Durch die ganze Bibel hindurch finden wir Erklärungen, die die Behauptung bestätigen, daß des Menschen Empfänglichkeit für das Gute von der sittlichen Geradheit des Bittenden abhängt. Das geht aus der Psalmstelle hervor: „Der Herr gibt Gnade und Ehre: er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen”, ferner aus der Stelle in den Sprüchen: „Wer fromm einhergeht, dem wird geholfen”, und aus Christi Jesu Mahnung an den 38jährigen Kranken, den er geheilt hatte: „Sündige hinfort nicht mehr, daß dir nicht etwas Ärgeres widerfahre”. Mit dieser Mahnung warnte Jesus nicht nur davor, daß Sünde das allgegenwärtige Gute verbirgt, sondern er zeigte auch, daß Schwierigkeiten häufig offenbar gewordene Sünden,— Zustände körperlicher Störungen, hauptsächlich unsittliche Gesinnungen, sündhaftes Denken und Leben — sind, die aufgedeckt und berichtigt werden müssen.
Nicht aller Mißklang ist jedoch unbedingt auf Sünde zurückzuführen; denn die Christliche Wissenschaft lehrt, daß auch Furcht und Unwissenheit den falschen Anspruch Krankheit verursachen und stützen. Weil aber verborgene oder geheime Fehler die Ursache vieler Schwierigkeiten im Menschenleben zu sein scheinen, tut jemand, der einer klareren Erkenntnis der Allgegenwart des Guten bedarf, gut daran, wenn er das, wofür er persönlich verantwortlich ist — rechtes Denken und Leben — ernstlich in Erwägung zieht.
Über diese Frage denken verschiedene Menschen verschieden. Der eine mag sagen: Daran liegt es eben, ich bin nicht gut genug, ein Christlicher Wissenschafter zu sein. Ein anderer mag sagen: Ich lebe doch recht; aber meine Probleme bleiben dennoch ungelöst. In diesen weit auseinandergehenden und in allen dazwischenliegenden Fällen erwidert die Christliche Wissenschaft: Erkenne dich selbst! Sie sagt nicht, daß wir Hilfe empfangen werden, wenn wir eine gewisse Stufe der Vollkommenheit erreichen, sondern sie sagt: Wenn wir bereit sind, uns ehrlichen Herzens an Gott zu wenden, kommt uns diese Offenbarung des Christus, der Wahrheit, gerade wo wir sind, und hilft uns, was unser Problem auch sein mag. Die einzige Bedingung ist, daß wir die Wahrheit ehrlich suchen und wünschen.
In „Miscellaneous Writings” schreibt Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft (S. 367): „Diese Wissenschaft fordert, daß der Mensch ehrlich, gerecht, rein ist, seinen Nächsten wie sich selber und Gott über alles liebt”. Wir mögen uns damit brüsten, daß wir ehrlich sind; ja, wir würden uns beleidigt fühlen, sollte jemand etwas anderes andeuten. Denken wir aber dabei vielleicht nicht bloß an die engere und nicht auch an die umfassendere Bedeutung von Ehrlichkeit? In einer Bedeutung finden wir, daß „Ehrlichkeit Freisein von Täuschungsabsicht ausdrückt”. Manchmal dürfen sich die kleinen Füchse der Täuschung in unserer Gedankenwohnung belustigen, und anstatt ihnen ehrlich entgegenzutreten und sie zu vernichten, geben wir uns wohl lieber damit zufrieden, sie zu verbergen und zu vergessen zu suchen. Diese kleinen Füchse sind so zahlreich, daß es schwer scheint, sie ohne weiteres aufzuzählen. Suchen wir aber sorgfältig, so finden wir gewöhnlich ohne große Schwierigkeit diejenigen, die beanspruchen, ein Teil von uns zu sein. Sehr wahrscheinlich finden wir auch, daß sich die Lösung eines lästigen Problems verzögert, weil wir nicht genug lieben, um die Wahrheit einen verborgenen Fehler, der uns als Werkzeug benützt, aufdecken und vernichten zu lassen.
Bekanntlich mußte der aussätzige Naeman mindestens von einem verborgenen Fehler geheilt werden, ehe er dazu erweckt wurde, die heilende Wahrheit zu empfangen. Es ist berichtet, daß Naeman mit großem Gepränge am Hause Elisas, des Mannes Gottes, vorfuhr und erwartete, daß Elisa herauskomme und ihn in einer seiner hohen Stellung entsprechenden Weise begrüße. Aber statt dessen ließ ihm Elisa durch einen Boten sagen, er solle hingehen und sich siebenmal im Jordan waschen. Erst als Naeman seine Selbstüberhebung und seinen Dünkel überwand und hinabging und siebenmal im Jordan untertauchte, wurde er geheilt, mit andern Worten, von seiner falschen Auffassung von einem von Gott getrennten Selbst befreit. Diese Art Selbsttäuschung mußte im Denken Naemans berichtigt werden, mußte eingesehen und vernichtet werden, ehe seine vollständige Heilung offenbar wurde.
Mrs. Eddy stellt in „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany” (S. 233) die beachtenswerte Erklärung auf: „Mangel an Selbsterkenntnis ist die hartnäckigste Annahme, die es zu überwinden gibt; denn er hat Teilnahmlosigkeit, Unehrlichkeit und Sünde im Gefolge”. Verstricken oder irreführen ist geradezu das Wesen der Täuschung, und das sterbliche Gemüt sucht dies dadurch zu vollbringen, daß es Fehler, die als unwirklich gesehen und vernichtet werden sollten, verkleinert oder zudeckt. Weil die täuschenden Annahmen, die unsere Schwierigkeit veranlassen, Gott unähnlich sind, müssen wir sorgfältig darauf bedacht sein, sie in unserem Denken aufzudecken und zu vernichten. Manchmal können diese Einflüsterungen in unserem Bewußtsein tief vergraben sein, so daß unser ehrliches und ernstes Bemühen, die Wahrheit den Irrtum, der unsere Schwierigkeit verursacht, aufdecken zu lassen, vielleicht nicht schnell zu wirken scheint. Wenn wir aber andachtsvoll und unermüdlich vorgehen, können wir wissen, daß uns das göttliche Gemüt die Wahrheit enthüllt, die den zu vernichtenden Irrtum in unserem Denken bloßstellt und vernichtet.
Die Irrtümer, die wir versteckte Sünden oder verborgene Fehler nennen, sind kein Teil des wirklichen Menschen. Wir müssen sie daher als Einflüsterungen des sogenannten fleischlichen oder sterblichen Sinnes behandeln. Verborgene Fehler sind dem Irrtum, nicht aber der Wahrheit verborgen; denn in der Wahrheit ist die Nichtsheit des Irrtums offenkundig. Es handelt sich also um das Bloßstellen von Fehlern, Irrtümern aller Art, verborgenen oder augenscheinlichen, um zu zeigen, was sie sind — Nichtsheit; und es muß erkannt werden, daß solche Fehler oder Irrtümer kein Teil des wirklichen Menschen sind. Es ist auch wichtig, nicht zu vergessen, daß es nicht zwei Menschen, einen wirklichen und eine Nachahmung gibt. Es gibt nur einen, und dieser eine wirkliche Mensch ist sündlos, vollkommen und frei. Die klare Erkenntnis dieser Tatsache wirkt für jede verborgene oder offenkundige Irrtumseinflüsterung als Gesetz der Vernichtung.
Es ist wesentlich, daß der Schüler an der absoluten Wahrheit über sich selber als vollkommenes Kind Gottes festhält. Es ist auch ungemein wichtig, daß er seinem höchsten Begriff vom Rechten gemäß lebt; denn recht leben bereitet ihn aufs beste darauf vor, mehr Gutes zu empfangen. Mit andern Worten, wer recht lebt, wird sich leichter des Guten bewußt, das überall vorhanden und immer gegenwärtig ist, obgleich ein durch falsches oder böses Denken verfinstertes Bewußtsein dieses Gute nicht sehen mag.
Mrs. Eddy wußte, wie wichtig es ist, recht zu denken und recht zu leben. Sie warnt uns davor, die Schüsseln nur außen rein zu machen. Sie hat uns gelehrt, wie notwendig es ist zu wissen, daß unbedingte Erklärungen über die Vollkommenheit des Menschen von der Erkenntnis dieser Behauptung begleitet sein sollten. Das tägliche Entfalten der unumschränkten Wahrheit im menschlichen Bewußtsein muß in jede Lage des menschlichen Lebens Läuterung und Erhebung hineinbringen.
Die Läuterung des Selbst erfordert beständige und unermüdliche Anstrengung — einen beständigen Kampf mit den Einflüsterungen des sogenannten fleischlichen Sinnes, daß die Sünde wirklich und ein unvermeidlicher Teil des menschlichen Seins sei. Wenn wir das Sonnenlicht der Wahrheit hell in unsere Gedankenwohnung hineinscheinen lassen, nimmt dieser Läuterungsvorgang seinen Verlauf — verborgene Fehler und versteckte Sünden werden aufgedeckt und vernichtet; denn die Finsternis des Irrtums kann nicht in einem hell erleuchteten Bewußtsein bleiben. Wahrlich, sittliche Geradheit ist ein Schutz vor dem Bösen und eine wirksame Hilfe beim Empfangen des Guten.
Jede uns auferlegte Pflicht bietet uns die Möglichkeit eines königlichen Dienstes mit göttlicher Belohnung.—
