Gegenwärtig tritt eine mächtige Forderung an uns heran und stellt die Tiefe und Rechtlichkeit unserer Liebe auf die Probe. An die Tür des Bewußtseins klopft beständig die Forderung, zu vergeben, es abzulehnen, Böses mit dem Menschen zu verknüpfen. Vergeben ist die große Forderung der Liebe.
Es dürfte kaum jemand geben, der nicht schon einmal einem andern zu vergeben hatte, oder dem nicht jemand anders zu vergeben hatte. Und bittet innerlich nicht jeder, der ehrlich denkt, seinen himmlischen Vater demütig um Vergebung — um Berichtigung oder Tilgung von Irrtum? Die ganze Christenheit gibt zu, daß das Vergeben eine christliche Tugend ist, und alle Christen beten in dem „Gebet des Herrn“ um Vergebung; sie anerkennen also, daß Vergebung notwendig ist. Mary Baker Eddy, die inspirierte Führerin der Christlichen Wissenschaft, gibt uns in ihrer geistigen Auslegung der Bitte: „Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern“, die vollständige und wahre Begriffsbestimmung für Vergebung mit den Worten (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 17): „Und Liebe spiegelt sich in Liebe wider.“
Nach einem Wörterbuch heißt vergeben „den Groll oder Anspruch auf Wiedervergeltung wegen einer Beleidigung oder eines Unrechts aufgeben“. Der erste und kürzeste Schritt zu wahrer Vergebung ist das Aufgeben jedes Verlangens, ein Unrecht, das einem zugefügt wurde, mit Gleichem zu vergelten oder zu ahnden. Der nächste und schwerere Schritt ist, Groll aus seinem Denken auszuscheiden. Solange noch eine Spur von Unwillen oder Gekränktsein vorhanden ist, hat man noch nicht vergeben. Für den Fortschritt des Christlichen Wissenschafters ist es höchst notwendig, daß er sich weigert, Groll und Selbstbedauern zu hegen, denn diese Erscheinungsformen irrigen Denkens sind irdische Lasten, die das Vorwärtsschreiten hindern.
Als ein Jünger Jesu den großen Wegweiser fragte, ob ein siebenmaliges Vergeben genüge, erhielt er zur Antwort: „Ich sage dir: Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.“ Jesus bewies in seinem eigenen Leben die vollkommenste Vergebung, und Mrs. Eddy beschreibt sie sehr schön in „Miscellaneous Writings“ (S. 124): „Die letzte Handlung bei der erschütternden Begebenheit an der Schädelstätte zerriß den Vorhang der Materie und enthüllte den Sterblichen das große Vermächtnis der Liebe: die Liebe, die ihren Feinden vergibt. Dieses erhabene Handeln krönte das Christentum und krönt es heute noch: es befreit die Sterblichen; es setzt die Liebe in die Tat um; es gibt dem Leiden Erleuchtung, der Geduld Erfahrung, der Erfahrung Hoffnung, der Hoffnung Glauben, dem Glauben Verständnis, und dem Verständnis die siegreiche Liebe!“
Dieser letzte Schritt vergebender Liebe ließ Jesus am Kreuz sagen: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Versteht jemand je wirklich, was er tut, wenn er einem andern Schaden zufügt oder ihn kränkt? Wenn er es verstünde, würde er nicht den Fehler machen, der früher oder später vergeben, vernichtet werden muß, damit sowohl der, der kränkt, als auch der Gekränkte von den fesselnden Ketten befreit wird. Fehler wie unbesonnenes abfälliges Urteilen, scharfes Verurteilen, das Wiederholen von übler Nachrede, falsches Darstellen von Tatsachen; das Bemühen, die Arbeit eines andern herabzuwürdigen, um ihn zu verdrängen; ein falsches Auslegen von Beweggründen; einen andern um seinen Fortschritt beneiden — diese Fehler beginge man nicht, wenn es einem klar wäre, wie sie auf einen selber zurückwirken. Dessenungeachtet muß man den Groll über diese Irrtümer aufgeben, muß man sie aus dem Denken ausscheiden, sie von der Person trennen und sie dadurch vergeben.
Wie können wir Irrtum von der Person trennen? Wie können wir Groll und Kränkung überwinden und dadurch vergeben? Wir können diese rechte Denkweise erlangen durch die Erkenntnis der unbedingten Wahrheit, daß nichts zu vergeben ist, da der wirkliche Mensch, der Mensch, den Gott erschaffen hat — und es gibt keinen andern — andere nie verletzt hat oder verletzen wollte, weil er Gott widerspiegelt und ausdrückt. Nur in der täuschenden Annahme eines unwahren Weltalls scheint man einen andern zu verletzen und dadurch Kränkung und Groll zu verursachen, die manchmal mit Rache und Haß verknüpft sind.
Vergeben heißt sein Denken dazu erheben, daß man nur das wirkliche Weltall einschließlich des geistigen Menschen wahrnimmt. In diesem Weltall des Geistes ist nur Gutes vorhanden, ist nichts vorhanden, was stören oder spalten könnte, ist das Selbst unseres Bruders einwandfrei. Jesaja beschreibt diesen wahren Daseinszustand mit den Worten: „Man wird nirgend Schaden tun noch verderben auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land ist voll Erkenntnis des Herrn, wie Wasser das Meer bedeckt.“ In der hier geschilderten Denkweise ist keine Vergebung nötig.
Es genügt heute nicht, daß wir nur denen, die uns unmittelbar oder persönlich nahestehen, vergeben. Gruppen oder Völker mögen unsere vergebende Liebe in Anspruch nehmen. Wie können wir am besten das Gefühl überwinden, daß uns persönlich oder unserem Volk Unrecht geschehe? Nur durch Liebe! Wir brauchen nicht die menschliche Kundwerdung zu lieben; wir müssen vielmehr über das falsche Bild hinausschauen und den vollkommenen Menschen sehen, den Gott erschuf und den Gott kennt. Wenn wir diesen wirklichen Menschen — den einzigen Menschen, den es wirklich gibt — wahrnehmen, erkennen wir, daß er nie gefehlt hat, und daß er nie jemand gekränkt oder verletzt hat.
Im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch, Wissenschaft und Gesundheit, schreibt unsere Führerin, Mary Baker Eddy (S. 476, 477): „Jesus sah in der Wissenschaft den vollkommenen Menschen, der ihm da erschien, wo den Sterblichen der sündige, sterbliche Mensch erscheint. In diesem vollkommenen Menschen sah der Heiland Gottes eigenes Gleichnis, und diese korrekte Anschauung vom Menschen heilte die Kranken.“ Dies bezieht sich nicht nur auf körperlich Kranke, sondern auf jeden irgendwie Leidenden; denn sie fügt die Erklärung hinzu: „So lehrte Jesus, daß das Reich Gottes unversehrt und allumfassend, und daß der Mensch rein und heilig ist.“ Ist hier nicht beschrieben, wie man vergibt: sehen, daß der Mensch „rein und heilig“ ist, daß er in Gottes Reich weilt, das allumfassend und unversehrt ist? Hier hat die Trugvorstellung von Bösem, haben Groll, Selbstbedauern, Rache und Haß keinen Platz. Hier ist nur Raum für Vollkommenheit — für den vollkommenen Gott und den vollkommenen Menschen. Die mannigfaltigen Kundwerdungen des fleischlichen Sinnes wie Habgier, Geiz, Haß, Grausamkeit, Rache und Selbstsucht, sind kein Teil des von Gott erschaffenen Menschen, sondern Trugvorstellungen, die nur in dem Traum eines materiellen Lebens bestehen. Sehen, daß diese fleischlichen Annahmen eine wesenlose Trugvorstellung sind, heißt geistig sehen, daß sie nichts sind, heißt sie zerstören.
Um uns jenen heiligen Zustand, den vollkommenen Gott und den vollkommenen Menschen, zu vergegenwärtigen, müssen wir immer mehr lieben, bis dem menschlichen Bewußtsein das Licht vollkommenen geistigen Verstehens aufgeht. Wir können nur durch ein Widerspiegeln wahrhaft lieben; denn nur durch das Verständnis, daß Gott die Liebe ist, und durch das Erkennen unserer Beziehung zu der Liebe kann unser Denken eine immer höhere Stufe erreichen. So kommen wir dahin, daß wir mehr und mehr das sehen, was Gott sieht, und wissen, was Gott weiß.
Wenn wir täglich bestrebt sind, über die heute in der Welt scheinbar herrschende Wirrnis und Zerstörung wissenschaftlich zu denken, werden wir den Menschen als das Bild und Gleichnis Gottes sehen, das von allen Trugvorstellungen, die sich irrigerweise als Mensch darbieten, vollständig getrennt ist. Zu diesem Zweck müssen wir uns vergegenwärtigen, was unsere Führerin uns im Lehrbuch immer wieder sagt: daß es nur ein Gemüt und eine Schöpfung gibt. Es gibt kein fleischliches Gemüt, keinen sterblichen Menschen, und in dem Maße, wie wir die Einheit, das Einssein Gottes und des Menschen verstehen, sehen und kennen wir die Vollkommenheit. So können wir die irrigen Annahmen über den Menschen und das Weltall vergeben oder zerstören. Dies ist die Forderung der Liebe.
