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Der goldene Mittelweg.

Aus der November 1909-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Christian Scientisten sind oft beschuldigt worden, daß ihre Ansichten sehr extrem seien. Diese Beschuldigung wird in der Regel nicht durch irgendeine Tat ihrerseits veranlaßt, sondern durch unvorsichtige Bemerkungen. Man darf wohl mit Bestimmtheit behaupten, daß in den allermeisten Fällen jenes unruhige Glied, die Zunge verantwortlich zu machen ist. Der Anfänger im Studium der Christian Science, welcher vor Enthusiasmus und neuer Hoffnung übersprudelt, bereitet sich gar oft Unannehmlichkeiten. Er hat einen Blick getan in das neuentdeckte Reich des Geistes, auf seine gegenwärtigen und zukünftigen Möglichkeiten, und fühlt nun den Drang, jedermann die frohe Botschaft zu verkündigen. Die Wahrheit schmeckt so süß, daß er sie mit all seinen Freunden und Verwandten teilen möchte. Sie hat ihm geholfen und er weiß, sie kann auch ihnen helfen. Seine Folgerung ist richtig, und weil sie richtig ist, kommt er leicht in Versuchung, mehr zu sagen als er beweisen kann; mit andern Worten: er spricht über vieles, was er noch nicht versteht. Er hat keinen Begriff von der Mannigfaltigkeit und Verkehrtheit des menschlichen Denkens. Er sieht nicht, daß er absolute Behauptungen aufstellt, die dem unvorbereiteten und unempfänglichen Bewußtsein notwendigerweise ein Stein des Anstoßes sein müssen. Er denkt nicht daran, daß es viele Leute gibt, die es darauf abgesehen haben, ihn in seiner Rede zu fangen. Erst wenn es ihm klar wird, daß er es mit einer ungläubigen und verkehrten Art zu tun hat, sieht er ein, daß es „eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden” gibt. Erst nachdem er sich die Klugheit der Schlange und die Harmlosigkeit der Taube angeeignet hat, hält er den goldenen Mittelweg inne zwischen dem Zuvielsagen und dem Zuwenigsagen. Unser Meister muß eine klare Erkenntnis dieser Tatsache gehabt haben, als er zu seinen Jüngern sagte: „Siehe, Ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben”; und bei einer andern Gelegenheit sprach er die folgenden scharfen Worte: „Ihr sollt das Heiligtum nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, auf daß sie dieselbigen nicht zertreten mit ihren Füßen, und sich wenden und euch zerreißen.

Jesus muß den goldenen Mittelweg in allen Dingen erkannt haben. Er machte nie aus einer Mücke einen Elefanten. Obgleich er einen geistigen Standpunkt einnahm, so war er doch mehr praktisch als theoretisch. Er sprach nur von solchen Dingen, deren Anwendbarkeit auf menschliche Bedürfnisse er bewiesen hatte; daher der gewaltige Eindruck seiner Rede. Er hatte unbegrenztes Vertrauen auf seine Worte, weil sie seiner Weisheit, Vorsicht und Erfahrung im Demonstrieren entsprangen. Kein wahrer Christ wird behaupten, daß Jesus je ein unnützes Wort redete. Er sprach das rechte Wort zur rechten Zeit, denn er war sich stets der Gegenwart Gottes, des Guten, der einen allwaltenden Weisheit des Weltalls bewußt. Er erkannte keinen andern Geist, keine andre Macht, keinen andern Einfluß an, und nur dies gab ihm die nötige Weisheit, die Behauptungen des Widersachers zu widerlegen.

Christian Science betont keinen Punkt mehr in Bezug auf das ewige Leben, als die Notwendigkeit, den goldenen Mittelweg innezuhalten — sowohl in der Rede wie auch im Handeln. Unsre Führerin weist ihre Nachfolger in allen ihren Schriften darauf hin, wie notwendig es ist, die vorteilhafte Stellung einzunehmen, von wo aus man die Wahrheit klar genug erkennen kann, um den Irrtum aufzudecken und zu zerstören, ohne jedoch denselben zu vergrößern oder seine Wirklichkeit zuzugeben. Nirgends sagt sie, daß man den Irrtum ignorieren oder ihm ausweichen dürfe. Der unachtsame und oberflächliche Metaphysiker mag wohl erklären, der Christian Scientist ignoriere das Übel und gebe sich für gerecht aus. Dies ist nicht der Fall. Der Scientist weiß nur zu gut, daß er den Angriffen der Sünde mutig entgegentreten und dieselbe Schritt für Schritt überwinden muß. Mit andern Worten: man kann Frömmigkeit nicht dadurch erlangen, daß man sich für fromm und gerecht ausgibt, sondern dadurch, daß man den Glauben an das Übel mit Gutem vernichtet. Wie dies bewirkt werden kann, ist eine wichtige Frage.

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