Ein Jünger zu sein bedeutet, daß man Anhänger irgendeines Lehrers oder irgendeiner Lehre, also ein Lernender oder Schüler ist. Im Lateinischen heißt Jünger discipulus, und von der gleichen Wurzel stammt das Wort Disziplin ab. Dies deutet an, daß ein wahrer Jünger sein in Angriff genommenes Studium genau und konsequent betreiben muß. Für denjenigen, der sich einem erhabenen Gegenstand mit Treue und Gewissenhaftigkeit widmet, hat das Wort Jüngerschaft eine hohe Bedeutung. Macht ein Schüler in seinem Studium keine Fortschritte, oder wendet er die erlangten Kenntnisse in törichter Weise an, so verliert nur er dadurch; weder der Lehrer noch die Lehre werden durch seine Fehler und Versäumnisse geschädigt.
Jesus Christus war der größte Lehrer, den die Welt je gesehen hat, und zwar deshalb, weil er die höchste Wahrheit lehrte und stets seiner Lehre gemäß lebte. Einer seiner Jünger zu sein ist daher nicht nur ein großes Vorrecht, sondern bringt auch eine große Verantwortung mit sich. Jesus gab eine kurze aber faßliche Definition von Jüngerschaft, als er sagte: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger”. Diese Definition betont die Notwendigkeit treuer und beharrlicher Anstrengung; sie weist darauf hin, wie wichtig es ist, der Versuchung, persönliche Ansichten an Stelle des Wortes, an Stelle der von Jesu gelehrten demonstrierbaren Wahrheit zu setzen, standhaft zu widerstehen. Erstens müssen wir das Wort hören, zweitens müssen wir es verstehen und drittens müssen wir es betätigen. Nur in dieser Weise können wir an der Rede Jesu bleiben.
Das Hören scheint eine einfache Sache zu sein. Wäre dies wirklich der Fall, so hätte uns der Meister nicht ermahnt, wir sollten zusehen, was wir hören; auch hätte er nicht gesagt: „und die sie [die Stimme des Sohnes Gottes] hören werden, die werden leben.” Eine solche Ermahnung wäre nicht nötig, wenn die Sterblichen das geistige Verständnis, zu welchem die Erfahrungen des täglichen Lebens führen, treulich gepflegt hätten. Jesus sah voraus, daß der Irrtum als Wahrheit dargeboten werden würde, und daß die Unachtsamen falsche Lehren annehmen würden. Die Zeit hat bewiesen, daß er recht hatte. Es sind in der Tat viele „falsche Propheten” erstanden. Wer daher nicht aufmerksam und andächtig auf die untrügliche innere Stimme horcht, kommt leicht vom rechten Wege ab.
Der persönliche Sinn ist einer dieser Propheten, der uns von innen wie von außen versucht. Von außen spricht er, seinem eignen Urteil folgend, gegen Ideen und Individuen. Von innen flüstert er, daß Rache süß sei; daß wir nicht zu leiden brauchten, wenn wir unsre Nachbarn verleumden; daß wir unsre eignen Vollbringungen hervorheben und diejenigen andrer Leute herabsetzen dürften; daß es uns möglich sei, zu klatschen, zu spotten und anzügliche Redensarten zu führen, ohne uns dadurch zu schaden. Schenken wir diesen lügenhaften Eingebungen Gehör, so mag die Wahrheit eine Zeitlang stumm zu sein scheinen, bis uns ein unerwartetes Erlebnis aus unserm mesmerischen Zustand aufrüttelt. Ist es hingegen unser beständiges Bestreben, richtig zu hören, so wird Er, der unsres Herzens Wünsche erfüllt und der antwortet, ehe wir rufen, uns reichlich belohnen.
Nachdem wir also gelernt haben richtig zu hören, ist das Verstehen keine schwierige Sache mehr; nur dürfen wir nie vergessen, daß geistige Dinge geistig gerichtet [erkannt] werden müssen. Das sorgfältige Bewachen unsres Denkens, welches nötig ist, um nur die Stimme der Wahrheit zu hören, erweitert und schärft unser Wahrnehmungsvermögen und bereichert zugleich unser Verständnis. Dieses Verständnis können wir dadurch immer mehr erweitern, daß wir die Lehren der Heiligen Schrift nach der Auslegung unsres Textbuches eifrig studieren. Wenn wir diese beiden Bücher zu unsern täglichen Begleitern machen, wird es uns nicht an geistiger Erleuchtung fehlen. Häufige Gemeinschaft mit dem Wort entwickelt die Fähigkeit, dasselbe in die Tat umzusetzen. Wir müssen bestrebt sein, „Täter des Worts und nicht Hörer allein” zu sein; dann werden wir Fortschritte machen.
Man sollte denken, wenn der Mensch einmal die Wahrheit gefunden hat, so sei es sehr leicht und angenehm, derselben treu zu bleiben. Die Erfahrung widerspricht jedoch dieser Annahme. Trotzdem der Meister täglich seine Lehren veranschaulichte und trotzdem er den Jüngern durch seine Gegenwart, Stärke und Lauterkeit verlieh, vergaßen diese doch seine Worte gar zu leicht. Es wurde ihnen schwer, dem Spott und der Verfolgung gegenüber standhaft zu bleiben. Noch schwerer wurde dies den Christen einige Jahrhunderte später, als das Trachten nach persönlicher Macht immer mehr zugenommen hatte. Auch heute noch ist solches nicht leicht, wenn wir uns von dem menschlichen Sinn leiten lassen. Das Wort muß in einem demütigen und aufrichtigen Herzen Aufnahme finden. Tag für Tag müssen wir diesen Samen bewachen und beschützen. Es ist unsre Aufgabe, stets auf der Hut zu sein, damit Habsucht und Neid ihn nicht verzehren, die Freuden und Sorgen der Sinne ihn nicht ersticken und Gleichgültigkeit und Trägheit ihn nicht umkommen lassen.
Unsre Führerin erklärt, das Sichaneignen der Wahrheit möge bitter erscheinen, aber beharrliches Streben nach einer höheren Erkenntnis der Wahrheit werde schließlich Harmonie des Geistes und des Körpers bewirken. Hier könnte man hinzufügen, daß unser Streben, mehr zu geben, ebenso beharrlich sein sollte. Als der Meister den Jüngern das Brot überreichte, erwartete er von ihnen, daß sie es unter die Menge verteilten. Was wäre für sie und die Welt erreicht worden, wenn sie nur an ihre eignen Bedürfnisse gedacht hätten?
Es ist leicht, die Gottesdienste zu besuchen, gelegentlich ein Zeugnis abzugeben und unsern Freunden voller Begeisterung von unsern wundervollen Erfahrungen in der Christian Science zu erzählen. Wir wundern uns dann wohl, warum sie nicht sofort unsern Glauben annehmen. Früher oder später kommt jedoch eine Prüfungszeit, da sich die Wolken zusammenziehen; da möglicherweise das Empfinden von Verlust und Kummer uns den Gedanken nahe legt, weitere Bemühungen seien umsonst; da Ehrgeiz an die Tür klopft und Stolz durch das Fenster hereinsteigen will; da unser „Schatz verlästert” wird und unsre besten Absichten in Frage gestellt werden. Dann haben wir Gelegenheit zu beweisen, wie viel von der Wahrheit wir wirklich erfaßt haben und wie hoch wir sie schätzen — ob wir wert sind, „eine Stunde” mit dem Meister zu wachen.
Sind wir jahraus jahrein treu in unserm Besuch der Gottesdienste? Sind wir bereit, alles zu tun, was von uns verlangt wird, um das Interesse an unsern Versammlungen zu fördern? Haben wir das Vertrauen, daß sowohl der Stecken als der Stab des Vaters uns trösten wird? Ist es unser ernstes Bestreben, Stolz und Ehrgeiz zu überwinden, jeder Versuchung zur Selbstüberhebung zu widerstehen und Gott allein die Ehre zu geben? Gelingt es uns, „durch böse Gerüchte und gute Gerüchte” standhaft zu bleiben, nie mutlos zu werden, nie über gegenwärtige Zustände zu klagen oder uns nach den Zuständen, denen wir entwachsen sind, zurückzusehnen? Gehorchen wir dem Gesetz Gottes selbst dann, wenn wir nicht voraussehen können, wo es uns hinführen wird? Sind wir bereit, andern zu helfen, ohne Belohnung zu erwarten? Sind wir demütig, dankbar und frohen Mutes? Widerstehen wir den Versuchungen, die uns vom göttlichen Prinzip ablenken möchten, und verschließen wir den Verlockungen der materiellen Sinne stets unser Ohr? Wenn wir diese Fragen mit ja beantworten können, so haben wir den Saum des Kleides Christi berührt und werden befähigt sein, in seiner „Rede” zu bleiben.
Ein Christian Scientist hörte einstmals die Bemerkung: „Ich wünsche ich hätte größeres Wachstum aufzuweisen und könnte bessere Arbeit tun. Nachdem man zehn bis fünfzehn Jahre lang ernstlich in ‚Science and Health‘ geforscht hat, sollte man Wunder verrichten können.” Die Antwort des Scientisten gab dem Betreffenden sehr viel zu denken. Sie lautete: „Es will schon etwas heißen, so viele Jahre fest gestanden zu haben.” So laßt uns denn als Pfeiler in dem Tempel unsres Gottes stehen und „nicht mehr hinausgehen”. Laßt uns diejenigen freudig unterstützen, die zum Dienste auserlesen sind und die an ihrer ihnen zugewiesenen Stelle treulich arbeiten. Für die „rechten Jünger” ist das Alte vergangen und ein neuer Himmel und eine neue Erde erscheint ihnen.
