Die Geschichte von Noah und der Arche hat in meinem Gedächtnis von jeher eine hervorragende Stelle eingenommen, denn sie ist mir ein Symbol der zärtlichen und schützenden Liebe Gottes, die in dem geistigen Wohnort, welcher stets über den Gewässern des materiellen Wahrnehmungsvermögens schwebt, wirkt und waltet. In der Beschreibung des Baues der Arche, im 1. Buch Mosis, finden wir einen Umstand, welcher sehr betont ist, und dessen nähere Betrachtung uns Aufschluß darüber gibt, wie wir den Anmaßungen des Übels kräftigen Widerstand leisten und wie wir dieselben vernichten können. Als Jesus seine Jünger zum Angriff auf die scheinbaren Mächte der Finsternis vorbereitete, sagte er: „Wenn dein Auge einfältig [einfach, nicht doppelt] ist, so wird dein ganzer Leib licht sein.”
Noah folgte der göttlichen Leitung Christi, der Wahrheit, und deshalb versah er die Arche mit nur einem Fenster, welches sich „oben an” befand; d. h. welches sich gegen den Himmel und nicht der Erde zu öffnete. Er sah die Anmaßungen des Übels mit klarem Blick, und er hielt sich deshalb bereit, dem Übel zu widerstehen, sich auf dessen Oberfläche zu behaupten und die Offenbarung der alleinigen Existenz des Guten abzuwarten. Er wußte gar wohl, daß das Übel seiner eigenen grauenhaften Zerstörung unaufhaltsam entgegen eilt, lebte aber zugleich in der Gewißheit, daß er mit den Seinen in der Betrachtung des Waltens Gottes, des Guten — der einzigen Wirklichkeit — einen sicheren Schutz hatte.
Der Sturm war unbeschreiblich in seiner Wut; aber Noah sah ihn nicht. Ringsum war grauenhafte Zerstörung; aber Noah sah nur Leben. Er wäre wohl von der Not und der Gefahr um ihn her überwältigt worden, wenn er ihnen seine Aufmerksamkeit geschenkt und wenn er sie als Wirklichkeit angesehen hätte; sie waren jedoch außerhalb seines Gesichtskreises, denn sein Blick war nach oben gerichtet. Er sah keine drohenden Wasserfluten; er sah nur den unendlichen Himmel des Friedens und der Harmonie, denn sein Fenster öffnete sich in der Richtung dessen „das droben ist.” Daraus erklärt sich seine Errettung und die Errettung derer, die mit ihm in der Arche waren.
Die alten Angewohnheiten des falschen Denkens, sowie der Wahn, daß nicht nur das Gute, sondern auch das Böse der Wirklichkeit angehöre, hat uns allen schon manche Kämpfe gekostet. Wir sollten daher den Wert des einfältigen Auges bis zu einem gewissen Grade kennen. Wenn wir zwei verschiedene Ansichten über eine gewisse Sache vor uns haben, so müssen wir uns für eine derselben entscheiden und dieselbe behaupten. Die falsche und unharmonische Ansicht schien uns zuweilen so wirklich und unwiderstehlich, daß wir uns ernstlich fragen mußten: Woran glaube ich am meisten, an das Böse oder an das Gute? Was erkenne ich als Wirklichkeit an, das Böse oder das Gute? Welches von beiden soll ich überhaupt im Auge haben, das Böse oder das Gute? Früher oder später müssen wir uns für das Gute entscheiden. Wenn wir diesen Punkt erreicht haben, sind wir geborgen, denn wir werden zur Oberfläche der Fluten emporgehoben; wir steigen auf den Wellen höher und höher, bis wir auf den himmlischen Höhen, in der Gemeinschaft Gottes, unseren Ruheort gefunden haben. Solange Petrus seinen Blick unverwandt vorwärts auf Christum richtete, konnte er auf den Wellen dahin schreiten; sobald er aber nach unten auf die schäumenden Wellen schaute, sobald er anfing, den Raum zwischen sich und Christo zu berechnen, verließ ihn sein Glaube und er begann zu sinken. In seiner Not rief er: „Herr, hilf mir!” Dann gab ihm Jesus den Verweis. O du Kleingläubiger, warum zweifelst du?”
Auf seiner letzten Reise nach Jerusalem erkannte Jesus das Übel, welches sich anschickte, ihn ans Kreuz zu nageln; aber er sah zugleich auch die Auferstehung. Es hätte ihm wohl der Gedanke kommen können, daß sein schmachvoller Tod und seine scheinbare Niederlage den göttlichen Ursprung und die Wahrheit seiner Lehren und großen Taten Lügen strafen werde; daß ihm niemand mehr Glauben schenken werde, da er doch gesagt hatte: „So Jemand mein Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich”; daß alle Leute vor seinem scheinbaren Mißerfolg zurückschrecken und ihn verlassen würden. Dachte er so? Nein, er hatte kein Auge für die Niederlage, er sah keine Schande und kein Mißlingen, sondern mit unerschütterlichem Vertrauen auf die Macht des Guten und im Besitze seines einfältigen, geistigen Auges rief er mit freudiger Stimme: „Und Ich, wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen.” Dadurch wurde der Tod „verschlungen in den Sieg.”
Heutigen Tages ist die Welt erstaunt über das beharrliche Vorwärtsgehen und die fast mehr als menschliche Fähigkeit einer alleinstehenden Frau, welche allen gegen sie gerichteten Waffen erfolgreichen Widerstand geleistet hat. Die Entdeckerin und Gründerin der Christian Science ist seit vierzig Jahren allen Ränken und Angriffen, mit welchen das Übel das Gute zum Schweigen bringen möchte, siegreich entgegen getreten. Auf den sich emportürmenden Wogen des menschlichen Hasses stieg sie höher und höher, hinauf zur göttlichen Liebe, welche ihre Feinde segnet. Sie ist außer dem Bereich des Zerstörers, sicher in Gott, weil ihr Auge immer einfältig war für das Gute. Mrs. Eddy lehrt und demonstriert, daß es nur eine Wirklichkeit gibt, nämlich Gott, das Gute, und Seine Idee. Alle ihre Lehren und Handlungen sind in Übereinstimmung mit diesem fundamentalen Lehrsatz, und tagtäglich ist es ihr Bestreben, die Unwirklichkeit alles Übels, der Sünde, der Krankheit und des Todes, zu behaupten und zu beweisen. Ihre sämtlichen Schriften sowohl als auch ihr Beispiel überzeugen uns von ihrer unerschütterlichen Treue gegen Gott und Sein Wort — gegen das Gute, das Leben, die Wahrheit und die Liebe.
Die Christian Science bietet eine Arche der Zuflucht, indem sich ihr einziges Fenster nach oben, nach Gott, nach dem Himmel, der Harmonie, der Liebe hin öffnet. Wer in dieser Arche Zuflucht sucht, wird nie überwältigt, mögen die Wasserfluten auch noch so grauenerregend sein, denn sie sehen dieselben gar nicht. Sie sind sich zwar der falschen Anmaßungen des Übels wohl bewußt und bleiben wachsam bis ans Ende; aber sie weigern sich, ihren Blick auch nur auf einen Augenblick von Gott und seinen herrlichen Wahrheiten abzuwenden. Ferner wissen sie, daß der laute Donner des Übels nur ein Vorwand des Teufels ist, um ihren Blick von Gott abzulenken. Das Licht der allgegenwärtigen Liebe, der Sonnenstrahl des auferstandenen, lebendigen Christus strömt durch unser offenes Fenster und erleuchtet alles, innerlich wie äußerlich, mit Frieden, Glückseligkeit und einer unbeschreiblichen Seelenruhe; die Fluten nehmen immer mehr ab, bis endlich unsere Arche auf dem Gebirge Ararat ruht. Die Oberherrschaft des Guten trägt den Sieg davon, und das Übel, der Haß, der Neid, die Rachsucht und die Zerstörungssucht verschwinden, wenn der Blick unverwandt auf den neuen Himmel und die neue Erde — auf die erneuerte Welt gerichtet ist.
