Der Gedanke der Christen über den Gebrauch materieller Heilmittel bei Krankheit ist im allgemeinen der, daß es die einzigen anwendbaren Mittel seien, um Krankheit zu bekämpfen und daß ihr Gebrauch daher mit dem christlichen Verhalten im Einklang stehe. Einige sind so weit gegangen zu sagen, daß materia medica die rechtmäßige Folge der Heilmethode Jesu sei, trotzdem materielle Mittel schon zweitausend Jahre vor Jesus angewandt worden waren und man sie zweifellos ebenso sehr begehrt und sich auf sie verlassen hatte, wie jetzt. Wie sie gerade dem folgen konnte, was später kam, ist nicht erklärt worden. Eins aber ist sicher, daß Jesus sein eigenes System allen andern vorzog und die schlimmsten Krankheiten mit besserem Erfolg heilte, als materia medica dies heutigen Tages zu tun vermag, nachdem wieder ein Zeitraum von 2000 Jahren verstrichen ist, in welchem sie sich hätte vervollkommnen können. Es ist wohlbegründet anzunehmen, daß der Gründer des Christentums am besten die heilende Kraft seiner Lehre beurteilen konnte und auch, ob seine Nachfolger nach seinem eigenen System oder nach einem andern heilen sollten und eine Prüfung der Geschichte der materiellen Medizin gibt uns keine Berechtigung zu dem Schluß, daß sie der Methode Jesu folgt.
Die, welche behaupten, es stehe im Einklang mit ihrem christlichen Bekenntnis zu Arzneien und Ärzten ihre Zuflucht zu nehmen, tun es, weil sie wähnen, daß das Christus-Heilen, wie Jesus es ausübte, längst dem menschlichen Bereich entschwunden sei. Indem sie dies annehmen, sehen sie den in Frage stehenden Punkt einfach als schon bewiesen an, denn es gibt nicht nur keinen biblischen Beweis für solche Annahme, sondern die Tatsachen widerlegen sie. Die menschliche Vernunft widerspricht auch solcher Annahme, denn wenn wir glauben, das heilende Wirken Jesu sei als Beweis der Güte und Macht Gottes geschehen, folgt naturgemäß daraus, daß ein ähnlicher Beweis immer unter ähnlichen Bedingungen gegeben werden muß. Zu behaupten, die Zeit des christlichen Heilens sei vorbei, weil Christen in der Regel aufgehört haben es auszuüben, ist ebenso unvernünftig, wie anzunehmen, Gottes Vergebung der Sünde hätte aufgehört, weil es so viele Sünder gibt, die sich dieselbe nicht zu nutze machen. Wenn das Telephon aus Nachlässigkeit außer Gebrauch kommen sollte und so jahrhundertelang unbenutzt bliebe, würde es ein Irrtum sein, daraus zu folgern, es habe aufgehört als eine Möglichkeit vorhanden zu sein? Es würde jederzeit vorhanden sein, und seine Fähigkeiten könnten jeden Augenblick wieder entdeckt und wieder benutzt werden. In derselben Weise muß die menschliche Vernunft auch die Frage des christlichen Heilens erledigen. Daß es während so vieler Jahrhunderte außer Gebrauch gekommen ist, ist weder ein Beweis für seinen zeitlichen Charakter, noch gegen sein Wiederaufleben.
Die Entdeckung der Christian Science durch Mrs. Eddy und ihre spätere Gründung der Bewegung dieses Namens sind starke Proteste gegen den Verfall des christlichen Heilens und gegen die Gleichgültigkeit der Kirche darüber. Wenn Christus — Wahrheit — noch bei den Menschen ist, immer noch als Erlöser von allem Übel anzuwenden — und dies ist die dringende Vorstellung der Christian Science — dann kann es keine logischen Gründe zu der Annahme geben, daß wir das Heilen der Kranken nicht wie in früherer Zeit erwarten können. Die Tatsachen, die sich zu Gunsten der Christian Science angesammelt haben, sind zu zahlreich und zu wohlverbürgt, als daß man ohne sorgfältige und gerechte Erwägung darüber hinweggehen oder sie als Zufall bei Seite legen kann. Die Christian Science, bestätigt wie sie es durch die Bezeugung ihrer Behauptungen, durch das Heilen von Krankheit ist, drängt der Christenheit diese Tatsachen auf. Die religiösen Lehrer und Führer der Welt werden gezwungen werden, entweder die Ausübung der materiellen Medizin, als in Harmonie mit dem Christentum stehend, zu verteidigen, oder zuzugeben, daß Jesu Methode die Kranken zu heilen die einzige ist, die mit seinen Lehren vereinbar ist. Die Christen müssen anerkennen, daß der Befehl Jesu inbetreff des Heilens ein beständiges Gebot für seine Nachfolger bleibt oder daß sein wunderbares heilendes Wirken in keiner Beziehung zu seiner nicht weniger wunderbaren Lehre stand. In beiden Fällen befinden sie sich in einem Dilemma, denn im ersten Fall verurteilen sie sich selbst, wenn sie nicht gehorchen, während sie im andern eben die Grundlage des christlichen Glaubens verscherzen. Jesus sagte: „Glaubet mir doch um der Werke willen;” und wies damit auf die unmittelbare Zusammengehörigkeit seiner Werke und Worte hin. Wie indessen auch die Christen diese Frage ansehen mögen, es ist gewiß, daß Amt und Stellung eines Christen heutzutage nicht dieselbe Bedeutung oder denselben umfassenden Sinn haben, die Jesus ihnen beilegte; ebenso wenig können sie diese Ausdehnung erlangen, wenn nicht das Christentum imstande ist, der Not der Welt in dem Maße wie früher abzuhelfen. Die moderne Auffassung des Christentums schließt zu viel Weltlichkeit, zu viel Materialismus und nicht genug Geistigkeit in sich, sonst würde man mehr Interesse zeigen, den Weg zur Gesundheit und Heiligkeit, zum Himmelreich von Jesus Christus zu erlernen. Er sagte: „Ich bin der Weg.”
Die allgemeine Gedankenrichtung ist augenscheinlich die gewesen, die Wunder des Meisters als Vorstellungen eines Wundertäters, als eine Art schauspielerischer Leistung anzusehen, statt der natürlichen und rechtmäßigen Folge seines Verständnisses der Wahrheit, auf besondere Fälle angewandt. Solch ein Glaube konzentriert das heilsame Wirken Jesu auf ihn selbst als auf eine übermenschliche Persönlichkeit; obwohl er dem deutlich widersprach, daß die Macht aus ihm selbst sei, als er sagte: „Ich kann nichts von mir selber thun”; „der Vater aber, der in mir wohnet, derselbige thut die Werke.” Seine ganze Lehre bestätigt diese Behauptungen und weist ferner darauf hin, daß er die Fähigkeit, den Willen des Vaters in dieser Weise zu tun, nicht allein besaß, sondern daß sie allen denen eigen ist, die Gottes Forderungen gehorchen. Es ist klar, daß das Unterlassen der Erfüllung dieser Bedingungen die Ursache ist, daß das göttliche Heilen der allgemeinen christlichen Betätigung abhanden gekommen ist und nicht weil Gott Seine Absichten geändert oder den Sterblichen die Gelegenheit genommen hat, ihn richtig zu erkennen.
Die Rechtfertigung der Ausübung der materiellen Medizin, als von Gott autorisiert und aufrecht erhalten, und als mit Jesu Lehren im Einklang stehend, ist offenbar ein Versuch die Christen ihres Gehorsams gegen Jesu Gebot: „machet die Kranken gesund” zu überheben — ein Gebot, welches positiv, bestimmt und durch nichts gemildert ist. Man braucht nur die Lehre Jesu und die der materia medica über die Ursache von Krankheit und Leiden zu prüfen, um gewahr zu werden, daß keinerlei Ähnlichkeit zwischen ihnen besteht. In seiner Behandlung von Krankheit stellte Jesus seinen Fall unmittelbar auf Gott, während die materia medica Gott ganz und gar übersieht und ihren Fall auf die Materie stützt, sich in bezug auf den Ausgang ganz an die Materie haltend. Zu behaupten, daß irgend welche oder alle der verschiedenen medizinischen und chirurgischen Systeme die rechtmäßigen Folgen des geistigen Systems Jesu sind, heißt die logische Folgerung seiner eigenen Worte übersehen. Solch ein Gedankenzustand möchte die vergeistigenden Wahrheiten des Christentums in den dichtesten Materialismus stürzen, aus dem kein Lichtstrahl den Weg der Sterblichen zum Geiste hin erhellen kann. Das besonders Traurige bei dieser Sache ist, daß so viele christliche Prediger, deren Amt es ist ihre Gemeinde auf den Weg der Wahrheit zu leiten, die Forderungen der materia medica verteidigen im Widerspruch gegen den Ruf der Christian Science zur Wiederbelebung des ersten christlichen Heilens. Welch eine jammervolle Aussicht für jene Unglücklichen, die alle Nebenwege materieller Methoden durchwandert haben, die all ihr Gut in dem Suchen nach Gesundheit vertan und sie nicht gefunden haben und die der Verzweiflung preisgegeben sind und nichts anderes als den Tod ersehnen können! Welch eine Parodie auf das Christentum Jesu, ihnen zu sagen, diese materiellen Grundlagen seien das einzige, worauf sie hoffen könnten an Stelle des Christus-Heilens, zu dem die Mühseligen und Beladenen der Erde eingeladen waren, um Ruhe zu finden.
Der Glaube, daß die Kranken in der jetzigen Zeit keine Hoffnung geheilt zu werden haben können, außer durch das, was diese materiellen Systeme ihnen bieten, ist ein Trug an dem festzuhalten sich die Christen im Andenken an ihres Herrn Leben schämen sollten. Der Weg der Menschheit ist nicht heller geworden bis „auf den vollen Tag,” wenn materia medica der beste Balsam ist, der den Sterblichen in ihrer Krankheit und ihrem Kummer bleibt. Dies ist nicht Fortschritt sondern Rückschritt, wenn wir bedenken in wie reichem Maße Jesus, so viele Jahrhunderte früher, bewies, daß weder Gott noch der Mensch Arzneien braucht, um die Kranken mit Erfolg zu heilen. Materia medica war damals wie jetzt die allgemeine Zuflucht für die Kranken — und doch heilte Jesus die „Unheilbaren” ohne Arznei, — ohne Operation oder Hypnotismus. Er tat dies zum Zeugnis dessen, was das Christentum, die damals neue Religion, für die gequälten Sterblichen tnn konnte und bewies dadurch das Vorhandensein eines höheren Weges, als den des Glaubens an die Materie, auf dem man Gott erreichen konnte. Es ist wahr, daß das Geschlecht, unter dem diese Wunder vollbracht wurden, bald verging, ist es aber wahr, daß dem nächsten und dem darauffolgenden bis auf unsere Zeit nichts blieb als die Geschichte, als nur ein Bericht von dem, was gewesen? Wurde in der Wahrheit, die Jesus lehrte kein lebensvolles Prinzip zum Ausdruck gebracht, das fähig ist bis zum Ende der Zeiten dieselben Begebnisse unter ähnlichen Bedingungen hervorzubringen? Wenn dem nicht so ist, war das Christentum wenig mehr, denn eine flüchtige Idee, eine bloße Sternschnuppe am Himmel des menschlichen Bewußtseins, einen vorübergehenden Strahl von Helligkeit verbreitend und dann für immer verschwindend. Möge Gott sich der Zukunft des Menschengeschlechts erbarmen, wenn die Stimme des heilenden Christus nie wieder diesseits des Todes gehört werden soll, wie sie die Stürme menschlichen Mangels und Elends stillt, gebrochene Herzen heilt und die Kranken gesund macht.
Menschliches Unglück und Elend sollen hier auf Erden ebenso überwunden werden, wie zur Zeit Jesu; Sünde und Krankheit nehmen ebenso überhand wie damals und der Tod schreitet noch wie ein Schreckgespenst umher und sammelt seine Beute. Sicherlich, wenn die Sterblichen je des Christentums bedurften, um sie aus diesen Zuständen zu erlösen, so bedürfen sie seiner jetzt. Die Leidenden auf der ganzen Erde, denen materia medica keine Erleichterung gegeben hat und die sie bekennt nicht retten zu können, bedürfen der Hilfe ebenso sehr wie die Juden, die Jesus vor so vielen Jahren in Palästina heilte. Warum sollte die Christus-Wahrheit nicht auch auf ihre Not angewandt werden? Warum nicht? Hat sich das Christentum ausgelebt, während materia medica durch die Jahrhunderte hindurch gegangen ist und neue Kraft und Hilfe gesammelt hat? Hat Gott aufgehört das Gebet des Glaubens zu erhören oder haben die Christen aufgehört auf Ihn zu vertrauen — was von beiden ist es? Hat das Christentum aufgehört die Kranken zu heilen, weil es nicht imstande dazu ist oder weil es eine bessere Art gibt?
Dies sind nicht oberflächliche oder eitle Fragen, sondern sie sind von tiefstem Interesse und größter Wichtigkeit für die Menschheit. Alle die Zustände, denen Jesus während seines Waltens begegnete, sind heutzutage vorhanden. Es sind dieselben physischen Nöte, dasselbe Bewußtsein der Trennung von Gott, dieselbe Knechtschaft der materiellen Sinne, dieselbe Liebe zum Bösen und auch dieselbe Fähigkeit Wahrheit zu verstehen und in sich aufzunehmen. Was ist also verloren gegangen? was fehlt also heute, die Wahrheit des Christentums oder das Verständnis derselben? Es ist eine anerkannte historische Tatsache, daß die Christen der ersten Kirche die Kranken einzig durch ihre Religion heilten; während die Christen der Jetztzeit gewöhnlich diese heilige Pflicht von sich weisen, als habe sie nichts mit ihrer Religion zu tun. Hat die Kirche einen andern bessern Namen, denn den Namen Jesu Christi um die Menschen aus der Gewalt der Krankheit zu erretten?
Das Grundgesetz der Mathematik nutzt sich nie ab; die verständnisvolle Anwendung desselben bringt heutzutage dieselben Ergebnisse hervor wie vor fünf oder zehntausend Jahren! Es zeigt niemals irgend eine Veränderung oder macht irgend etwas anderem Platz.
Was also ist es mit dem Christentum? Was mit den Lehren Jesu, der sagte „Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen”! Was ist es mit dem Heilen, wenn er seinen Nachfolgern befahl dieselben und sogar größere Werke zu tun! Was mit dem Predigen des Evangeliums weit und weit im Gehorsam gegen sein Gebot und was mit dem Ungehorsam weit und breit gegen sein Gebot auch die Kranken gesund zu machen! Was mit den Entschuldigungen, dem Unglauben, wenn man die Abschiedsworte Jesu bedenkt: „Siehe, Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende”! Was mit allem diesem; was mit der Welt so voll von Weh und Herzeleid und Elend — und so voll zugleich von angeblichen Nachfolgern des großen Wegweisers!
Wie können Christen im Ernst glauben, daß sie nichts Besseres als materia medica haben, um den Kranken und Sterbenden zu helfen, während sie ein so wundervolles Erbe wie das Leben Jesu haben? Als er seine Jünger verließ, herrschte nicht der leiseste Zweifel, daß es je einen andern richtigen Weg als seinen eigenen geben könne, um sowohl die Kranken wie die Sünder zu heilen. Bei welchem Punkt also oder kraft wessen Bevollmächtigung ersetzte materia medica die Christus-Art, dies Werk zu tun? Man sollte irgend ein bestimmtes und zuverlässiges Datum angeben, um die allgemeine Ausrede, die Zeit des Christus-Heilens sei vorüber, zu unterstützen. Dies Datum sollte zum wenigsten ebenso bestimmt und zuverlässig sein, wie das, auf welches wir unsern Glauben an Jesu „Wunder” und an die seiner Jünger gründen. Bloße Behauptungen sind bei keiner Frage entscheidend, viel weniger bei einer, die das Geschick der Menschheit so wesentlich betrifft. Aber es werden keine Daten angegeben, absolut nichts, weder in noch außer der Heiligen Schrift, was solch eine Stellung rechtfertigen könnte. Tatsachen werden von der Christian Science verlangt und gegeben; warum werden sie nicht auch von denen gegeben, die sie und die heilende Wirksamkeit des Christentums leugnen?
Christus sagte: „Ich will euch nicht Waisen lassen.” „Kommt her zu mir. ... Ich will euch erquicken.” Haben diese Worte ihre ursprüngliche Bedeutung für physisch Leidende verloren oder sind materielle Arzneien die einzige Erfüllung, welche sie von diesen köstlichen Verheißungen erwarten können? Wenn körperlicher Schmerz oder der stete Ärger und die Unruhe weltlicher Plackereien den Leidenden so beunruhigen, daß er nicht Ruhe finden kann, wohin soll er sich dann wenden — an das Christus-Heilmittel oder an eine betäubende Arznei, die vielleicht der Anfang einer herabwürdigenden Begierde ist? Wenn der Körper von Fieber glüht oder von Schmerz gefoltert wird, ist es dann das beste, was ein Christ tun kann, sich an die materia medica zu wenden, anstatt an die Wahrheit der Christus-Gegenwart, obwohl Jesus sagte: „Meinen Frieden gebe ich euch; nicht ... wie die Welt giebt”? Dies waren die Behauptungen des großen Gott-ähnlichen Menschen, der die Wirklichkeit des Seins besser verstand als irgend ein anderer in der ganzen Geschichte und der reichen Beweis davon gab, daß die Wahrheit alles tun konnte, was er von ihr verheißen hatte. Die ganze Christenheit stützt die Hoffnung ihrer einstigen Erlösung auf diese Lehren und doch verwerfen viele sie, als ob sie keinen Wert für die Leiden, die den Sterblichen hier zu Teil werden, hätten und nicht mehr angewandt werden könnten. Der Meister selbst legte der Wahrheit, die er lehrte, keine solche Grenzen auf, weder was Zeit noch was Raum, noch was die Person betrifft; und er der alles am besten verstand, sollte am besten wissen, was Wahrheit tun kann. Die einzigen Begrenzungen, auf die er hinwies, betrafen den Glauben und den Gehorsam seiner Nachfolger.
Jesus wies in unverkennbaren Ausdrücken auf das Kommen einer völligeren Offenbarung der Wahrheit, als die, welche er gegeben hatte hin, durch welche die Sterblichen den Vater klar erkennen lernen sollten. Es ist nur natürlich anzunehmen, daß, wenn seine Nachfolger zur vollkommneren Erkenntnis Gottes fortschritten, auch ihre Fähigkeit, die Werke ihres Vaters zu tun, zunehmen würde. Dies Wachsen in der Geistigkeit sollte ein erweitertes Verständnis des geistigen Gesetzes und der geistigen Macht und eine dementsprechende Loslösung von materialistischen Glaubensanschauungen mit sich bringen. Es ist richtig zu erwarten, daß je besser man irgend eine Wahrheit versteht, um so besser ist man imstande sie zu bezeugen. Wenn wir also zugeben, daß dies wahr ist, so läßt sich dieselbe Regel auf das Christentum anwenden. Wenn Krankheit von Jesus und seinen Jüngern durch ihr Verständnis der Christus-Wahrheit und ihrer Macht geheilt wurde, dann sollten diese Resultate sich nicht verringern, sondern vermehren, wenn das Christentum besser verstanden und in weiterem Maße angenommen wird. Daß dies nicht der Fall gewesen ist, läßt sicherlich das Nichtvorhandensein oder die Abnahme des Glaubens und der Treue der Christen vermuten, aber es bietet keine Grundlage für das Argument, daß materia medica jetzt das Amt des Christus-Arztes einnimmt. Es ist tatsächlich schwer sich vorzustellen, wie jemand, der irgendwie in den gewöhnlichen ärztlichen Methoden bewandert ist, denken kann, daß sie in irgend einer Weise den Beweis der christlichen Wahrheit, so wie das heilende Wirken Jesu sie zeigte, bieten; oder daß materia medica auch nur im entferntesten ein rechtmäßiger Ersatz der, von Jesus und seinen Jüngern angewandten, Methode sein könne. Abgesehen von dem Gebrauch gefährlicher und giftiger Arzneien durch die materia medica von deren guter oder schlechter Wirkung in den verschiedenen Fällen sie nichts Sicheres weiß, sollten ihre erschreckenden Berichte über Versehen und Mißlingen in überwältigender Weise jeden Anspruch an ihre Ähnlichkeit in der Theorie wie in der Praxis mit dem nie fehlenden wohltätigen und erfolgreich heilenden Wirken Jesu zu nichte machen. Möchte doch kein ernster Christ durch solch einen trügerischen Anspruch irregeführt werden. Wenn Gott einen Ersatz für die Christus-Methode im Heilen der Kranken verlangt, wird Er auch eine andere Methode zur Erlösung der Sünder verlangen. Jesus vereinigte diese beiden als zur christlichen Ausübung gehörend; wer ist also bevollmächtigt sie zu trennen?
Materia medica gibt nur „wie die Welt giebt.” Da sie nichts als Materie kennt, hat sie keine geistige Erkenntnis mitzuteilen. Sie besitzt keine Eigenschaft der Liebe oder der Barmherzigkeit. Sie hat keinen Balsam für Kummer, kein Gegenmittel für Haß, kein Heilmittel für Unruhe, keine Erlösung für den Lasterhaften, keine Befreiung von Todesfurcht. Sie hat keine Hoffnung und erkennt außerhalb der Materie keine an. Sie hat sogar in sich selbst wenig Vertrauen und gar keins in Gott, Geist. „Gefahr” steht über ihrer ganzen Praxis geschrieben. Jesus sagte: „Fürchtet euch nicht,” während die Botschaft der materia medica voll von dem Wort Furcht ist. Sie umgibt ihre Patienten, die sie in die Atmosphäre der Sicherheit und des Friedens hineinheben sollte, jeden Augenblick des Tages, wo sie gehen und stehen und was sie auch tun mögen mit der Furcht vor diesem und jenem. Welch ein kläglicher Ersatz, wenn sie beansprucht ein solcher Ersatz für den christlichen Glauben und das Vertrauen oder für das heilende Walten Jesu zu sein, in dem sich keine Gefahr, kein Mißlingen, kein Versehen befand. Was gibt es in materia medica oder was hat es während der ganzen viertausend Jahre ihres Bestehens gegeben, was je auch nur den Saum des Gewandes des Großen Arztes berührt hätte?
Die Lehren Jesu und die Lehren der materia medica sollten etwas mit einander gemein haben, wenn sie aus derselben Quelle stammen und dasselbe Werk vollbringen; inwiefern aber sind sie sich ähnlich? Jesus lehrte seine Nachfolger die schirmende Fürsorge Gottes, in der nicht einmal ein Sperling vom Dache fällt, ohne daß der Vater es weiß: während materia medica lehrt, daß wir beständig an allen Orten der Krankheit und dem Unglück ausgesetzt seien. Jesus lehrte, daß nichts Macht hatte denen, die an ihn glaubten, zu schaden, nicht einmal, wenn sie aus Versehen etwas „Tötliches” trinken würden. Materia medica leugnet alle diese Behauptungen. Sie leugnet, daß das Christentum irgend ein Schutz vor Giften oder vor Übertretungen des materiellen Krankheitsgesetzes ist. Sie leugnet die heilende Kraft des christlichen Glaubens und Gebetes oder daß Gott irgend eine Krankheit heilen kann, die von den Ärzten für unheilbar gehalten wird. Dies ist freilich eine sonderbare Stellung des Heil-Systems, was so viele Christen als ein göttlich verordnetes verteidigen und was angenommenermaßen die Heilmittel braucht, die Gott gegeben hat.
Wie kann materia medica rechtmäßigerweise das heilende Amt des Christentums ersetzen, wenn es für den Erfolg des Arztes gleichgültig ist, ob er ein Christ oder ein Ungläubiger ist? Ihren eigenen Anschauungen zufolge ist es nicht erforderlich, daß ihre Patienten oder Ärzte überhaupt an Gott oder an Christus glauben; es ist nicht einmal notwendig, daß sie ehrlich, aufrichtig oder rein sind. Wie kommt es also, daß Christen aller Klassen zu einem System ihre Zuflucht nehmen, was so ganz „abgesondert von Gott” ist, in dem Glauben, daß es der Weg sei, den Gott für sie bestimmt habe? Wie kann irgend ein christlicher Geistlicher oder Laie von solchem System behaupten, daß es den Bedürfnissen der Menschen in so göttlicher Weise helfe, daß von den Christen nicht mehr verlangt werde, so zu heilen, wie ihr Herr. Wo ist die Möglichkeit der Verwandtschaft, die diese Methoden mit derjenigen Jesu haben kann, wenn sie das genaue Gegenteil lehren und ihre Gläubigen nach entgegengesetzten Richtungen führen? Die eine führt zum Leben, die andere zum Tode; die eine zur Befreiung vom Fleisch, die andere zur Sklaverei unter dasselbe; die eine zu Hoffnung, zu Freude und Gesundheit, die andere zu Furcht, Verzweiflung, Krankheit. Nach welcher von diesen beiden Richtungen führt das Christentum die Menschen? Wer ist je ein besserer Christ geworden infolge der Medizinen, die er genommen oder infolge der chirurgischen Operationen, denen er sich unterzogen, oder der Diät, die er inne gehalten hat? Und doch, wenn es wahr wäre, wie so viele Leute behauptet haben, daß diese materiellen Mittel und Methoden von Gott seien, dann würde ihr Gebrauch die Menschen zu Gott hinführen und die Gott-ähnlichen Eigenschaften an den Tag bringen, die Er im Menschen zum Ausdruck brachte, die aber von Krankheit, wie auch von Sünde, dem Glauben nach, verdunkelt werden. Wenn diese materiellen Kräfte von Gott und darum gut sind, kann sicherlich kein Schaden durch sie veranlaßt werden; und doch, wo ist der Arzt, zu welcher Schule er auch gehöre, der solch eine Stellung zu der Sache nehmen möchte? Wer von denen, die diese Voraussetzung annehmen, will bei der Schlußfolgerung bleiben, so wahr und logisch diese auch ist?
Jesus lehrte durch sein ganzes Wirken und Walten, daß Gott das Leben des Menschen ist; materia medica lehrt im Gegenteil, daß das Leben in Materie sei. Jesus sagte „Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet;” materia medica sagt: du mußt sehr acht geben, auf das was du ißt und trinkst, damit Leben und Gesundheit nicht gefährdet werden. Jesus sagte, daß die, welche seine Gebote halten, nicht sterben sollten; materia medica sagt: du mußt sterben — einerlei, was du tust, einerlei, was du glaubst, einerlei, was für ein guter Christ du bist. Jesus lehrte, daß die, welche an ihn glaubten, die Kranken in seinem Namen heilen sollten; materia medica sagt, daß unser Glaube an Christus nichts mit dem Heilen der Krankheit zu tun hat. Welches von diesen beiden Zeugnissen müssen wir als Christen annehmen? Welche von diesen beiden entgegengesetzten Lehren ist dazu geeignet die besten Christen aus uns zu machen, — unser Näherkommen zur Gottähnlichkeit zu beschleunigen?
Das Christentum ist von Gott. Jesus sagte: „Ich bin vom Vater ausgegangen.” Materia medica hatte ihr Entstehen im Heidentum, eingehüllt in Aberglauben und Täuschung. Durch die ganzen vierzig Jahrhunderte ihrer Laufbahn ist sie ihrer Abstammung immer treu geblieben, hat nie die Bahn des Materialismus verlassen, sich nie auch nur im geringsten zum Geist — Gott — emporgeschwungen, nie auch nur den ersten Schimmer des geistigen Gesetzes erfaßt. In dieser ganzen Zeit hat sie nie ein Mittel entdeckt, auf das sie sich in irgend einem Fall absolut verlassen kann; und heutzutage steht sie mit ihrer langen Geschichte von Experimenten, Forschungen und mit ihrer Praxis hilflos vor einer langen Liste von Krankheiten, für die sie zugibt, keine Heilung zu haben. Jesus sagte: „Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstoßen;” und wiederum, auf den Glauben seiner Jünger hinweisend, sagte er wenn er auch nur wie ein „Senfkorn” ist, „werdet ihr nichts unmöglich finden.” (Neues Testament des zwanzigsten Jahrhunderts, eng. Text.)
Was immer in der Vergangenheit genügt haben mag, um die Christen zu verhindern, die heilende Macht des Christentums auszuüben, so ist ihre Pflicht in dieser Hinsicht nicht länger eine offene Frage. Vor dem, was die Christian Science in ihrer Mitte bezeugt, die alle Arten von Krankheit durch kein anderes Mittel als das Gebet des Glaubens und Verständnisses heilt, bietet die frühere Entschuldigung, diese Dinge seien nicht möglich oder würden nicht von ihnen verlangt, keine Zuflucht mehr. Die Christian Science erhebt Einspruch gegen die Trennung des Heilens und des Christentums, welche Jahrhunderte der Unwissenheit und des Unglaubens zu bewirken versucht haben, und sie hält die Pflicht der Christen aufrecht, alle Gebote Jesu zu beobachten, das ganze Gesetz und Evangelium zu halten, wenn sie ganze Christen sein und völlig erlöst werden wollen.
Der Erfolg der Christian Science widerlegt alles, was für die materia medica beansprucht worden ist, als in irgend einem Sinne ein von Gott verordneter Ersatz für die Christus-Methode unseres Meisters zu sein. Sie heilt nicht nur die Kranken mit Erfolg ohne Arznei oder Operation oder Hypnotismus, sondern heilt, was diese materiellen Methoden unmöglich gefunden haben. Sie hat keine schädlichen Nachwirkungen zu bekämpfen, keine Nachernte schlechter Gewohnheiten, keine verhängnisvollen Versehen durch falsche Rezepte oder verkehrte Operationen. Sie erschreckt, oder entmutigt ihre Kranken nie, sondern umgibt sie mit der Wahrheit der absoluten Unendlichkeit Gottes. Sie bemüht sich das menschliche Denken über die Atmosphäre seines irrigen Glaubens an das Übel zu erheben zu den sonnenbeschienenen Höhen des christlichen Hoffens und Glaubens, zur Erkenntnis, daß Gott, das Gute, das einzige Leben des Menschen ist. Allen Ernstes und ohne Vorurteil, angesichts des ungeheuren Problems der menschlichen Erlösung und hinblickend auf die große Masse der Menschheit die, wie sie es vor Jahrhunderten tat, noch mit ihrem unaufhörlichem Elend und ihrer Angst ringt, welches dieser beiden Systeme, wenn nach ihren Lehren, ihrer Geschichte und ihrem Erfolg beurteilt, verdient mehr den Namen Christlich und Wissenschaft? welches kommt der Christus-Methode Jesu am nächsten?
Es möge wohl verstanden sein, daß dieser Artikel in keiner Weise eine Anklage gegen die Ärzte ist, von denen die meisten die höchste Achtung als ernste Männer und Frauen einflößen. Sie weihen ihr Leben dem heiligen Bestreben menschliches Leiden zu lindern und daß sie sich irren in ihren Auffassungen und Methoden ist das Unglück einer Erziehung, die sie eben so tief beklagen würden wie wir, wenn sie nur den bessern Weg der Christian Science kennten. Die Christian Science bekämpft weder den ärztlichen noch einen andern Beruf, sondern sie wirkt für die volle Erkenntnis des Christentums, das in dem Lehrbuch der Christian Science hingestellt wird als der einzige Weg der Erlösung für die Sterblichen von Krankheit, Sünde und Tod.
Copyright, 1907, Mary Baker G. Eddy.
Verlagsrecht 1907, Mary Baker G. Eddy.
