Zwei Freunde begegneten sich und kamen ins Gespräch. Dem einen schien der Tag trübe und die Luft unangenehm, auch sprach ihn das Singen der Vögel durchaus nicht an. Der andre fand den Vogelgesang reizend, die Blumen erfreuten ihn und das Murmeln des Bächleins, welches am Garten vorbeifloß, klang ihm wie angenehme Musik. Seiner Auffassung nach atmete die ganze Natur den tiefsten Frieden, und es blühte ihm rings umher nur Glück und Freude.
Er sagte zu dem andern: „Nun, wenn Ihnen der Arzt nicht helfen kann, warum wenden Sie sich nicht der Christian Science zu?”
„Das habe ich getan. Ich erhielt eine ganze Woche lang Beistand, aber ohne Erfolg. Es scheint das nichts für mich zu sein”, war die Antwort.
„Sie haben Wohl längere Zeit materielle Mittel versucht?”
„Ja gewiß; ich habe so ziemlich alle Mittel angewandt, die mir als Probat angepriesen wurden.”
„Sie haben wohl die ‚alte Schule‘ zuerst versucht?”
„Jawohl. Ich wurde sechs Jahre lang nach den Regeln dieser Schule behandelt und hatte während dieser Zeit zehn Ärzte. Ich weiß also, daß ich in dieser Richtung keine Hilfe zu erwarten habe.”
„Und den andern Schulen gaben Sie nur wenig Gelegenheit ihre Wirkung zu beweisen?”
„Ach nein. Ich versuchte die eine vier Jahre lang und hatte ebensoviele Ärzte. Eine zweite versuchte ich zwei, und eine dritte drei Jahre lang. Da nun weder Ihr Mittel, noch irgendein andres mir helfen kann, so weiß ich wirklich nicht, was ich weiter tun soll.”
„Nun bitte ich Sie aber, war es recht und billig, daß Sie mein Mittel, wie Sie es zu nennen belieben, nur einige Tage anwandten, nachdem Sie doch jahrelang Arzneimittel eingenommen hatten?”
„Ich verstehe eben die Christian Science nicht.”
„Verstanden Sie die Arzneimittel, welche Sie jahrelang einnahmen?”
„Allerdings nicht.”
„Verstanden Sie, warum die verschiedenen Medizinen verschiedene Wirkungen auf Sie hatten, oder wußten Sie, was die Bestandteile der Arzneien waren, die Sie einnahmen?”
„Nein, in der Regel nicht; ich denke jedoch, ein Mittel wirkte in dieser und ein andres in jener Weise auf mich, weil es verschiedenartige Bestandteile hatte.”
„Warum aber wirkt ein Arzneimittel heute anders auf eine Person als gestern, und warum hat es am dritten Tage gar keine Wirkung? Oder warum bringt ein und dasselbe Arzneimittel diesem Kranken Erleichterung während es bei jenem, der die gleiche Krankheit hat, ohne Wirkung bleibt?”
„Ja, das weiß ich nicht. Wie erklären Sie die Sache?”
„Ich denke die unterschiedliche Wirkung kommt daher, weil der mentale Zustand ein und derselben Person zu verschiedenen Zeiten ein andrer ist, oder weil sich nicht alle Personen in demselben mentalen Zustand befinden. Daraus geht hervor, daß die Heilung oder irgendeine andre Wirkung auf mentale Wirkungen zurückzuführen ist. Sie sagen, Sie hätten von Kindheit an gehört, daß die Medizinen, welche Sie eingenommen haben, von Gott bestimmt seien. Wie kommt es nun, daß eine gewisse Medizin einen Menschen zu kurieren scheint, während man dieselbe Medizin als Gift den Ratten gibt, um sie zu töten?”
„Das weiß ich nicht, es sei denn von wegen der verschiedenen Stärke der Dosis.”
„Wenn aber eine kleine Dosis wohltuend wirkt, so sollte doch eine größere noch wohltuender wirken — d. h. wenn das Mittel von Gott kommt. Ferner steht nirgends geschrieben, daß Gott oder daß Christus Jesus sich materieller Mittel bedient hätte, um zu heilen; hingegen lesen wir in der Heiligen Schrift:, Und Asa ward krank an seinen Füßen ... und suchte auch in seiner Krankheit den Herrn nicht, sondern die Ärzte. Also entschlief Asa mit seinen Vätern.‘ Hieraus geht doch hervor, daß es unrecht ist, sich in Krankheitsfällen auf Arzneien zu verlassen.”
„Wollen Sie mir bitte sagen, warum nicht ein jeder in der Christian Science geheilt werden kann?”
„Ein jeder kann geheilt werden. Um jedoch die Heilung rasch zu erlangen, muß der Kranke für die Hilfe empfänglich sein. Nicht alle, die zu Jesu kamen, wurden sofort geheilt, denn viele waren nicht bereit, ihre Sünden und bösen Gewohnheiten aufzugeben. Ehe der Mensch sich bekehren kann, muß er gewillt sein, die Sünden zu meiden — das Böse im Denken und Handeln abzulegen. Etwas von dem Irrtum im menschlichen Bewußtsein muß aufgegeben werden, damit die geistige Wahrheit Raum gewinne, denn nur in dieser Weise kann der Kranke gesund werden. Wie kann denn die Heilung von Sünde und Krankheit erfolgen, ehe der Kranke bereit ist, das Seinige zu tun? Nicht nur der Vertreter, sondern auch der Leidende hat eine Aufgabe zu erfüllen. Wenn letzterer dies nicht einsieht, so wird er Wohl auf die Heilung warten müssen. Jesus sagte zu dem Jüngling, welcher ihn fragte, was er tun müsse, um das ewige Leben zu ererben: ‚Eines fehlet dir. Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach.‘ Aber der Jüngling tat nicht, wie ihm Jesus gebot und erhielt deshalb zu jener Zeit nicht die gewünschten Segnungen.”
„Wenn ein Mensch durch materielle Mittel schneller Erleichterung erlangt als durch geistige, ist es deshalb, weil sein Denken mehr auf das Materielle gerichtet ist?”
„Ein Mensch, der keine sofortigen Resultate sieht, hat keinen Grund mutlos zu sein, wenn er eingesehen hat, daß er noch nicht alles getan hat, was er tun sollte und was er imstande ist zu tun. Ein Jüngling, der gestern die Universität bezog, wird den Kopf nicht hängen lassen, weil er nicht heute schon seine Studien absolvieren kann. Es mag vier Jahre dauern, ehe er fertig ist; er wird sich aber nicht am Ende jedes Jahres Sorge machen, weil er noch nicht promovieren kann. Es ist ihm nicht in erster Linie um ein Diplom zu tun, sondern um das Sammeln von Kenntnissen. So sollte es auch bei dem Kranken sein, der sich wegen Heilung an die Christian Science wendet. Er darf nicht den Mut verlieren, wenn er nicht gleich am ersten oder zweiten Tage nach Beginn des Studiums dieses weitreichenden Gegenstandes geheilt worden ist. Er hat vielleicht nicht genug Liebe, um sofort Harmonie zu erlangen, oder er wird noch von irgendeiner Art der Furcht beherrscht, oder er muß erst, wie einstmals Naemann, das eigne Ich aufgeben, oder er muß sich ein besseres Verständnis aneignen, ehe genug Licht in sein Bewußtsein dringen kann, um alle Schatten zu verscheuchen. Wer die Bibel an der Hand unsres Textbuches „Science and Health“ ehrlich und fleißig studiert und bestrebt ist, die erkannte geistige Wahrheit in sich auszunehmen und zur Anwendung zu bringen, wird sich nicht beklagen, daß er noch nicht völlig von Sünde und Krankheit geheilt ist.”
„Aus dem Gesagten geht also hervor, daß der Kranke selbst etwas zu tun hat.”
„Ja gewiß”, fuhr der Freund fort. „Der Kranke muß danach trachten die Wahrheit der Bibel in praktischer Weise zu erfassen, anstatt in erster Linie ans Heilen zu denken. Wenn die Wahrheit sein eigen geworden ist, so ist er geheilt und kann andre heilen.”
„Wie kann eines Menschen Gemütszustand, wie kann sein Denken Heilung bewirken?” fragte der andre.
„In Jesu Gleichnis von den zwei Männern, die hinauf in den Tempel gingen zu beten, sagte der eine:, Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die andern Leute‘. War diese Selbstgerechtigkeit für die Wahrheit empfänglich? Angenommen nun, ein solcher Mensch hätte ein Leiden, das die Ärzte nicht heilen können, und würde sich dann um Heilung an einen Vertreter der Christian Science wenden. Dieser erteilt ihm eine Zeitlang Beistand, aber scheinbar ohne Erfolg, und der Kranke wundert sich, warum er nicht gesund wird. Es wird weiter Beistand erteilt, aber immer noch tritt keine Besserung ein. Der Patient denkt bei sich selbst, er habe doch immer ein rechtschaffenes Leben geführt, habe niemals einen Mitmenschen betrogen, habe den Sabbat heilig gehalten, sei zur Kirche gegangen und habe sein ganzes Leben lang alle Beleidigungen vergeben, außer denen, die absolut unerträglich waren. Es ist sein Bestreben gewesen, das zu tun, was ihm der Vertreter vorgeschrieben hat. Er hat die Bibel und „Science and Health“ gelesen, hat, während er den Beistand in der Christian Science erhielt, keine Medizin eingenommen, obgleich Pillen und Pulver immer noch bei der Hand waren, da er dachte, er habe sie vielleicht wieder nötig, falls die Christian Science doch nicht die gewünschte Wirkung haben sollte. Mehr Beistand wird erteilt, vielleicht ohne Erfolg. Dann läßt er die Sache fallen und kehrt zu seiner Medizin zurück.
„Der Zöllner geht ebenfalls zu einem Vertreter der Christian Science, möglicherweise mit der gleichen sogenannten unheilbaren Krankheit behaftet. Er fragt, ob Gott ihm, dem Sünder gnädig sein könne. Es ist ihm mehr daran gelegen, daß Gott ihn von seiner Missetat befreie und ihm seine Sünden vergebe, als daß Er ihn heile. Er scheint sehr beunruhigt zu sein wegen irgendeines Unrechts, das er begangen, oder einer Pflicht, die er versäumt hat. Er ist demütig, gesteht seine Fehler bereitwilligst ein und möchte dieselben gerne los sein. Er hat nicht ein einziges Mal in der Woche gefastet, hat nicht den Zehnten von irgendeinem Gut gegeben. Ferner gibt er zu, daß seine Empfindlichkeit und Geneigtheit zum Zorn, oder irgend eine andre Sünde die Krankheit bewirkt hat, und bittet deshalb Gott, ihm seine Missetaten zu verzeihen. Von einem solchen sagte Jesus: ‚Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöhet, der wird erniedriget werden; und wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden.‘ Es ist doch klar, daß der mentale Zustand eines Menschen, daß Selbsterhöhung und fortwährende böse Angewohnheiten Krankheit erzeugen. Wenn wir demutsvoll das eigne Ich darangeben und den Sinn der Kinder oder dieses Zöllners annehmen, so werden wir zum Himmel erhöhet werden; die ganze Welt erscheint uns dann schön, wir sind freudigen Mutes, lieben alle Menschen und sangen an Gott zu schauen.”
„Ich glaube, die Sache wird mir jetzt klar.”
„Sie werden sich an die Stelle erinnern, wo Jesus sagte: ‚Wahrlich ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfähet als ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen.‘”
„Gewiß.”
„Es soll damit gesagt sein: Wer nicht auf die Art und Weise Jesu nach der Wahrheit, nach Harmonie und Gesundheit strebt und die Sünde überwindet, indem er seinen Sinn ändert und dem göttlichen Prinzip gehorcht, wie ein gutes Kind seinen Eltern, wird die ersehnten Segnungen nicht erlangen. Wer nicht das Übel darangibt und Gesundheit in der Weise annimmt, wie Gott sie darbietet, wird sie nicht erhalten. Wer den neuen Wein der Gesundheit in die alten Schläuche der Materialität gießen will, wird Enttäuschungen zu erleben haben, denn die Schläuche bersten, und der Wein der Gesundheit wird verschüttet. Jesus sagte: ‚Wer nicht zur Tür hineingehet in den Schafstall, sondern steiget anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder.‘”
„Wer also gleichzeitig durch materielle Mittel und durch Gebet Heilung sucht, wird keinen Erfolg haben?”
„Wem geholfen wird, hat es nicht materiellen Mitteln zu verdanken, denn die Materie heilt nicht. Wenn sie auch Heilung bewirkt zu haben scheint, so macht sich entweder die Krankheit später wieder geltend, oder sie erscheint in einer andern Form. Ich erinnere mich eines lieben Bruders im Predigtamte, welcher behauptete, Gott heile durch materielle Mittel, denn es werde uns erzählt, daß Jesaja den König Hiskia mit Feigen geheilt habe. Darauf ist zu erwidern, daß Gott seinem Diener nicht befahl, Feigen anzuwenden, denn Er sprach zu ihm: ‚Kehre um und sage Hiskia, dem Fürsten meines Volks: So spricht der Herr, der Gott deines Vaters: Ich habe dein Gebet gehöret und deine Tränen gesehen. Siehe, ich will dich gesund machen‘. Unser Freund hatte sich eingeredet, daß Gott durch materielle Mittel heile, und schien es wirklich zu glauben; deshalb erfuhr er auch nicht die heilende Macht Gottes, der er so sehr bedurfte. Er litt nämlich seit Jahren an einer widerlichen Krankheit.
„Es ist also kein Grund vorhanden, warum der Sünder nicht durch Gottes Macht Harmonie erlangen könnte, falls er die Liebe zur Sünde überwunden hat und sich von ihr abwendet. Jesus sagte einst zu denen, welche mit den Ketten des Dogmatismus und des Vorurteils gebunden waren: ‚Die Zöllner und Huren mögen Wohl eher ins Himmelreich kommen denn ihr.‘”
„Wie ist aber Ihre Behauptung zu verstehen, daß Krankheit nicht wirklich sei?”
„Wir meinen damit, daß sie nicht echt, nicht wahr sei. Als ich vor einiger Zeit in Kalifornien war, machte ich eines Tages mit einigen Freunden eine Spazierfahrt, und als wir so dahin fuhren, rief ich plötzlich aus: ‚Seht doch, welch ein herrlicher See!‘ ‚Wo denn?‘ sagte einer meiner Begleiter. ‚Dort drüben, siehst du ihn nicht?‘ Der Freund lächelte und erwiderte, es sei das kein See, sondern bloß eine Luftspiegelung. Schmerz und Krankheit mögen dem falschen sterblichen Sinn sehr wirklich erscheinen, sind aber für Gott und für den Menschen Gottes unwirklich. Wenn ein Mensch durch die Christian Science seinen Glauben an die Wirklichkeit von Krankheit verloren hat, so wird er erfahren, daß sie bloß eine Täuschung war. Wir können nicht hoffen, die Wahrheit zu erfassen, so lange wir darauf bestehen, das zu glauben, was unwahr ist.”
Der Spott endet, wo das Verständnis beginnt.