfen, und um deren Schmerzen zu entgehen, wenden wir uns dankbar an unsern Bruder um Hilfe. Obwohl dies recht ist und wir unter den Umständen nicht anders können, muß doch jeder Christian Scientist erkennen, daß dies, insofern es gewohnheitsmäßig wird, es sein ernstes, individuelles Streben verzögert, für sich selber und für die, welche seiner Obhut anvertraut sind, eine heilende und rettende Fähigkeit durch unser eigenes Bewußtsein der Wahrheit zu finden, insofern wird unser geistiges Wachstum dadurch gehindert. Wenn man zur Christian Science kommt, mag die Versuchung eintreten, sich auf die Persönlichkeit des Heilers in derselben Weise zu verlassen, wie früher auf die Ärzte. Anstatt ihre rechtmäßige Erbschaft zu behaupten und tapfer zu versuchen, ihr Vorrecht und die Macht in Christo nutzbar zu machen, verfallen sie in einen Zustand chronischer Furchtsamkeit und Schwachheit, welches Sklaverei bedeutet, wo Freiheit sein sollte, Rückzug, wo Vorwärtsgehen sein sollte, Niederlage, wo Sieg sein sollte. Im Einklang mit Paulus Klassifizierung der Gaben mögen wir allerdings eine besondere Schicklichkeit für eine besondere Arbeit in jedem erkennen; doch das Ausarbeiten der individuellen Erlösung im Überwinden von Krankheit und Sünde kann keinem andern zugewiesen werden. „Schaffet, daß ihr selig werdet,” sagte der Apostel, trotz eurer Furcht und Zittern. Offenbar konnte Gott nicht einem unidealischen Gedanken oder Haltung im geringsten Seiner Kinder beipflichten, und dieses göttliche Beharren, welches von der Fehlerhaftigkeit des menschlichen Sinnes so oft als Sein „Eifer” bezeichnet ist, verlangt, daß jeder für sich selber Gott, die Wahrheit, kennen soll als allgegenwärtige und allgenugsame Hilfe, — der einzige Erlöser.
Wir sind ermahnt, einander in Liebe zu helfen, aber unabhängig im Glauben und Verständnis zu sein; in jeder heilsamen brüderlichen Vereinigung Vergnügen zu finden, aber unsere Lauterkeit zu wahren, unsern Platz behaupten und unsern Frieden ungeachtet anderer bewahren, — mit einem Worte, selbstvereint in Christo zu sein.
Das Zusammenscharen vieler bedeutet einfach, daß die geistige Armut des Individuums sogar für seinen Eigendünkel unerträglich ist. Mr. Mabie hat von Thoreau gesagt: „Er konnte seine eigene Gesellschaft auf unbestimmte Zeit ertragen; dies findet man selten unter gelehrten Männern, da die meisten Männer mehr Interesse finden als besitzen.” Offenbar ist es für jemand, dem edle Gedanken fremd sind und welcher der Selbstachtung unwürdig ist, unmöglich Zufriedenheit in seiner eigenen Gesellschaft zu finden; aber wer selbstlos ist, gastfrei für große Ideen und sich auf feinen Gott verläßt, — kann niemals von andern abhängig sein, wie sehr er auch ihre Freundschaft und guten Willen schätzt. Er ist in Berührung mit einer Quelle der Kraft und Begeisterung, unendlich höher und zufriedenstellender als die menschliche.
Der Verstoß Christi Jesu war, daß er sich selbst „Gott gleich” machte. Er brachte der Menschheit die Vision des wahren Menschen, — eine göttliche Idee, vollkommen wie der Vater, — und in der Begeisterung dieses erhabenen Sinnes gab Paulus uns die ideale Haltung der Gedanken für jede Stunde und Bedürfnis, als er sagte: „Ich vermag alles durch den der mich mächtig macht, Christus.”
