Die Neigung des Aufschiebens ist eine der größten Schwächen des menschlichen Gemütes. Und vielleicht nirgends zeigt sich diese Neigung bisweilen mehr, als unter Christian Scientisten. Außerhalb der Christian Science wird ein Grad des Aufschiebens, und ein sehr großer Grad, als der bessere Teil der Weisheit angesehen. Die Welt ist gelehrt worden in die Verzögerung des Guten einzustimmen, und jede Suggestion, mehr als einen äußerst begrenzten Fortschritt als erreichbar anzusehen, wird beinahe als eine Vermessenheit betrachtet. Wenn das menschliche Gemüt dann vor den absoluten Lehren der Christian Science steht, sucht es sofort nach einem Ausweg, auf welchem es seiner Schwäche frönen kann.
Der Anfänger des Studiums der Christian Science möchte den Tag, an dem er hinausgeht und die Kranken heilt, auf eine Zeit hinausschieben, wann er „ein besseres Verständnis“ hat, oder bis er „eine Demonstration“ gemacht, auf die er seine Hoffnungen gesetzt hat oder bis seine Verhältnisse sich ändern. Unbewußt begrenzt er beinahe den Umfang in dem er sein Verständnis der Wahrheit anwenden will; und zwar nicht so sehr aus Mangel an Glauben, als infolge der Annahme, daß „die Zeit noch nicht da ist“ gewisse Dinge zu tun. Er will zuerst „seine eigene Demonstration“ machen, dann vielleicht übernimmt er „einige wenige Fälle,“ und dann vielleicht, später, in der sehr unbestimmten Zukunft, wenn er sich viel Geistigkeit angeeignet, will er „für die Zustände der Welt“ arbeiten. Gegenwärtig ist er bereit diese Dinge „vorgeschrittenen Scientisten“ zu überlassen, und ist natürlich dankbar, daß die Arbeit getan wird. Er zweifelt nicht an ihrer Wirksamkeit, ist aber ganz zufrieden, daß jetzt noch nichts dergleichen von ihm verlangt wird.
Aber natürlich ist in einer Reihenfolge solcher Erklärungen,— und sie werden jeden Tag gemacht,— kein Schimmer von einem wirklichen Verständnis der Christian Science sichtbar. Es ist die Wahrheit die heilt. Der Schüler der Christian Science hat mit der tatsächlichen Heilung nicht mehr zu tun als der Schüler der Mathematik bei der Berichtigung eines Fehlers eines mathematischen Problems. So schreibt Mrs. Eddy, in einer oft zitierten Stelle von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ auf Seiten 96 und 97: „Während dieses letzten Kampfes werden sich arge Gemüter bemühen, Mittel und Wege zu finden, um mehr Böses auszuführen; aber diejenigen, welche die Christliche Wissenschaft erkennen, werden das Verbrechen im Zaum halten. Sie werden bei der Austreibung des Irrtums mithelfen. Sie werden Gesetz und Ordnung aufrechterhalten und freudig die Gewißheit der endlichen Vollkommenheit erwarten.“
Diese Pflicht und dieses Vorrecht liegt darum auf allen denen, welche „die Christliche Wissenschaft erkennen“ und es ist ein sehr dringendes Bedürfnis, daß diese Pflicht und dieses Vorrecht viel ernster aufgefaßt, und beharrlicher und getreuer erfüllt werde. Niemand der auch nur den schwächsten Schimmer der großen Wahrheiten der Christian Science erkannt hat, kann anders als wahrnehmen, daß die Welt rasch dem Ende ihrer Hilfsquellen, durch die sie ihre Probleme zu lösen sucht, entgegengeht. Alte Formeln werden aufgegeben, aus dem einfachen Grunde weil sie nicht mehr wirksam sind; und im Laufe der Wochen und Monate, in welchen das Licht der Öffentlichkeit, Regierungsmethoden, Methoden der Industrie und die Methoden die zur Ausführung von beinahe aller Arten menschlicher Angelegenheiten angewandt werden, beleuchtet, fangen Männer und Frauen überall mit einiger Beunruhigung an zu sehen, daß die Aufgabe, die offensichtlich vor der Welt liegt, bevor irgendwelche wirkliche Besserung erwartet werden kann, eine Läuterung dieser Methoden verlangt.
Der Grund dieser Bestürzung ist nicht weit zu suchen. Er ist hauptsächlich das Resultat der Erkenntnis, daß alles menschliche Wachen als ungenügender Schutz betrachtet werden muß. Man wird schließlich erkennen, daß Friedensverträge, Gesetze und Vorschriften nur wirksam werden, wenn wenigstens eine Partei entschlossen ist dem Verständnis des Prinzips treu zu sein. Wenn das der Fall ist wird schließlich jeder Friedensvertrag, jedes Gesetz und jede Vorschrift durchgesetzt. Ohne diese Treue kann eine solche Durchsetzung nie dauernd sein. Ein wohlbekannter Staatsmann sagte vor einiger Zeit, während einer Zeit der Gewalt und des Streites in den Angelegenheiten seines Landes: „Mit gutem Willen ist alles möglich. Ohne guten Willen können wir nichts tun.“
Kurzum, die Welt wird rasch zu der Anerkennung gezwungen, daß die unterliegende Macht jeder Regierung geistig ist, daß keine wahre Regierung existiert bis die Regierung diese Macht zu Hilfe zieht. Um dies festzustellen genügt schon ein ganz flüchtiger Überblick über die Zustände der Welt. Gegenwärtig scheint es mehr als je als ob die Welt in zwei große Gruppen eingeteilt wäre, die Besitzenden und diejenigen die nichts haben. Die Unterscheidungslinie ist so scharf gezeichnet, daß es bisweilen aussieht als ob eine Mauer zwischen ihnen erbaut worden sei. In sogenannten normalen Zeiten geht ein beständiges Hin- und Hergehen zwischen den beiden Lagern vor sich, aber in diesen Tagen,— so scheint es dem sterblichen Sinne der Dinge,— sind diejenigen, die nichts haben, zu arm um von denen, die etwas haben, kaufen zu können, und die Besitzenden haben zu viel Angst, das, was sie haben, zu verlieren, um den anderen wirklich wirksam zu helfen. Es entsteht ein Zustand welcher beinahe eine vollständige Stockung darstellt, und zur Abhilfe werden aller Arten Notbehelfe erfunden aber bis jetzt kein Heilmittel. Warum? Aus dem einfachen Grunde, weil die Ursache der Störung noch nie vollständig sondiert und erkannt worden ist. Auf Seite 223 von Wissenschaft und Gesundheit schreibt Mrs. Eddy: „Wunderdinge, Unheil und Sünde werden sich in noch reichlicherem Maße zeigen, wenn die Wahrheit den Sterblichen ihre Ansprüche aufdrängt, denen diese widerstanden haben; aber die furchtbare Verwegenheit der Sünde zerstört die Sünde und kündet den Triumph der Wahrheit an. Gott wird, die Krone ... zunichte machen, bis der komme, der sie haben soll'. Langlebigkeit nimmt zu, und die Macht der Sünde nimmt ab, denn die Welt fühlt die heilsame Wirkung der Wahrheit in allen Poren.“
Hier also ist das für das Thema nötige Licht. Die heutige Welt ist nicht die gleiche Welt die sie vor der Entdeckung der Christian Science war. Im Laufe der Jahre kam sie mehr und mehr unter den Druck der Wahrheit. In anderen Worten, das menschliche Gemüt wird mehr und mehr zur Anerkennung seiner eigenen Nichtsheit gezwungen. Es reitet noch immer den Esel seiner alten Ansprüche, Wünsche und Begierden; aber immer öfter wird der Esel in die Enge getrieben, und das menschliche Gemüt ist gezwungen aufwärts zu schauen und den Engel wahrzunehmen. In anderen Worten, die Welt hat ganz bestimmt den Punkt erreicht wo sie sich nicht länger von einer rein materiellen Harmonie täuschen läßt, und ihre einzige aber allgenügende Hoffnung liegt in der Anerkennung der geistigen Harmonie. Die Zeit für wirkliche Denker ist in der Tat gekommen, und der Ruf an Denker, sich der Angelegenheiten der Welt anzunehmen, ist befehlend.
Wahre Denker, solche die in Übereinstimmung mit dem Prinzip denken,— und es gibt keine andere wahre Denker,— müssen die Verantwortung der ökonomischen Lage auf sich nehmen. Sie müssen sich der militärischen Lage, der Kohlenlage, der Öllage oder jeder anderen Lage, die der Schlichtung oder Wiederherstellung bedarf — ob national oder international — annehmen. „Es ist keine Obrigkeit ohne von Gott,“ sagt Paulus in seinem Brief an die Römer. In anderen Worten, die wahren bestehenden Mächte wirken ewig in Übereinstimmung mit dem Prinzip. Der wahre Denker hat die Aufgabe zu entscheiden ob, in menschlichen Angelegenheiten, das Wirkliche oder die Nachahmung die Offenbarwerdung dieser Tätigkeit sein soll. Zu Pilatus, der vor einem der größten Verbrechen der Geschichte stand, sagte Jesus: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre von obenherab gegeben.“ Gerade so weiß der wahre Denker, daß die bestehenden Obrigkeiten, ob im Handel, in der Industrie, oder in irgendeinem anderen Betrieb des Alltagslebens, nur die Bestimmungen und Pläne des Prinzips ausführen können. Die Christian Scientisten haben den Schlüssel zur Heiligen Schrift und mit ihm den Schlüssel zum Leben mit allen seinen Offenbarwerdungen. Sie sind im Besitz der großen Lösung und der großen Entdeckung, auf die die Welt so lange gewartet hat. „Denn ich sage euch,“ sagte Jesus zu seinen Jüngern, „Viele Propheten und Könige wollten sehen, was ihr seht, und haben's nicht gesehen, und hören, was ihr hört, und haben's nicht gehört.“ Die Christian Science ist die vollständige Erklärung dieser Dinge von denen Jesus sprach.
In seinem Buch „Memoirs of a Revolutionist“ schreibt Kropotkin eine in dieser Beziehung merkwürdig aufklärende Stelle. „Es gibt nicht viele Freuden im menschlichen Leben,“ sagt er, „welche der Freude der plötzlichen Wahrnehmung einer Verallgemeinerung, die das Gemüt nach einer langen Zeit geduldigen Suchens erleuchtet, gleich sind. Was jahrelang so chaotisch, so widersprechend und so rätselhaft erschien, nimmt sofort in einem harmonischen Ganzen seinen richtigen Platz ein. ... Und wenn die Verallgemeinerung geprüft wird, indem man sie in hundert verschiedenen Fällen, die einen Moment vorher hoffnungslos widersprechend schienen, anwendet, nimmt ein jeder seinen richtigen Platz ein. ... Er, der einmal in seinem Leben diese Freude der wissenschaftlichen Schöpfung erfahren hat, wird sie nie vergessen. Er sehnt sich danach sie wieder zu erfahren und fühlt mit Schmerz, daß diese Art des Glückes so wenigen beschieden ist, während so viele es auch — im Kleinen oder im Großen — erleben könnten, wenn wissenschaftliche Methoden und Muße nicht nur auf einige wenige Menschen begrenzt wären.“
Diese Freude, welche Kropotkin in einem kleinen Fach menschlichen Wissens erfahren hat, wird der ganzen Welt unendlich nutzbar gemacht durch die Christian Science. Alles was in Weltzuständen oder anderen Zuständen chaotisch, widersprechend oder rätselhaft zu sein scheint, nimmt im Licht der Christian Science sofort „in einem harmonischen Ganzen seinen richtigen Platz ein.“ Diese herrliche Wahrheit wird ja schließlich von allen Völkern erkannt werden, aber jeder Christian Scientist hat das große Vorrecht und die Pflicht das Erscheinen Seines Reiches zu beschleunigen. Mrs. Eddy schreibt in Artikel VIII, Abschnitt 4 des Kirchenhandbuches: „Es ist die Pflicht eines jeden Mitglieds dieser Kirche, täglich zu beten:, Dein Reich komme'; laß die Herrschaft der göttlichen Wahrheit, des göttlichen Lebens und der göttlichen Liebe in mir aufgerichtet werden und alle Sünde aus mir entfernen; und möge Dein Wort die Liebe der ganzen Menschheit bereichern und sie beherrschen!“ Jedes Studium von Mrs. Eddys Werken erhellt eigentlich die Tatsache, daß sie ganz emphatisch ist in bezug auf diese Frage des Betens für die Welt, wie Gebet in der Christian Science verstanden wird. Niemand erkannte besser als sie, daß es für die Wirksamkeit solchen Betens keine Grenzen gibt. Zu ihrer März- Primar Klasse in 1889 sagt sie (Miscellaneous Writings, S. 279): „Wir, heute, in diesem Klassenzimmer, sind unser genug um die ganze Welt zu bekehren wenn wir alle gleichgesinnt sind; denn dann würde die ganze Welt den Einfluß dieser Gesinnung fühlen, wie zur Zeit als die Erde wüst und leer war und Gemüt sprach und die Gestalt erschien.“
Solches Beten für die Welt,— um wirksam zu sein,— muß jedoch immer von einem aufrichtigen und regen Interesse an den Weltzuständen begleitet sein. Der wahre Christian Scientist ist mächtig in der Welt, wenn er auch nicht von der Welt ist. Immerwährend übersetzt er Dinge in Gedanken, und furchtlos und meisterhaft prüft er die Zustände. Er ist nicht entmutigt durch die Erscheinung von Sünde und Heuchelei, Betrug und Selbstsucht. Er befaßt sich einfach mit der Lage wenn er einem oder allen ihren Zuständen gegenübersteht. Nichts entgeht ihm und er erlaubt keinen Augenblick eine menschliche Seite oder eine menschliche Meinung in diese klare Wahrnehmung einzudringen. Diese Wahrnehmung ist sein Erbe als Bild und Gleichnis der unendlichen Weisheit. Er betet nicht nur: „Dein Reich komme,“ er versteht, daß es gekommen ist. Er steht fest entschlossen im Bewußtsein seiner Fähigkeit, nicht nur in seinen eigenen Angelegenheiten, sondern auch in den Angelegenheiten seines Vaterlandes und der Welt, die Wahrheit dessen, was er versteht, demonstrieren zu können. Er läßt sich weder zu übertriebener Eile verleiten, noch zum Aufschieben versuchen, weil er, gewissermaßen wenigstens, die große Wahrheit versteht, die in der Erklärung in Wissenschaft und Gesundheit auf Seite 565 enthalten ist: „Die Verkörperung der geistigen Idee hatte eine kurze Geschichte in dem Erdenleben unsres Meisters, aber, seines Königreichs wird kein Ende sein', denn Christus, die Idee Gottes, wird schließlich alle Nationen und Völker — gebieterisch, absolut, endgültig — mit der göttlichen Wissenschaft regieren.“
Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan. Denn wer da bittet, der empfängt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.— Matth. 7:7, 8.
Seid niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch untereinander liebet; denn den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllet. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.— Röm. 13:8, 10.
