Wieviel Trost und Inspiration schöpft doch der aufrichtige Nachfolger Christi Jesu aus den Botschaften des großen Apostels der Heiden! Obwohl er selbst ein intellektueller Riese war, dessen Beweise der göttlichen Macht ihn in ganz natürlicher Weise zu einer führenden Stellung unter den ersten Christen erhob, hat Paulus offenbar niemals jene Gabe verloren, die der Dichter die „Fühlung mit dem einfachen Menschen“ nannte — die Herzensgüte, die wie der Samariter verständnisvoll zu dem Hörer hingeht und sich in seine Lage versetzt.
Seine Demut läßt niemals nach. Wenn er von Sündern spricht, so fügt er schnell hinzu: „Unter welchen ich der vornehmste bin“ (1. Tim. 1:15), und im siebten Kapitel seines Römerbriefes gibt er ganz offen seine inneren Kämpfe mit den Versuchungen des Fleisches zu. Er schließt seine Beschreibung mit diesem so menschlichen Klageruf: „Ich elender Mensch! wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?“ Dann kommt ein typisch paulinischer Einwurf. Er beantwortet seine eigene Frage mit einem triumphierenden „Ich danke Gott durch Jesum Christum, unsern Herrn.“ Und im nächsten Kapitel folgt dann jene mächtige Erklärung, deren Widerhall durch die Jahrhunderte klang und Abertausende ermutigte und stärkte: „So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist. Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu, hat mich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.“
Dem christlichen Kalender gemäß haben wir das Jahresende erreicht, und ehe die alten Bücher und Verrechnungen abgeschlossen werden und ein neues Buch angefangen wird, tut der weise Buchführer wohl daran, einen nachdenklichen Blick über einige der alten Seiten zu werfen. Hier mag er an einen Sieg erinnert werden, dort an eine Niederlage. Hier mag es „wohlgetan“ heißen, dort mag ein Fehler zu verzeichnen sein. Doch selbst wenn auf der Soll-Seite der Eintragungen ein paar unerfreuliche Posten sind, „so ist nun nichts Verdammliches“ an denen, die sich ehrlich bemühen, „in Christo Jesu“ zu sein — an denen, die in der Christlichen Wissenschaft lernen, den Irrtum zu verneinen und aufzugeben, und die Wahrheit, die der Meister lehrte, zu lieben und zu leben.
In ihrem Werk „Miscellaneous Writings“ sagt Mrs. Eddy in dem Aufsatz „Die Stimmen des Frühlings“ (S. 330): „Wir tun wohl daran, mit unsern vergangenen Stunden zu reden, zu hören, was sie uns zu melden haben, und wie sie vielleicht von größerem geistigem Wachstum hätten berichten sollen. Mit jedem wiederkehrenden Jahre sollten höhere Freuden, heiligere Ziele, reinerer Frieden und göttlichere Kraft den Duft des Seins erneuern.“
Wie wichtig ist es, daß der Christliche Wissenschafter „mit vergangenen Stunden reden“ kann, um Lektionen von ihnen zu lernen und den Irrtum zu verdammen — doch nie des Menschen wahre Selbstheit! Verdammung ist ein unschönes Wort, außer wenn es auf das Böse angewandt wird. „Jeder Fehltritt ist schon verdammt, ehe er begangen wird“, sagt einer der Charaktere Shakespeares. Selbstverdammung, die Bürde eines strengen, unnachgibigen Schuldgefühls, das das Herz bedrückt, ist einer der größten Feinde der Menschheit; während die Verurteilung und die Zurückweisung der Sünde die Vorboten sicheren Friedens und Fortschrittes sind.
Die folgende Erfahrung veranschaulicht diese alte Wahrheit. Ein Ehepaar suchte einen Ausüber der Christlichen Wissenschaft auf, und die Frau erklärte den Grund ihres Kommens mit gelegentlichen strengen Seitenblicken nach ihrem Gatten. Dieser trank. Er war schwach. Er hatte verschiedene sogenannte Heilkuren versucht, doch war er nicht Manns genug, sagte seine Frau, um die Heilung halten zu können. Der Angeklagte war schuldig — das stand außer Frage. Bei jedem Wortangriff zuckte er zusammen, wie von einem Peitschenhiebe getroffen.
Jemand hatte empfohlen, daß sie Behandlung im Sinne der Christlichen Wissenschaft versuchen sollten, und darum waren sie gekommen. Doch, warnte die Gattin, dies war der letzte Versuch. Wenn der Ehegatte sich selbst mit Hilfe der Christlichen Wissenschaft nicht zusammenraffen, mehr Willenskraft entwickeln und sich über die Trunksucht erheben könnte, so war sie fertig mit ihm. Sie würde keinen weiteren Fehltritt mehr dulden.
Der Ausüber nahm den Fall an, und eine Zeitlang war ausgesprochener Fortschritt zu verzeichnen. Der Patient war augenscheinlich auf dem Wege der Besserung und endgültigen Heilung. Doch eines Tages erschien er wieder an der Tür des Wissenschafters in recht traurigem Zustande. Er bat, seine Frau rufen zu lassen, und als diese kam, blitzte das Feuer unnachgiebiger Verurteilung in ihren Blicken. Sie erklärte, daß dies das Ende sei. Der Ausüber nahm sie zur Seite und stellte ihr ernstlich diese Frage: „Wenn Ihr Gatte eine schlimme Wunde hätte, die durch den Angriff eines wilden Tieres verursacht worden wäre, würden Sie ihn dann verurteilen? Ganz gewiß nicht! Die Verurteilung würde sich gegen das wilde Tier richten, nicht gegen das Opfer des tierischen Angriffes. Doch hier haben wir nur eine andere Form, in welcher der sterbliche Mensch das Opfer eines Angriffes geworden ist, diesmal ist er dem Bann der Vertiertheit zum Opfer gefallen. Sollten wir deshalb nicht vielmehr den Irrtum verdammen, statt den sterblichen Menschen?“
Schließlich sagte der Ausüber: „Sie haben ein krankes Kind in Pflege. Es sehnt sich nach Mutterliebe, nach der Stärkung, die nur die Mutter spenden kann. Sie stehen eben beide an der Schwelle der Christlichen Wissenschaft und einer der schönsten Erfahrungen, die je in Ihr Leben gekommen sind. Dies ist nicht der Augenblick aufzugeben! Laßt uns also die Sünde verdammen und auf ihr Nichts zurückführen, doch den Sünder erlösen.“ Eine Gattin, deren Gesichtsausdruck die Sanftheit einer liebevollen Mutter angenommen hatte, führte ihren Ehegatten heim. Und das war das Ende jener Sklaverei der Trunksucht und des Leidens jenes Haushaltes. Der Mann war geheilt. Das Verstehen von des Menschen freier Selbstheit als der Idee Gottes hatte die Macht der Sünde gebannt und die Erlösung gebracht.
Wenn wir die vergangenen Stunden eines entschwindenden Jahres nachprüfen, mögen Erinnerungen an unglückselige Verdammung und nutzlose Bekrittelung unsrer selbst und unsrer Mitmenschen aufkommen. Sollten wir hier nicht einer volkstümlichen und würdigen Sitte folgen und einen Neujahrsentschluß fassen? Laßt uns den Entschluß fassen, uns während der kommenden Monate zu bestreben, unschöne Bekrittelung und Verdammung aus unserm Denken auszuschalten. Wenn unchristliche Verurteilung über unsre Lippen gekommen ist, so sollten wir nicht die Sache fallen lassen, bis eine bestimmte Erklärung von der Vollkommenheit des Menschen als des Ebenbildes Gottes statt dessen gemacht worden ist. Dann können wir in der Tat in immer vollerem Maße beweisen, daß „mit jedem wiederkehrenden Jahre. .. höhere Freuden, heiligere Ziele, reinerer Frieden und göttlichere Kraft den Duft des Seins erneuern“.
