Plato sagte: „Was du siehst, das bist du”. Wahres Sehen ist vom wahren Sein unzertrennlich; denn es enthüllt des Menschen geistiges Erbe, das so unbegrenzt ist wie die göttliche Liebe selber. Diese Wahrheit leuchtet herrlich im Denken und in der menschlichen Erfahrung derer, die ihr geistiges Erbe praktisch dartun lernen. Durch diese Erkenntnis des wahren Erbes legen die Christlichen Wissenschafter Schritt für Schritt den verkehrten Sinn von materieller Abstammung mit seinen Hemmnissen ab. Des Menschen Erbteil ist seine geistige Wesenseinheit, sein wahres Bewußtsein, in dem die Herrschaft der göttlichen Liebe widerhallt. Kurz, des Menschen Erbe ist Gottänhlichkeit.
Zwei Bedingungen für geistigen Fortschritt sind, daß man sich entschließt, alle Schlüsse auf die eine Voraussetzung, Gott, den Geist, zu gründen, und in der Gegenwart zu denken. Um diesen Entschluß auszuführen, muß man sich weigern, immer noch von sich als von materieller Herkunft oder den Gesetzen und Begrenzungen des materiellen Sinnes unterworfen zu denken. In dem Verhältnis, wie die mentale Knechtschaft gebrochen wird, hört die körperliche Knechtschaft auf.
Christus Jesus zeigte die Zwecklosigkeit des Versuchs, eine falsche Voraussetzung zu verbessern, als er sagte: „Niemand flickt ein altes Kleid mit einem Lappen von neuem Tuch; denn der Lappen reißt doch wieder vom Kleid, und der Riß wird ärger”. Die Christliche Wissenschaft versucht daher nicht, Materialität mit Geistigkeit auszubessern. Der Mensch ist ein vollkommenes Einzelwesen. Er ist mit geistiger Gesundheit, Intelligenz, Stärke und Tätigkeit — lauter Eigenschaften, die alle durch das geistige Gesetz ewig erhalten werden — ausgerüstet.
Was nützt es dann, über den Wert des alten Gewandes, der alten materiellen Herkunft zu grübeln, wenn wir sehen, daß es in der Erfahrung des Menschen eine solche Herkunft oder Abstammung nicht gibt, nie gab und nie geben wird? Das Leben des Menschen ist nie in die Materie hineingepflanzt worden; denn das Leben ist Gott.
Welchen Standpunkt vertritt nun der Christliche Wissenschafter in der so wichtigen Vererbungsfrage? Sein Standpunkt beruht auf des Meisters Worten: „Und sollt niemand Vater heißen auf Erden; denn einer ist euer Vater, der im Himmel ist”. Wer seine Sohnschaft beweisen will, muß jederzeit zuerst die Forderung des ersten Satzes erfüllen. Da der Mensch das Ebenbild des Geistes und wahrer Substanz ist, sind alle seine Fähigkeiten im Gemüt gesichert, und der Christliche Wissenschafter, der wahr denkt, lernt seine Gesundheit und alle seine Fähigkeiten so betrachten. Es gibt nur einen wirklichen Zustand, der des Eltern-Gemüts. Daher ist des Menschen Zustand geistig, nicht materiell. Krankheit und Sünde können seine Leibesbeschaffenheit, die den Geist widerspiegelt und nur der Harmonie und der Unsterblichkeit unterworfen ist, nicht beeinflussen.
Diese Grundtatsachen sind nun für den Christlichen Wissenschafter nur dann von Wert, wenn er sie in sich aufnimmt, in ihnen frohlockt und weitestgehenden Gebrauch von ihnen macht. Seine befreiende mentale Arbeit in der Vererbungsfrage muß gründlich und lückenlos sein. Es wäre z.B. oberflächlich zu glauben, daß Krankheiten oder schlechte Züge bei Vorfahren tatsächlich vorhanden waren, daß wir aber von der Vererbung verschont seien. Das hieße nicht den Irrtum, sondern nur seine Übertragung leugnen. Es hieße die Wahrheit nur für ein Geschlecht behaupten und fortfahren, eine Lüge für ein sogenanntes früheres Geschlecht zu glauben. Dieses teilweise Erklären der Wahrheit und teilweise Verneinen des Bösen würde nur Teilergebnisse zur Folge haben. Man kann nicht altes Tuch für die Vergangenheit zulassen und dann neues Tuch für die Gegenwart beanspruchen. Was wahr ist, ist stets wahr gewesen, und was jetzt falsch ist, ist stets falsch gewesen. Der Irrtum hat so wenig eine Vergangenheit wie eine Zukunft.
Es erübrigt sich zu sagen, daß der Christliche Wissenschafter sein Erbe liebt, da er es auf die göttliche Liebe zurückführt. Unsere Führerin sagt (Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1902, S. 8, 9): „Geistige Liebe bringt dem Menschen zum Bewußtsein, daß Gott sein Vater ist; und das Bewußtsein, daß Gott die Liebe ist, gibt dem Menschen solche Kraft, daß er Unglaubliches leisten kann”.
Eine andere materielle Theorie, die aufgegeben werden muß, ist, daß man Gutes auf seine materiellen Vorfahren zurückführen könne. Jesus sagte: „Niemand ist gut denn der einige Gott”. Glauben, man sei von einem von unseren Vorfahren bekundeten Grade der Güte, der Gesundheit oder der Intelligenz abhängig, hieße glauben, daß unsere Aussichten gewissermaßen nach menschlicher Abstammung bemessen seien. Aber Tatsache ist, daß das Sein nur in Gott geborgen und vollständig ist. Unsere Norm richtet sich nicht nach der Norm anderer, sondern danach, wie wir unsere Gottähnlichkeit selber beweisen. Beim Beweisen in der Christlichen Wissenschaft geht jeder seinen eigenen Weg. Er steht jedem offen und ist frei von vergangenen, gegenwärtigen oder künftigen Hemmnissen.
Jesus sagte von den Getreuen: „Man faßt Most in neue Schläuche, so werden sie beide miteinander erhalten”. Im Weinberg des Gemüts gab es nie saure Trauben: es gibt nur Gutes zu erben. Wir finden eine mit der Erklärung des Meisters übereinstimmende Stelle in Wissenschaft und Gesundheit, (S. 281, 282): „Die alte Annahme muß ausgetrieben werden, sonst wird die neue Idee verschüttet, und die Inspiration, die unsern Standpunkt ändern soll, wird verloren gehen”. Verneinendes Denken, verworrenes Folgern muß aufgegeben werden, wenn wir geistige Erleuchtung erlangen und festhalten wollen. Der aufgeklärte Denker blickt also weder treulos zurück noch ängstlich in die Zukunft. Er macht die menschliche Abstammung weder zu einem Götzen noch zu einem Sündenbock, da er ein für allemal Gott, den Geist, als den einzigen Urheber und Erhalter des Menschen anerkannt hat.
Paulus schrieb den Kolossern: „Alles, was ihr tut, das tut von Herzen als dem Herrn und nicht den Menschen, und wisset, daß ihr von dem Herrn empfangen werdet die Vergeltung des Erbes; denn ihr dienet dem Herrn Christus”. Wir dienen dem Herrn Christus nur dann folgerichtig, wenn wir den Christus, die Wahrheit, in allen Dingen und bei allen Gelegenheiten widerspiegeln. Wir dienen der Sache der Christlichen Wissenschaft, wenn wir den Buchstaben ihrer Lehre befolgen und in ihrem heilenden Geist verharren.
„Das Schöne, das Gute und das Reine sind seine [des Menschen] Ahnen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 63). Güte, Schönheit und Reinheit! Wer könnte mehr wünschen? Gott hat Sein Ebenbild zu Seinem würdigen Erben gemacht; daher sagen auch wir „Dank dem Vater, der uns tüchtig gemacht hat zu dem Erbteil der Heiligen im Licht”.
