Es War Wieder einer von Annes „Supersprüngen“ — ein pfeilgerader Kopfsprung vom Turm, bei dem sie fast ohne einen Spritzer ins Wasser glitt. Aber so perfekt der Sprung auch gewesen war — Annes Vater schüttelte den Kopf und sagte: „Sie wird nie einen Wettbewerb gewinnen. Sie hat nicht genug von einem Killer in sich.“ Das ist ein Argument, dem wir alle schon begegnet sind: daß einige Sportler einfach nicht gemein genug sind, um zu gewinnen.
Aber müssen wir wirklich unsere Mitbewerber psychologisch fertigmachen und ihnen nach dem Motto „Wolf frißt Wolf“ gegenübertreten, um im Sport Erfolg zu haben — oder auch bei der Partnersuche, an der Universität, im Geschäftsleben oder in internationalen Beziehungen? Stimmt es, was der berühmte amerikanische Baseballmanager Leo Durocher einmal gesagt hat, daß „nette Burschen zuletzt ans Ziel kommen“?
Augenscheinlich sind die Mitglieder einer Jungen-Fußballmannschaft im Raum Boston nicht dieser Meinung. Kürzlich gewannen sie laut offiziellem Resultat ein Spiel mit 5:4. Aber die Jungen — alles Schüler aus neunten Klassen — steckten die Köpfe zusammen und beschlossen, den Schiedsrichtern die Wahrheit zu sagen: das Siegestor war eigentlich kein Tor gewesen, denn der Ball hatte die Querlatte getroffen und war vor der Linie aufgeprallt. Daraufhin wurde das Spiel als unentschieden 4:4 gewertet. Und alle waren sehr zufrieden damit, einschließlich des Zeitungsreporters, der die Jungen für ihren Sportsgeist lobte.
In der Welt des Sports ist so eine faire Gesinnung, wie sie diese jungen Fußballer an den Tag legten, nur selten zu finden. Aber bedeutet das, daß man naiv — oder ganz einfach dumm — ist, wenn man nicht jede Gelegenheit zum Sieg nutzt, egal, wer dabei auf der Streck bleibt? Keineswegs. Vielmehr ist es eine zeitlose christliche Lebensregel, nicht einzig und allein danach zu trachten, an die Spitze zu kommen, sondern ehrlich und selbstlos zu sein.
Jesus merkte eines Tages, daß seine Jünger sich darüber stritten, „wer der Größte sei“ unter ihnen. Und sofort sagte er ihnen, nur der demütigste und dienstbereiteste von ihnen sei für das Führeramt im Christentum geeignet. „Wenn jemand will der Erste sein,“ sagte er, „der soll der Letzte sein von allen und aller Diener.“ Siehe Mk 9:33–35.
Warum sind Demut und Dienstbereitschaft die Vorbedingung dafür, „der Erste“ zu sein? Nun — zunächst einmal ist Demut absolut keine schwächliche Eigenschaft. Sie drückt die Sanftmut Christi Jesu aus, als er bekannte, daß all seine Fähigkeiten, Gutes zu tun, direkt von Gott kamen. „Der Sohn kann nichts von sich aus tun, sondern nur, was er den Vater tun sieht; denn was dieser tut, das tut gleicherweise auch der Sohn.“ Joh 5:19. Demut ist also das Mittel, göttliche Stärke zum Ausdruck zu bringen.
Auch die Bereitschaft zum Dienen, von der Jesus sprach, ist ein Zeichen von Stärke — Liebe zu Gott und zur Menschheit steht dahinter. Sie ist das genaue Gegenteil der feindseligen „Zuerst komm’ ich“-Haltung, die es darauf anlegt, koste es, was es wolle, alle anderen wegzuboxen. Sie heizt sich weder mit Zorn auf, noch sieht sie die Mitbewerber als Feinde an (nach dem Motto: „Wir werden diesen Kerlen eine Lektion erteilen, die sie nicht so schnell vergessen werden!“). Auch steht dahinter nicht der emotionale Wunsch, den Leuten persönlich zu gefallen (etwa zu denken: „Ich will diesen Wettbewerb für meinen Trainer gewinnen!“).
Den besten Rat für alle Christen, die ihren Weg durch Wettbewerbssituationen hindurchbeten müssen, gibt Mrs. Eddy im Handbuch Der Mutterkirche. Sie schreibt da: „Weder Feindseligkeit noch rein persönliche Zuneigung sollte der Antrieb zu den Beweggründen oder Handlungen der Mitglieder Der Mutterkirche sein. In der Wissenschaft regiert allein die göttliche Liebe den Menschen; und ein Christlicher Wissenschafter spiegelt die holde Anmut der Liebe wider in der Zurechtweisung der Sünde, in wahrer Brüderlichkeit, Barmherzigkeit und Versöhnlichkeit. Die Mitglieder dieser Kirche sollen täglich wachen und beten, um von allem Übel erlöst zu werden, vom irrigen Prophezeien, Richten, Verurteilen, Ratgeben, Beeinflussen oder Beeinflußtwerden.“ Handb., Art. VIII Abschn. 1.
Aber wenn es so wichtig ist, demütig und liebevoll zu sein, ist es dann falsch, gewinnen zu wollen? Natürlich nicht. Aber wir müssen immer wieder prüfen, welche Motive hinter unserem Wunsch zu gewinnen stehen. Wenn wir nur uns selbst bestätigen oder andere beeindrucken wollen, dann lassen wir uns nicht allein von der göttlichen Liebe regieren. Wenn wir aber darum beten, Gott zu verherrlichen — Seine Anmut, Seine Präzision, Stärke und Liebe kundwerden zu lassen —, werden wir bei allem, was wir tun und leisten, vom heiligsten aller Motive geleitet.
Und genau so verhielt sich meine Freundin Hilde, als sie einmal an der US-Meisterschaft im Eiskunstlauf teilnehmen sollte. Sie hatte den ganzen Sommer über in Kanada intensiv trainiert, aber dann war sie so erschöpft und wurde so krank, daß sie ihr Training acht Wochen unterbrechen mußte. Während dieser Zeit jedoch verbrachten sie und ihre Eltern ganze Tage mit einem „Training“ völlig anderer Art — einem geistigen Training im Gebet. Beim Beten dachten sie über die Tatsache nach, daß Hilde das absolute Gleichnis ihres Vater-Mutter Gottes, des göttlichen Geistes, ist. Sie machten sich klar, daß die Schwäche und Unruhe der Materie — die sich Körper nannte, ein Gefängnis aus Fleisch und Blut, aus dem sie nicht entkommen konnte — kein Teil ihrer wirklichen und vollkommen geistigen Selbstheit als Kind Gottes war.
Als Hilde endlich soweit war, daß sie wieder trainieren konnte, dachte sie ganz anders über die bevorstehende Meisterschaft als vorher. Mehr denn je zuvor sah sie nun in ihrem Eislaufen eine Möglichkeit, Gott zu verherrlichen und die geistige Stärke zu beweisen, die sie in den Wochen „ohne“ Training gewonnen hatte.
Sie ging als Außenseiterin in die Meisterschaft, aber sie konnte sich schließlich als Tabellenführerin für das Finale im Kürlauf qualifizieren. Allerdings war sie kein Favorit, da sie die Vorausscheidung nicht gewonnen hatte.
Als Hilde an die Reihe kam, ging sie aufs Eis und wünschte sich mehr als alles andere, Gottes Herrlichkeit sichtbar werden zu lassen. Figur auf Figur, Sprung auf Sprung arbeitete sie sich mühelos durch ihr Programm bis zum letzten, dem schwersten Sprung — einem Doppelsprung. Als sie nach diesem Sprung das Eis berührte, merkte sie, daß sie aller Voraussicht nach fallen würde. Den Zuschauern stockte der Atem. Und in diesem Sekundenbruchteil schossen ihr die Bibelworte durch den Kopf: „ ... darunter sind die ewigen Arme.“ 5. Mose 33:27 (nach der engl. King-James-Bibel). Hilde fühlte sich von diesen Armen umfangen — und irgendwie schaffte sie den Sprung. Und damit hatte sie die US-Meisterschaft gewonnen.
Es war herrlich, die Siegerin zu sein, aber Hilde war nicht einen Augenblick versucht, auf diesen Sieg persönlich stolz zu sein. Dazu war es ein viel zu heiliger Moment gewesen. Es machte sie unendlich demütig. Und sie war sich nur zu bewußt, daß der wirkliche Preis, den sie gewonnen hatte, ein geistiger Preis war — einer, der nichts mit Medaillen oder Meisterschaften zu tun hatte, wohl aber damit, zu lernen, wie man Gott verherrlichen kann, und es mit Liebe zu tun.
