Um mit andern Leuten gut auszukommen, ist es vor allen Dingen nötig, sie zu verstehen. Wenn wir in unsere eigenen Gedanken versunken oder ganz von unseren eigenen Gefühlen in Anspruch genommen sind, sehen wir nicht über diesen beschränkten Gesichtskreis hinaus; aber ein weises und liebevolles Herz vermag wahrzunehmen, was im Denken anderer vor sich geht, und hat die Nächstenliebe, es zu verstehen. Jedermann sollte danach trachten, im Umgang mit Freunden, Verwandten oder Mitarbeitern Eintracht und Verständnis zu bekunden; aber sogar Christliche Wissenschafter, die für sich selber Wohlergehen in zunehmendem Maße bewiesen haben mögen, haben es schon manchmal schwer gefunden, über andere Leute recht zu denken—über Leute, die zuweilen solch überraschende, vielleicht kränkende oder Feindseligkeit und Streit hervorrufende Dinge sagen oder tun.
Hier wie bei allem andern genügt für den Christlichen Wissenschafter das Beispiel, das Jesus, der große Wegweiser, gab. Jesus kannte nicht nur die geistigen Tatsachen des Seins, sondern er wußte auch, was diejenigen, die um ihn waren, dachten, und zwar wußte er es gewöhnlich besser, als die Betreffenden es selber wußten, oft sogar, ohne daß sie ein Wort gesprochen hatten. Jesus kannte die Gedanken der Samariterin am Brunnen in Sichar; der Pharisäer, die auf seine Heilungen acht gaben, um etwas auszusetzen zu finden; des leidenden Weibes, das den Saum seines Gewandes berührte; des Petrus, als er um die Bezahlung der Steuer besorgt war; des Judas, der im Begriff stand, ihn zu verraten, und vieler anderer.
Was gab ihm diesen ungewöhnlichen Einblick? Nicht menschliche Seelenkunde, noch das Verlangen, Freunde zu gewinnen oder bei Menschen Anklang zu finden, sondern sein Vertrautsein mit der Wissenschaft des göttlichen Gemüts. Jesu Fähigkeit, das menschliche Denken wahrzunehmen, hatte auch nichts Geheimnisvolles an sich. Im Lehrbuch der Christian Science Der Name, den Mary Baker Eddy ihrer Entdeckung gab (sprich kri'ß-tiön ßai'-enß). Die wörtliche Übersetzung der zwei Worte ist „Christliche Wissenschaft”. „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” behandelt die Verfasserin, Mary Baker Eddy, in dem Kapitel „Christliche Wissenschaft gegen Spiritualismus” unseres Meisters geistige Einsicht ziemlich ausführlich. Forscht man sorgfältig in diesem Kapitel, hauptsächlich von Seite 83 bis Seite 87, und auf Seite 94 und 95, so findet man die Erklärung für diese Erscheinung. Mrs. Eddy schreibt an einer Stelle (S. 94): „Unser Meister las das sterbliche Gemüt von einer wissenschaftlichen Grundlage aus, nämlich von der der Allgegenwart des Gemüts. Eine Annäherung an diese Erkenntnis deutet geistiges Wachstum an, sowie die Vereinigung mit den unendlichen Fähigkeiten des einen Gemüts.”
Jesus kannte Gott als das Gemüt oder den Geist. Er wußte ferner, daß Gott das Prinzip alles wirklichen Seins ist, daß Er die alles durchdringende Seele und die alles sehende Liebe ist. Er wußte auch, daß er als der Sohn Gottes wesenseins mit Gott war; daß er nicht der Sprößling sterblicher. Eltern, sondern der intelligente Vertreter des unendlichen Gemüts war. Er wußte überdies, daß jede Erscheinungsform des menschlichen Daseins eine Tätigkeit des Denkens, nicht der Materie oder materiellen Gesetzes, ist. Er sah den Beweggrund in der Handlung. Er war gewöhnt, den sichtbaren Augenschein der materiellen Sinne zu durchschauen, ihn umzukehren und die zugrundeliegende geistige Tatsache zu erkennen, und auf dieselbe Art und Weise konnte er über die äußeren. Verkleidungen des sich selber täuschenden Sterblichen hinausblicken und sehen, was für ein Denken in den Schlupfwinkeln des menschlichen Herzens am Werk war.
Die vier Evangelien und hauptsächlich die Bergpredigt geben uns unschätzbare Lehren über persönliche Beziehungen. Es sind allerdings knappe Berichte; aber sie veranschaulichen, wie Jesus sich gegen diejenigen verhielt, die bei ihm waren. Im 16. Kapitel des Evangeliums des Matthäus ist zum Beispiel erzählt, wie der Meister bei Petrus zwischen göttlich eingegebenen Ideen und den Einflüsterungen falscher sterblicher Annahme unterschied. Im ersten Falle verkündigte Petrus aus innerem Drange die wahre Wesensart seines Herrn mit den bedeutsamen Worten: „Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!” worauf Jesus erwiderte: „Selig bist du, Simon, Jona's Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.” Wenn Jesus dann aber einige Verse weiter unten in demselben Kapitel seine Kreuzigung und Auferstehung voraussagt, erhebt Petrus Widerspruch dagegen, indem er sagt: „Herr, schone dein selbst; das widerfahre dir nur nicht!” Diesmal wendet sich Jesus gegen Petrus und weist die Einflüsterung Ungehorsam zurecht mit den Worten: „Hebe dich, Satan, von mir! du bist mir ärgerlich; denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.”
Hieraus können wir ersehen, daß sich Jesus nicht mit der menschlichen Persönlichkeit, sondern immer mit der Beschaffenheit des Denkens befaßte. Die Person, nach dem Fleisch beurteilt, war in beiden Fällen Petrus; aber wie verschieden war, durch die Lupe des Geistes betrachtet, sein Danken! Kurzum, Jesus beurteilte nicht Personen, sondern Gedanken, und zwar im Geist der göttlichen Liebe und dem Gesetz der Wahrheit gemäß.
Unser Meister hinterließ für das Unterscheiden zwischen den wahren und den falschen Begriffen vom Menschen die kurze Regel: „Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist.” Jesus verwechselte diese beiden Begriffe nie. Die menschliche Persönlichkeit scheint gewöhnlich eine Mischung des Wahren und des Unwahren zu sein; aber Jesus ging nicht auf die sterbliche Trugvorstellung ein, daß der Geist und das Fleisch in einer Person, einem sogenannten menschlichen Wesen, vereint seien. In ähnlicher Weise hat Mrs. Eddy im Lehrbuch (Wissenschaft und Gesundheit, S. 466) auf die Frage: „Was sind Geister und Seelen?” geantwortet: „Für die menschliche Annahme sind sie Persönlichkeiten, welche sich aus Gemüt und Materie, Leben und Tod, Wahrheit und Irrtum, Gut und Böse zusammensetzen; aber wie die Christliche Wissenschaft enthüllt, stellen diese gegensätzlichen Wortpaare Gegensätze dar, die weder nebeneinander bestehen noch sich assimilieren.”
Laßt uns für diese uns in Christian Science enthüllte wissenschaftliche Unterscheidung aufrichtig dankbar sein! Für unsern Meister war dieses beständige Auseinanderhalten das Natürliche; es war die Grundlage für seinen Verkehr mit anderen Leuten. Weil er die Irrtümer kannte, aus denen das sogenannte sterbliche Gemüt besteht, und weil er die Unwahrheit dieser Irrtümer kannte und die göttliche Art des geistigen Menschen verstand, konnte er diejenigen heilen, die willens waren, geheilt zu werden.
Was Petrus bei dem Verrat seines Meisters erlebte, veranschaulicht den wunderbaren Scharfblick Jesu und sein Erbarmen. Der Meister sah die seinem Jünger bevorstehende schwere Prüfung voraus und warnte ihn; er betete sogar für ihn, daß sein Glaube nicht versagen möge. Petrus beteuerte seine unumstößliche Treue; er war seiner selbst so sicher, war so überzeugt, daß er seinem geliebten Herrn treu bleiben werde! Aber Jesus wußte vollständig, was im sterblichen Gemüt vor sich ging, und er warnte Petrus davor, daß er noch vor dem ersten Hahnenschrei ihn dreimal verleugnen werde. Dies muß Petrus in jenem Augenblick unglaublich geklungen haben. Als aber die Stunde kam, verleugnete er ihn nicht nur, sondern stellte sogar in Abrede, daß er Jesus überhaupt kenne.
Es lehrt uns wahrlich Duldsamkeit, wenn wir bedenken, daß unser Meister auf seinem Lebenswege selten mit jemand zusammen war, der mehr als nur einen kleinen Bruchteil dessen verstand, was er über die wahren Tatsachen des Seins wußte. Wenn unsere Freunde empörende Dinge tun oder etwas sagen, was uns das Herz zerreißt, wollen wir uns nicht im stillen fragen: „Wie ist es nur möglich? Wie können sie bloß so unbesonnen, so unvernünftig, so blind sein?”, sondern an das Erlebnis des Petrus denken, der sich, obgleich er einer der ersten Jünger war, von den mesmerischen Einflüsterungen des sterblichen Gemüts kläglich betören ließ.
Warum tun Leute solche Dinge? Weil sie sich täuschen lassen; weil sie sich nicht bewußt sind, daß der Mensch jetzt die Widerspiegelung des göttlichen Gemüts und nur dieses Gemüts ist. Daher verfallen sie in den Glauben, daß sie sterbliche Persönlichkeiten seien und aus widerstreitenden Elementen bestehen, die im wahren Menschentum „weder nebeneinander bestehen noch sich assimilieren”. Dieser falsche Glaube mag zwar ihre irrige Auffassung erklären, aber er macht sie in Wirklichkeit nicht zu Sterblichen, und es ist die Aufgabe des Christlichen Wissenschafters, an der geistigen Wesensart des Menschen unerschütterlich festzuhalten.
Unsere bittersten Enttäuschungen entstehen oft daraus, daß andere nicht dem entsprechen, was wir von ihnen erwarten. Sind wir weise in unseren Forderungen? Jesus erwartete offenbar nie, daß das sterbliche Gemüt wie das unsterbliche Gemüt handeln oder die Eigenschaften Gottes bekunden werde. Er erwartete jedoch, daß die Sterblichen in dem Maße, wie sie den Christus erkannten, anfangen würden, die geistigen Eigenschaften Gottes auszudrücken und das Sterbliche um des Unsterblichen willen auszugeben. Wir sollten diese weitgehende Änderung von anderen nicht schneller erwarten als von uns selber.
Man kann das sterbliche Gemüt nicht verstehen, wenn man von einer sterblichen Grundlage aus denkt. In der Bergpredigt ist klar die Vorschrift gegeben: „Zieh am ersten den Balken aus deinem Auge; darnach siehe zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest!” Es läuft darauf hinaus: um andere zu verstehen, muß man selber die Wahrheit beweisen und veranschaulichen. Selbsttäuschung verhindert uns zu sehen, was einen andern getäuscht hat. Das sterbliche Gemüt denkt nicht; es handelt unter dem Antrieb von Einflüsterungen, von Vorliebe und Abneigung, oder von Zügen in der Veranlagung, deren es sich kaum bewußt ist. Wenn wir erkennen können, was Leute veranlaßt, zu handeln, wie sie handeln, sind wir in der Lage, ihnen zu helfen. In dem Rat unserer weisen Führerin in Wissenschaft und Gesundheit (S. 403) ist die rechte Haltung zusammengefaßt: „Du bist Herr der Lage, wenn du verstehst, daß das sterbliche Dasein ein Zustand der Selbsttäuschung und nicht die Wahrheit des Seins ist.”
Es ist schon gesagt worden, daß wir lernen müssen, den Menschen nicht nur das, was sie tun, sondern auch das, was sie sind, zu vergeben. Wer wie ein Sterblicher denkt und handelt, weiß nicht, was er wirklich ist, er kennt das göttliche, unsterbliche Prinzip des Menschen nicht. Wenn wir diese Tatsache verstehen, können wir Geduld mit ihm haben. Jesus legte großen Nachdruck auf die Notwendigkeit des Vergebens. Als er seinen Nachfolgern das Gebet des Herrn gab, muß er auf Grund seiner tiefen Menschenkenntnis gefühlt haben, daß es den Sterblichen schwer fallen werde, vergeben zu lernen; denn unmittelbar am Schluß des Gebets macht er auf den Teil aufmerksam, der vom Vergeben handelt, und fügt hinzu: „Denn so ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben.” Der Christliche Wissenschafter darf also wohl ernstlich darüber nachdenken und aufrichtig danach trachten, wie er diese Hauptpflicht des Christen erfüllen und lernen kann, das Denken anderer so zu verstehen, daß er sie mehr lieben und ihnen mehr helfen kann.
Komme, was wolle, halte fest an der Liebe. Laß dich nicht erbittern und verhärte dein Herz nicht, was Menschen dir auch antun mögen. Wir gewinnen durch Milde; wir siegen durch Vergebung.—
