Was würden wohl die Apostel Petrus und Jakobus (oder Matthias oder einer der anderen Apostel wie Barnabas oder Paulus) denken, wenn sie heute in eine christliche Kirche — in jede beliebige Kirche irgendeiner Glaubensrichtung — gingen?
Sie können sich vorstellen, wie überrascht sie wären, daß selbst eine einzelne Kirche, und erst recht eine große Religionsgemeinschaft, so weitgehend organisiert ist. Sie können sich vorstellen, wie sehr die Technologie, die Publikationen, die Programme sie beeindrucken würden.
Aber als erstes könnten die Jünger Fragen über das Heilen stellen: „Ihr sprecht von unserem Meister, als kenntet und liebtet ihr ihn, so wie wir es tun“, könnten sie sagen. „Wir hören eure Worte, eure Erklärungen; aber erzählt uns doch von den Heilungen, die ihr vollbringt.“
Wir können uns die Gespräche vorstellen, die sich daraus ergeben. Vielleicht werden Gründe aufgezeigt, warum das Heilen eigentlich nicht mehr im Mittelpunkt des Christentums steht: der Fortschritt der Medizin; die Auffassung, daß Gott nun durch die Ärzte heile; der Materialismus unserer Zeit; wie unbequem es sei, seine ganze Lebenseinstellung zu ändern, anstatt etwas mit medizinischen Mitteln zu „kurieren“; wie unsinnig es sei, zu erwarten, daß viele Menschen geistig genug gesinnt sind, um geheilt zu werden.
Jemand könnte sogar so verwegen sein, theologische Gesichtspunkte anzuführen. Er könnte erläutern, daß nur vorübergehend so viel Schwergewicht auf das Heilen gelegt wurde, damit die Aufmerksamkeit auf Jesu eigentliche Aufgabe, nämlich die Erlösung, gelenkt werde.
Und dann könnte man sich auch vorstellen, wie sich momentan Unverständnis abzeichnet auf den Gesichtern dieser Männer aus dem ersten Jahrhundert, die ja mit Jesus zusammengewesen waren. Vielleicht würde ihre Verwirrung in Traurigkeit umschlagen, wenn ihre klare, schlichte Ehrlichkeit die Heuchelei durchdringt und sie erkennen, welch unglaubliche Mühen sich das menschliche Gemüt gemacht hat, um Jesu Erklärung zu umgehen, daß diejenigen, die an ihn glauben, auch die Werke tun würden, die er tat. Siehe Joh 14:12.
Wenn das heilende Christentum überholt oder belanglos wäre, dann befände sich das Christentum auf dem Wege, nur ein unpraktisches Überbleibsel zu werden, das bald durch noch weiteren wissenschaftlichen „Fortschritt“ verschlungen wird. Aber man kommt um die Tatsache nicht herum, daß Christentum und Heilung eins sind. Wenn man die Evangelien oder die Apostelgeschichte im Neuen Testament unvoreingenommen liest, wird das unvermeidlich offenkundig. Allein in den Evangelien werden zum Beispiel an die vierzig Heilungen erwähnt; beinahe ein Fünftel des Textes bezieht sich auf die Heilungen, die Christus Jesus bewirkte.
Eines der bedeutsamsten Zeichen der Zeit ist daher das wachsende Interesse sowohl an Geistigkeit als auch am christlichen Heilen. Neue Beachtung findet auch das Verhältnis zwischen Theologie und Heilung, Worten und Taten, Predigen und praktischer Anwendung. Im Herold werden diesen und nächsten Monat einige Bemerkungen und Erkenntnisse von Leuten wiedergegeben, die heute das christliche Heilen praktizieren.
Diese kleinen Zeichen könnte man leicht übersehen in einem Zeitalter, das erleuchtete Reklametafeln in der Größe eines Spielfeldes gern als alleinigen Anhaltspunkt dafür nimmt, daß eine Botschaft wirksam übermittelt wird. Es stimmt zwar, daß diejenigen, die vom christlichen Heilen sprechen, nicht von kunstvoll gearbeiteten Kanzeln predigen, noch die größte Anhängerzahl haben. Ebenso verfolgen sie oft keine klare Linie und stimmen weder miteinander noch mit der Christlichen Wissenschaft
Christian Science (kr’istjən s’aiəns) überein. Aber trotzdem sind für diejenigen, die Augen haben, um zu sehen, die Zeichen vorhanden — Zeichen, die unser Innerstes ansprechen. Diese Zeichen könnten denen, die zu schreien gewöhnt sind, wie ein Flüstern vorkommen. Aber wie die Bibel sagt, die Stimme eines Engels kann klingen, „wie [wenn] ein Löwe brüllt“ Offb 10:3..
Mary Baker Eddy, die die Kirche Christi, Wissenschafter, gründete, bemerkte einmal: „Die göttliche Idee nimmt in verschiedenen Zeitaltern verschiedene Formen an, je nach den Bedürfnissen der Menschheit. In diesem Zeitalter nimmt sie, weiser denn je, die Form des christlichen Heilens an. Das ist das Kindlein, das wir liebhaben sollen.“ Vermischte Schriften, S. 370.
Nach menschlichen Begriffen von Größe und Bedeutung könnte das Heilen durch geistige und christlich wissenschaftliche Mittel wie ein Kindlein erscheinen. Es könnte inmitten des weltlichen Strebens nach Ansehen und Macht winzig aussehen. Man könnte versucht sein, zu glauben, daß dieses kleine, stille Kindlein in der Krippe für die aufregenden Angelegenheiten der Welt nicht von großem Belang sei. Das wäre eine bedeutende Fehlkalkulation. Das Christus-Heilen offenbart die Allmacht Gottes, des göttlichen Prinzips, wie nichts anderes. Auch wird hiermit nicht einfach das Offensichtliche gesagt — nämlich daß Gottes große Macht sich darin zeigt, daß Krankheit überwunden und Sünde abgelegt wird. Tatsächlich werden wir in unserer tiefen Not zu einem neuen Verständnis des göttlichen Geistes geführt. Dieser Geist erweist sich als so unermeßlich, daß wir uns der Notwendigkeit bewußt werden, Macht und Wirklichkeit von Grund auf neu zu definieren. Wie so viele festgestellt haben, bedeutet eine göttliche Heilung weniger, daß man eine körperliche Veränderung erlebt, als vielmehr daß man das Wirken eines geistigen Gesetzes, einer geistigen Macht und Dimension erfährt. Wir können nicht umhin, zu fühlen, wie greifbar, wie wirklich, wie vollkommen Geist, Gott, tatsächlich ist — und immer war.
Wo solch ein Erwachen zu Gottes Gegenwart und Reich stattfindet, erfolgt das Christus-Heilen. So war es zu Beginn des Christentums. Und so ist es auch heute noch in einem wissenschaftlichen Zeitalter. Und die Notwendigkeit, sanftmütig und rein zu sein, um den Christus, die göttliche Idee, und seine weltverändernde heilende Macht zu empfangen, besteht auch nach zweitausend Jahren noch unverändert.
