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Das goldene Zeitalter und die goldene Regel.

Aus der Mai 1906-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Die menschliche Rasse hat an keiner Überlieferung beharrlicher festgehalten als an der eines goldenen Zeitalters, einer Periode der ursprünglichen Unschuld und des unumwölkten Glückes. Die Annalen fast aller Nationen und Stämme enthalten Berichte oder Erinnerungen dieser Art, die vielleicht dunkel und vag sind, die aber sorgfältig gepflegt werden, da sie eine kostbare Bedeutung besitzen. Solche Überlieferungen sind verschieden gefärbt, je nach dem besonderen Temperament, der Umgebung oder dem Bedürfnis der verschiedenen Rassen, aber sie stimmen im Allgemeinen darin überein, einen Naturzustand zu schildern, in welchem die Menschen angenommenermaßen einen Standpunkt erreicht haben, der der Vollkommenheit nahe ist, in welchem sie gut und schön, tugendhaft und glücklich sind; und zur selben Zeit frei von Sorge, Furcht und Mangel.

Aber ach, es ist Sitte geworden, das goldene Zeitalter in vorhistorische Perioden zu verbannen, in ein weitentferntes „Es war einmal” und in ein „Irgendwo.” Die Alten verwiesen das goldene Zeitalter in die Zeit der mythischen Regierung des Saturn, während einige moderne Reformatoren ein goldenes Zeitalter in die Zukunft verlegt haben, wenn gewisse Bedingungen der menschlichen Gerechtigkeit erreicht worden sind. So ist die Idee eines goldenen Zeitalters gewöhnlich der Menschheit entweder als eine undeutliche Erinnerung oder als eine weitentfernte Hoffnung dargestellt worden, und grade weil die Menschheit im großen Ganzen an diese ideale Sachlage nicht als eine gegenwärtige Wirklichkeit oder Möglichkeit gedacht hat, so hat diese Bezeichnung eine untergeordnete und übertragene Bedeutung angenommen, welche weniger genau und knapp als die erste ist und geringere Anforderungen an den menschlichen Glauben stellt.

Der Ausdruck wird jetzt öfter gebraucht, um eine außerordentlich glanzvolle Periode in Kunst oder Wissenschaften zu bezeichnen, wie zum Beispiel das goldene Zeitalter der Bildhauerkunst in Griechenland, oder der römischen Literatur, oder das goldene Zeitalter der Entdeckungen während der Regierung der Königin Elisabeth, oder der Erfindungen im neunzehnten Jahrhundert. Aber selbst wenn die Bezeichnung in ihrem ursprünglichen Sinne gebraucht worden ist, hat man angenommen, daß dieses Zeitalter nicht ewig dauern könne, daß der Mensch nicht auf unbegrenzte Zeit hinaus vollkommen bleiben könne. Man hat im Gegenteil angenommen, daß er unvermeidlicherweise von der Gnade abfallen müsse, und man hat so die menschlichen Hoffnungen zu Boden geschmettert. Die hebräischen Schriften geben uns ohne Zweifel die bestbekannte Auslegung von diesem sogenannten Falle des Menschen und von seiner darauffolgenden Ausstoßung aus dem Paradiese. Die Menschheit sehnt sich jedoch noch immer nach dem goldenen Zeitalter, wartet noch immer darauf, plant es immer noch, und obgleich sie oft enttäuscht wird, erwartet sie doch noch, daß es verwirklicht und zu einer feststehenden Tatsache wird.

Es liegt etwas Pathetisches in diesem edlen Suchen, in welchem Poeten und Philosophen, Philanthropen, Sociologen, Anhänger aller Religionen in menschenfreundlicher Rivalität miteinander wetteifern, immer in der Hoffnung die ersten zu sein, das goldene Zeitalter zu einer praktischen Wirklichkeit zu machen; aber der verhängnisvolle Fehler in all solchen Versuchen ist durch Christian Science entdeckt worden; es ist die menschliche Unwissenheit, Gott und Seine Schöpfung betreffend. Falsche Ideen über dem Schöpfer, ein materieller Glaube in Bezug auf Seinen Menschen und Sein Weltall, haben die Sucher verwirrt, ihre Schlüsse ungültig gemacht und ihre Hoffnungen zerstört. Die sterblichen Auffassungen haben ihre eignen sterblichen Resultate hervorgebracht. Nur das korrekte Verständnis Gottes, die Kenntnis der Wahrheit des Seins, das heißt göttliche Wissenschaft ist fähig, das wahre goldene Zeitalter zu offenbaren, und der menschlichen Auffassung die Herrschaft der Harmonie, die Gegenwart und Macht von Leben, Wahrheit und Liebe zu bringen und das Himmelreich auf Erden zu gründen. Dieses ideale Zeitalter ist keine leere Sehnsucht, es ist hier und jetzt und es ist immer eine feststehende Tatsache im göttlichen Geiste gewesen, für alle erreichbar; aber es ist nicht der Himmel, den sich die Menschheit vorgestellt hat, nach dem sie geseufzt hat, oder von dem sie geträumt hat, da er nicht materiell ist. Der Himmel ist von Jesus beschrieben und definiert worden, als er sagte: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch,” und „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.” Selbst Johannes der Täufer, welcher nicht des Herrn Verständnis der Wahrheit erreicht hatte, erklärte vor vielen Jahrhunderten: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.” Das Christentum hat, wenn es richtig verstanden wird, immer Beweise geliefert, daß der Himmel eine gegenwärtige Wirklichkeit ist, und in dem Textbuch der Christian Science erklärt Mrs. Eddy der leidenden, geschlagenen, müden, niedergedrückten und nach Gerechtigkeit dürstenden Menschheit, wie diese glorreiche Verwirklichung jetzt erreicht und zu einem bleibenden Trost für alle gemacht werden kann. Christian Science tritt in die Krisen des menschlichen Lebens ein, um uns zu lehren, daß der Mensch, der in dem Ebenbilde und in dem Gleichnisse Gottes erschaffen wurde, nie gefallen ist, daß er für immer in einem Zustand des Bewußtseins weilt, welcher der Himmel ist, daß er keine Wirklichkeit in irgend einem Glauben erkennt, welcher Furcht und Sterblichkeit nahe kommen, oder Sünde, Krankheit oder Tod hervorbringen kann. Was den Glauben anbelangt, welcher sich sterblicher, materieller Mensch benennt, so hat er keine wahre Existenz oder Wirklichkeit, und man muß aus diesem Glauben herauswachsen und ihn ablegen, und man darf ihn nicht im menschlichen Gedanken nähren und fortleben lassen.

So sind die Anstrengungen der edelgesinnten Männer und Frauen, das goldene Zeitalter für sich oder für andere auf einer materiellen Basis zu schaffen, zu gründen, zu planen und einzurichten, beständig fehlgeschlagen. Das Himmelreich braucht nicht erschaffen zu werden, denn es besteht schon und ist hier; es kann nicht mit menschlichem Scharfsinn hergestellt werden, denn es stammt von Gott. Es braucht nur verwirklicht, geistig wahrgenommen zu werden. Die Menschheit braucht nicht länger durch den Glauben geblendet zu werden, daß Schönheit, Kraft oder innerer Wert Eigenschaften der Materie sind. Paulus schrieb an die Römer: „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geiste.” Das Himmelreich ist nicht aus Fleisch und Materie, sondern es ist geistig; seine Schönheit ist Leben, sein Zustand ist wahre Glückseligkeit, seine Dauer ist ewig, und die Erkenntnis dessen zerstreut die falschen Ideen der sterblichen Existenz und bringt der Menschheit Wiedergeburt, Verjüngung und Erlösung. Gott zu kennen, heißt das Gute als natürlich und selbstverständlich und das Böse als abnorm und fabelhaft anzusehen.

So herrscht in der menschlichen Gesellschaft ein großes Bedürfnis nach Reform, um Willenskraft zu beugen, um die Versuche der Unterdrückung, der Tyrannei und der Ungerechtigkeit zu vereiteln; und viel muß auf diesem Wege getan werden, um gesellschaftliche, politische und ökonomische Freiheit herzustellen und die Fesseln der menschlichen Sklaverei zu brechen, doch die Art und Weise, diese Resultate zu erreichen, ist heute dieselbe wie zu der Zeit als Jesus sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.” Dieser Weg ist, wie das Textbuch der Christian Science in so klarer Weise lehrt, die Wahrheit, das Verständnis und die Weisheit, welche in Christo Jesu war; und diese Wahrheit belehrt uns, daß keine materielle Idee, je vollkommen oder permanent sein kann; daß der sterbliche Mensch deshalb nie von seiner Vollkommenheit gefallen ist, denn er war niemals vollkommen; während der unsterbliche Mensch nicht fallen kann, weil er immer bei Gott ist. Deshalb ist das wahre goldene Zeitalter, oder das Himmelreich auf Erden nur in so fern eine gegenwärtige Tatsache, als man seine geistige Bedeutung erkennt. Man braucht es sich nicht vorzustellen, noch davon zu träumen, doch alle die sich die Natur Gottes als Geist verwirklichen und die Seine Schöpfung einschließlich des Menschen als geistig und nicht als materiell anerkennen, können es geistig als eine metaphysische Wirklichkeit erfassen. In dieser Weise kann die Brüderschaft, der Menschen als eine geistige Tatsache bewiesen werden, unabhängig von menschlichen Gesellschaften oder mitwirkenden Plänen, und man wird finden, daß Einigkeit von Gott, dem Schöpfer und Beherrscher des Weltalls, in alle Ewigkeit festbegründet ist.

In dem wahren goldenen Zeitalter wirkt die goldene Regel als die einzige Regierungsform. Sie umfaßt zugleich die Vorrechte, Verfassungen, Gesetze und Ordnungen des goldenen Zeitalters. Jesus brachte die goldene Regel um sie dem goldenen Zeitalter anzupassen. Einzelne Seher der alten Völker hatten einen schwachen Schimmer von dieser Regel erhalten. Das war nicht nur der Fall bei Mitgliedern der hebräischen Rasse, sondern auch bei einigen der sogenannten heidnischen Nationen. Doch blieb es Christian Science überlassen, die volle Bedeutung dieser Regel aufzudecken, wodurch alle Angriffe des Irrtums verhindert werden können, und wodurch der Mensch lernen kann, seinen Nächsten zu lieben als sich selbst.

Einer der besten Römer, der gegen Ende des Jahrhunderts lebte, in welchem Jesus auf Erden lehrte und wirkte, war Plinius der Jüngere. Er war der Verfasser gewisser „Episteln,” die ihres eleganten Stils und ihrer edlen Gedanken wegen, hoch geschätzt waren. Er besaß großen Reichtum, war ein glänzender Anwalt in den Gerichtshöfen, ein Freund der berühmten Schriftsteller Tacitus, Suetonis und Cornelius Nepos und stand in intimen Beziehungen zum Kaiser Trajan. Seine Freigebigkeit war außerordentlich; sowohl im Verborgenen als öffentlich teilte er größere und kleinere Summen aus, und seine Briefe lassen eine Natur erkennen, die durch Güte, Barmherzigkeit und Großmut gekennzeichnet wird. In einer seiner Episteln empfiehlt er als ein Motto: „Anderen zu verzeihen, als ob man täglich selbst Verzeihung brauchte.” Das kam dem Gefühle der goldenen Regel sehr nahe; und doch als Plinius ein öffentlicher Beamter in Kleinasien wurde und den ersten Christen dort gegenüberstand, hielt ihn dieses Motto nicht davon ab, sie unter der Annahme zu verfolgen, daß sie seinem Kaiser und Herrn untreu wären. In einem Briefe an den Kaiser Trajan, der seitdem berühmt geworden ist, fragte Plinius, was mit Christen geschehen sollte, die sich weigerten, ihren Lehren abzuschwören. Er berichtete, daß „nicht nur Städte, sondern auch Marktflecken und Landbezirke von der Ansteckung dieses Aberglaubens berührt worden sind.” Nachdem er den Weisungen gehorcht hatte, schrieb er wieder: „Diejenigen, die eigensinnig darauf bestanden, daß sie Christen wären, habe ich, nachdem ich sie vor den Folgen gewarnt habe, zur Bestrafung fortführen lassen, und ich zweifle nicht daran, daß, was sie auch bekannt haben mögen, ihre unbeugsame Hartnäckigkeit eine Strafe verdiente.” Im Gegensatz zu solch einem Verhalten, welches zweifellos durch die besten amtlichen und öffentlichen Ansichten in der Zeit des aufgeklärten römischen Kaiserreiches bekräftigt worden war, lehrte Jesus die goldene Regel nach der Vorschrift: „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.”

Die metaphysischen Forderungen der goldenen Regel erfüllen, bedeutet ein beständig zunehmendes geistiges Wachstum. Es bedeutet, daß wir lernen müssen, wie wir wirksamer dem Hilferuf andrer Folge leisten können, während wir in dem Bewußtsein ruhen, daß Gottes Macht alle Menschen beschützt und über alles Übel den Sieg davonträgt. Christian Science auszuüben, dadurch daß wir Sünde, Krankheit und Kummer zerstören und dadurch, daß wir den Ränken des Irrtums in all seinen Formen gegenübertreten und sie beherrschen, schließt auch ein, anderen das zu tun, was wir wollen, daß uns die Leute tun sollen. Kein christliches Heilen kann auf der Basis von Selbstsucht und Pharisäertum bestehen, denn die Christus-Wahrheit verlangt Demut von dem Heiler und eine Verleugnung der falschen Auffassung der Persönlichkeit, sowohl im Hinblick auf sich selbst als auf andere.

Von dem Standpunkt der Christian Science aus, fordert die goldene Regel, daß wir nicht nur so gegen andere handeln sollen, wie wir wünschen, daß sie gegen uns handeln sollen, sondern daß wir auch in Übereinstimmung mit derselben Regel denken sollen. Sie gebietet uns, die Freude über einen jeden Sieg über das Böse mit der ganzen Menschheit zu teilen, und sie erinnert uns daran, daß, wenn Gott uns das Vorrecht gewährt hat, die Unwirklichkeit irgend eines Irrtums für uns selbst zu beweisen, Er auch notwendigerweise, als ein liebender und gerechter Vater, dasselbe Vorrecht all Seinen andern Kindern gewährt hat. Sie läßt uns erkennen, daß genau dieselbe Macht, die für uns die Forderungen der Furcht, der Beschränkung, der Verderbtheit und des Aberglaubens getilgt hat, auch einen Weg gebahnt hat, auf welchem dasselbe für unsere Brüder getan werden kann; daß jede Freude, die wir erfahren, und jeder Schimmer der Schönheit, der uns entzückt, wirklich allen gehört, wie die Sonne auf alle herabscheint, und der Tau in gleicher Weise auf edle Wälder und auf niederes Unkraut herabfällt. Die metaphysische Auslegung der goldenen Regel hilft uns, unser Verständnis der unparteiischen, göttlichen Liebe auf alle menschlichen Angelegenheiten anzuwenden und zielt darauf hin, Neid, Eifersucht, Gier und Unterdrückung aus unsrer Mitte zu verbannen.

Die goldene Regel ladet uns ein, noch weiter zu gehen, und unsere eigne Seligkeit und die unseres Bruders zu schaffen. Sie weist klar auf die Gefahren hin, die aus Selbstgefälligkeit und intellektuellem Stolz entstehen. Sie warnt uns, daß niemand sich als durch die Wahrheit geheilt betrachten kann, der in seinem Herzen zweifelt, daß andere so geheilt worden sind. So lange wir es in Frage stellen, daß Gottes vollkommener Schöpfungsplan auf jemand anderes angewendet werden kann, sind wir in Gefahr an der Vollkommenheit des Menschen in Bezug auf uns selbst zu zweifeln, und die eigne Tür unseres Zweifels steht offen, um die hypnotische Suggestion einer Wiederkehr oder eines Rückfalles einzulassen. Wir können in Wahrheit nicht sicher sein, so lange wir glauben, daß andere in Gefahr sind. Wir können in Wahrheit nicht glücklich sein, so lange wir darauf bestehen, daß andere unglücklich sein müssen, oder die Bedingungen zeigen, die dazu führen; und der Grund dazu ist nicht weit zu suchen. Christian Science erklärt und deckt die Tatsache auf, daß Ursache geistig ist. Sie legt metaphysische Mittel und Wege bloß, und zeigt, daß der einzige Schaden, den Irrtum anrichten kann, daherkommt, daß der Mensch daran glaubt, und daß er ihn als wirklich und wirksam annimmt. An seine Macht im Hinblick auf einen andern zu glauben, heißt also die Möglichkeit seiner Macht in Bezug auf sich selbst zugeben; und eine andere Macht außer der Gottes anzuerkennen, einzugestehen, daß ein eingenommener böser Geist mit Gott um die Herrschaft des Menschen streitet, heißt das erste Gebot brechen. Andrerseits, für andere die Wahrheit über den Menschen wissen, heißt nicht nur sie heilen, sondern auch uns heilen; und niemals an der Wahrheit zweifeln ist geheilt bleiben. So segnet die goldene Regel den, der empfängt und den, der gibt. Paulus ging so weit, die Römer zu ermahnen, in einer geistigen Verfassung zu sein, die folgendermaßen beschrieben wird: „Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor.”

Es ist augenscheinlich, daß, wenn die Menschen tatsächlich auf der Basis der goldenen Regel zusammen lebten, sie keine andere Regierungsform brauchten, und daß Friede und Wohlstand ungestört herrschen würden. Aber dieses große Endziel ist niemals von Sterblichen erreicht worden. Es muß zuerst in dem individuellen Bewußtsein ausgearbeitet werden, dadurch, daß man den Glauben an Leben in der Materie, an Haß, an Mangel und an Selbstsucht überwindet. Das wahre goldene Zeitalter wird von dem Zöllner eher gefunden werden, als von dem Pharisäer, und von den Demütigen und Barmherzigen eher als von denen, die stolz auf menschliche Macht sind und die dem Buchstaben des Gesetzes trauen. Nur in dem Maße, in dem die individuelle Reinigung in Übereinstimmung mit Christian Science fortschreitet, kann der menschlichen Gesellschaft irgend ein wirklicher Vorteil daraus erwachsen; nur wenn Reformationen sich zuerst im Verborgenen vollzogen haben, können sie sich öffentlich zeigen, denn die bösen Auffassungen, welche in dem allgemeinen menschlichen Bewußtsein entstehen und heimlich darin arbeiten, müssen ausgerottet werden, oder sie würden jedes Gebäude, welches die Menschen als ein gemeinschaftliches Unternehmen errichten mögen, untergraben, zernagen und umstürzen. Die Brüderschaft der Menschen muß ein leerer Name bleiben, wenn sie nicht auf eine richtige Auffassung Gottes und des wirklichen Menschen gegründet ist, eine Auffassung, welche zu einem individuellen Verzicht auf Unrecht und zu einem individuellen Wachstum in der Gerechtigkeit führt, in Übereinstimmung mit dem göttlichen Vorbild.

Wenn wir die Geschichte irgendwelcher Nation annehmen, entdecken wir, daß beständig Versuche gemacht worden sind, die Brüderschaft der Menschen zu brechen, und daß es nur zu oft gelungen ist. In der Bibelerzählung finden wir, daß, so bald als die menschliche Brüderschaft in der ersten Familie begründet war, sie durch Eifersucht von Seiten Kains jäh gebrochen wurde. Es wird uns erzählt, daß, als sein Opfer keine Beachtung fand, Kain sehr ergrimmte und „seine Gebärde sich verstellte.” Wenn wir die Geschichte der jüdischen Rasse verfolgen, wie sie in der Bibel beschrieben wird, so wird man erkennen, daß derselbe Zwiespalt beständig wiedererscheint, und daß er in jedem Falle auf irgend eine Form der Sünde zurückzuführen war. Wir finden, daß Jakob und Esau sich trennen; daß die Söhne Jakobs durch Neid getrieben, Joseph aus dem Wege räumen, wir finden, daß das Reich Israels zerrissen worden ist, und daß viele in Gefangenschaft geraten sind. Viele ähnliche Beispiele könnten aus der Geschichte aller Nationen und Völker angeführt werden.

Bei einem eifrigen Studium wird man also finden, daß das Haupterfordernis für jedweden praktischen Plan die Brüderschaft der Menschen auszudrücken, die Erkenntnis Gottes und Seiner Schöpfung ist, die zu Demut und Liebe und zur Überwindung des Bösen in dem individuellen Bewußtsein führt. Angenommen, daß zwei Personen übereinkommen, niemals wieder zu hassen, gleichgültig, was die Herausforderung sei, gleichgültig, ob sie anscheinend durch die gebräuchlichen Gesetze der Menschheit gerechtfertigt wären; angenommen, daß eine dritte Person sich zu den beiden gesellen würde, eine vierte, eine fünfte, zehn Personen, hundert, tausend; angenommen, daß eine Million Personen übereinkommen, nie wieder zu hassen; und angenommen, daß dieser Prozeß nach und nach über das ganze Menschengeschlecht ausgedehnt würde, würde der Haß nicht ebenso vollständig aus unsrer Mitte vertilgt werden, als ob er nie existiert hätte? Angenommen, daß alle anderen Sünden, denen das Fleisch unterworfen ist, eine nach der anderen in derselben Weise aus dem menschlichen Bewußtsein verbannt würden; ist es nicht augenscheinlich, daß nach und nach der sündlose Mensch erscheinen würde, und ebenso die vollständige Einigkeit, nach welcher wir uns so sehr sehnen? Das Menschengeschlecht ist nur zu sehr geneigt gewesen, in allen diesen Problemen die Pferde hinter den Wagen zu spannen, materielle Zustände und Zeichen als Ursache anzusehen, und das geistige Verhalten eines Menschen in das Bereich der Folgen und Wirkungen zu verweisen.

Daß heute ungeheure Veränderungen zum Guten in dem Gedanken der Individuen vorgehen, wird durch die Tatsache bewiesen, daß die Idee der Einigkeit und Artigkeit zwischen den Nationen der Erde in großen Sprüngen vorwärts schreitet. Wenn es je eine Zeit gab, in welcher die wirklichen Interessen gewisser Klassen oder Nationen oder gewisser Vereinigungen von Individuen in Widerspruch mit einander zu stehen schienen, so sieht man jetzt diese Zeit schnell aus der menschlichen Geschichte verschwinden. Jeder Kreis der Tätigkeit in jedem Weltteil arbeitet jetzt darauf hin, in eine praktische Einigkeit mit anderen Kreisen an anderen Orten durch eine Verflechtung der gegenseitigen Interessen gebracht zu werden. So wird es mehr denn je sowohl theoretisch als auch praktisch verwirklicht, daß das Gute einer Nation das Gute aller Nationen bedeutet, und daß der Schaden, der einer widerfährt am Ende zum Schaden für alle führt. Nichtsdestoweniger müssen wir uns gegen den Irrtum der Alten verwahren, und der Glaube, daß das goldene Zeitalter seiner Natur nach materiell ist, darf nicht vorherrschen, oder der Himmel auf Erden wird fortgesetzt unsern Nachforschungen entgehen und wird nur ein Traum bleiben. Die Juden warteten auf ein jüdisches Königreich von materieller Größe, und als Jesus diese falsche Hoffnung zertrümmerte, stachelte er dadurch nicht nur den Groll der Menge gegen sich an, sondern er vernichtete vielleicht auch die geheimen Erwartungen einiger seiner Jünger. Wenn man versteht, daß die Werke Jesu und seiner Nachfolger nicht übernatürlich, gesetzwidrig oder in den Augen Gottes ungültig waren, sondern daß sie höchst natürlich, gesetzlich und normal waren, und wenn man wahrnimmt, daß Gottes Gesetze für alle Menschen zu allen Zeiten gelten, dann wird Jesus Christus zu einem älteren Bruder, der den Weg durch tatsächliche Demonstration zeigt und jeden Schritt beweist, der getan werden soll, während seine Ratschläge, wie sie in der Bergpredigt und in den Parabeln, welche er erzählte, vorkommen, einen brüderlichen Sinn annehmen, den sie niemals haben könnten, solange man Jesus nur als einen bloßen Wundertäter ansieht. Von diesem Standpunkt der Brüderschaft der Menschen aus betrachtet, gibt es in der ganzen Laufbahn Jesu nichts Rührenderes, als seine Worte zu Maria Magdalena nach seiner Auferstehung, als er ihr gebot: „Gehe hin zu meinen Brüdern, und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.” Hier hatte Jesus grade über „den letzten Feind, der aufgehoben wird,” triumphiert, wie Paulus den Tod bezeichnet; frisch vom Gipfelpunkt seiner Laufbahn, von der Demonstration der Allmacht des Geistes und der Machtlosigkeit des hartnäckigsten Glaubens der Materie — in diesem selben Augenblicke erklärte er die Lehre der wahren Brüderschaft der Menschen, dadurch, daß er diejenigen als Brüder bezeichnete, die seine schwachen Jünger zu sein schienen, aber die ihm in Wirklichkeit als Gottes Kinder bekannt waren, die einen Vater hatten, seinen Vater, ihren Vater, seinen Gott, ihren Gott. Wenn das vor so vielen Jahrhunderten gesagt worden ist, von demjenigen der am meisten von der Wissenschaft wußte, dann mögen wir uns heute zu seinen Brüdern rechnen, und wir sollten darüber wachen, daß das wahre goldene Zeitalter unseres geistigen Bewußtseins, welches uns die Verfasserin von „Science and Health“ zeigt, niemals durch irgend eine falsche Auffassung angetastet werden möge, welche das Gesetz der Liebe, die goldene Regel, brechen könnte. Alle haben die Versicherung empfangen: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde; denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben.”

Copyright, 1906, Mary Baker G. Eddy.
Verlagsrecht im Jahre 1906, Mary Baker G. Eddy.

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