Es ist gut zu wissen, daß sich unser Verständnis von Gott und dem Leben nach und nach im menschlichen Denken entfaltet. Wir erlangen das Verständnis nicht sofort, doch brauchen wir uns deshalb keine Sorgen zu machen. Es mag viele Dinge geben, die wir nicht verstehen, wir können aber darauf vertrauen, daß Gott das göttliche Gemüt ist und daß Er der Schöpfer und Erhalter alles dessen ist, was wahrhaft existiert.
Auf diese große Wahrheit können wir auch dann vertrauen, wenn im menschlichen Leben vieles schwer zu begreifen ist oder keinen Sinn zu haben scheint. Manchmal sehen die besten und segensreichsten Erfahrungen anfangs alles andere als nützlich aus. Zum Beispiel fällt es uns schwer, den Sinn einer guten Ausbildung zu sehen oder sie zu schätzen, wenn wir spätabends noch über einem Thema brüten, das uns keinen sofortigen Nutzen zu bringen scheint, uns vielmehr im Augenblick beträchtliche Mühe abverlangt. Ähnlich ist es mit vielen Heilungen, die wir erleben. Wir wissen sie erst richtig zu schätzen, wenn wir von einem Standpunkt größerer Reife auf sie zurückblicken.
Gewiß, es schmerzt manchmal, wenn wir vor großen Herausforderungen stehen, besonders in den Fällen, wo wir wirklich versucht haben, unser Bestes zu geben. Selbst die Erkenntnis, daß wir alle schon Fehler gemacht haben, ist nicht immer tröstlich, und sie gibt uns auch nicht das Verständnis, das nötig ist, um sich den Herausforderungen zu stellen und die Allheit Gottes zu beweisen. In solchen Zeiten wird deutlich, daß es mindestens zwei Arten von Toleranz gibt, die sich in unserem Leben entwickeln können. Die eine Toleranz erwächst uns aus der Erkenntnis, selber schon Fehler gemacht zu haben. Wenn dann ein anderer einen ähnlichen Fehler begeht, sind wir vielleicht geneigt, weniger streng zu urteilen. Eine andere Art der Toleranz nimmt dem Bösen die Grundlage und enthüllt seine Nichtsheit; sie befreit wirklich.
Solche Toleranz erwächst aus dem Verständnis, daß alles Gute von Gott ist und daß kein Mensch, ganz gleich, was er getan haben mag, das Gute an sich hervorbringt oder auch zerstören könnte. Das Gute wird für uns wirklich greifbar, wenn wir uns an Gott als den Schöpfer des Menschen wenden und uns bewußt werden, daß das Gute geistig ist und aus dem ewigen Leben kommt. Tatsächlich können wir das Gute genausowenig verlieren, wie wir Gott verlieren können — auch wenn wir meinen, Ihn vorübergehend nicht wahrnehmen zu können.
Aus menschlicher Sicht ist alles Gute, das wir verkörpern, nur einer höheren Quelle entliehen — wir haben es nicht selbst erschaffen. Durch diese Erkenntnis lernen wir Demut, eine der wichtigsten Eigenschaften, die ein aufrichtiger Mensch besitzen kann. Erst diese Eigenschaft bewahrt uns vor den niederschmetternden Enttäuschungen, die sich einstellen können, wenn wir oder andere nicht den Erwartungen entsprechen. Die Demut vergißt nie, daß all das Gute, das wir lieben, eine widergespiegelte Eigenschft Gottes ist. Wir können es nie aus den Augen verlieren.
Das ist ein Lernprozeß. Menschlich betrachtet besitzt kein einziger von uns das Gute so, wie man Anspruch auf einen materiellen Besitz haben und sich als persönlicher Eigentümer einer Sache betrachten könnte. Die Menschheit wird das Gute, das heißt göttliche Intelligenz und Zuneigung, in dem Maße ausdrücken, wie der einzelne sein wahres Selbst als Bild und Gleichnis Gottes versteht. Und wenn wir oder andere auf diesem Pfad des Lernens gelegentlich stolpern, werden wir toleranter und mitfühlender sein, nicht weil wir das schädliche Übel oder die Sünde nun dulden, sondern weil wir einsehen, daß das Gesetz Gottes gelernt und durch Erfahrung bewiesen werden muß.
Wir alle lernen jedoch viel schneller, gut zu handeln und am moralischen und geistigen Gesetz festzuhalten, das Sünde überwindet, Krankheit heilt und bleibendes Glück bringt, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß unser wahres Selbst nicht das ist, was die materiellen Sinne sehen.
Die Christliche Wissenschaft offenbart, daß unser wahres Wesen gottähnlich, geistig und wahrhaft gut ist. Es ist wirklich nichts Sündiges oder Krankes in uns, noch wird solches Übel durch irgendein göttliches Gesetz aufrechterhalten oder verursacht. Das ist die göttliche Wirklichkeit, die in der Christlichen Wissenschaft enthüllt wird, und das ist die geistige Wahrheit, durch die wir Sünde als Sünde erkennen und sie überwinden können. Aber die Demonstration, der Beweis, der für diese geheiligte Tatsache so unbedingt erforderlich ist, kommt allmählich im Leben — Schritt für Schritt. Niederlagen wie Siege begleiten uns auf dem Weg — Niederlagen für menschliches Wollen und Streben und Siege, durch die Sünde und Krankheit abnehmen, bis sie verschwinden.
Angesichts der unendlichen Wahrheit sind wir in gewissem Sinne alle Anfänger. Und doch ist das göttliche Prinzip, das unserem Leben zugrunde liegt, auch genau das, was dieses Leben absichert und uns zu dem geistigen Wachstum und Fortschritt drängt, die das Entdecken unserer Einheit mit Gott mit sich bringt. Wie mitfühlend beschreibt doch Mrs. Eddy in ihrem Buch Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift die Aufgabe, die uns erwartet: „Ich will nicht das Kind auf einmal in einen erwachsenen Menschen umgestalten, noch will ich, daß der Säugling lebenslang ein kleines Kind bleibe. Ich verlange nichts Unmögliches, wenn ich auf den Ansprüchen der Christlichen Wissenschaft bestehe; aber weil diese Lehre der Zeit voraus ist, sollten wir unser Bedürfnis nach ihrer geistigen Entfaltung nicht leugnen. Durch die Wissenschaft und das Christentum wird die Menschheit besser werden. Die Notwendigkeit, das Menschengeschlecht zu heben, ist der Vater der Tatsache, daß Gemüt dies zu tun vermag, denn Gemüt kann Reinheit anstatt Unreinheit, Stärke anstatt Schwachheit und Gesundheit anstatt Krankheit verleihen.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 371.
Geistig zu erkennen, was im menschlichen Leben tatsächlich am Wirken ist, hebt unsere Hoffnung, selbst bei großen Enttäuschungen. Gewiß war es dem Meister Christus Jesus erst durch dieses geistige Erkennen möglich, trotz des Versagens seiner eigenen Jünger durchzuhalten, und trotz des Widerstands der vielen gegen seine Lehre und des schließlichen Verrats durch Judas. Letzten Endes jedoch triumphierten das göttliche Leben und die göttliche Liebe. Jesu Glaube an die göttliche Wahrheit und Liebe und sein Gehorsam gegen Wahrheit und Liebe wurden belohnt.
Können wir da nicht zuversichtlich sein, daß alle Menschen den gleichen Triumph erfahren werden? Und ob wir das können! Wenn wir davon überzeugt sind, wird in unserem Leben sowie im Leben jedes Menschen Toleranz und Mitgefühl einen festen Halt in der Gegenwart und Macht Gottes finden. Solch ein Mitgefühl rüstet unsere Gebete mit heilender Kraft aus. Keine Enttäuschung wird uns umwerfen.
