Sie lesen Ausschnitte aus einer Gesprächsrunde mit Dr. Gill. Das Interview wurde von ihr für den Christian Science Herold leicht bearbeitet.
Warum ist es wichtig, über Mrs. Eddys Leben zu sprechen? Ist es nicht viel wichtiger, ihre Botschaft zu vermitteln?
Das hat sie selbst durchaus so gesehen. In ihrem Buch Rückblick und Einblick gibt sie einen sehr kurzen Überlick über ihr Leben. Dann tritt sie plötzlich einen Schritt zurück und sagt im Wesentlichen: Doch die bloßen Fakten meines Lebens sind belanglos. Wichtig ist, dass wir über Christian Science sprechen. Wir müssen über die Person — über die trivialen Einzelheiten meines Lebens — hinausgehen. Über meine Botschaft möchte ich sprechen.
Mrs. Eddy ist erst relativ spät im Leben zu einer Berühmtheit im ganzen Land geworden. Nun sah sie sich im Mittelpunkt des Interesses. In gewisser Weise hatte sie das natürlich durchaus beabsichtigt. Sie wollte ihre Botschaft bekannt machen, doch die Leute schenkten ihrem Leben sehr viel mehr Aufmerksamkeit. Das wollte sie zwar nicht, sie konnte es aber nicht vermeiden. Beim Schreiben von Rückblick und Einblick hat sie daher versucht, auf dieses Bedürfnis nach Information über ihre Person einzugehen, obwohl sie es als das Unwichtigste betrachtete. Doch sie kam nicht darum herum.
Als ich mit meinen Forschungsarbeiten begann, habe ich die gesamte veröffentlichte Literatur über Mrs. Eddy gelesen. Vieles davon ist äußerst kritisch, manches geradezu hinterhältig. Mir wurde dabei klar, dass Christian Science in erste Linie über ihre Persönlichkeit angegriffen wurde.
Ihre Botschaft wurde blockiert und ich möchte behaupten, dass dies auch heute noch geschieht. Solange wir keine klare Vorstellung von dem haben, wer sie wirklich war und was sie wirklich geleistet hat, werden wir uns ständig mit Halbwahrheiten befassen, mit falschen Vorstellungen, eben den „Tatsachen", wie andere sie darstellen.
Mrs. Eddys Christian Science wurde von ihren Zeitgenossen augenblicklich als eine Anfechung der etablierten Ordnung erkannt. Die Vorstellungen der Menschen von Heiligkeit und religiöser Führerschaft waren eng verbunden mit ihrer Überzeugung, dass Frauen keine bedeutenden Stellungen in der Öffentlichkeit einnehmen sollten. Natürlich gab es in einigen protestantischen Gruppen Frauen, die Führungspositionen innehatten, bei den Quäkern zum Beispiel. Doch ihre Anzahl war äußerst gering. Die großen Religionen setzten sich aus einer Gemeinde von Frauen und einer Hierarchie von Männern zusammen, aber Mrs. Eddy hat dies in ihrer Kirche abgeschafft.
Es war eine Herausforderung und die meisten Leute betrachteten es als revolutionär, als radikal, und griffen sie daher an. All das war völlig getrennt vom medizinischen Establishment, das sie ebenfalls herausforderte. Einfach dadurch, dass sie als Frau das aus Männern bestehende religiöse Establishment her ausfordert, verursacht sie alle diese Probleme. Und als dann Gläubige von anderen Religionen zu ihrer konvertieren, nimmt sie diesen Religionen obendrein noch Mitglieder weg!
Die Opposition, die sie auf verschiedenste Weise hervorrief, hat sich, wie gesagt, mehr auf ihre Person konzentriert als auf das, was sie sagte, denn das wurde entweder nicht gelesen oder nicht richtig gelesen oder absichtlich falsch wiedergegeben.
Diese frühen negativen Darstellungen von Mrs. Eddy findet man auch heute wieder. Viele Verfasser von Büchern forschen nicht in den Originalquellen, sondern stützen sich auf bereits bestehende Biographien und nehmen sich gerade diejenigen zum Vorbild, in denen Mrs. Eddy in negativem Licht dargestellt wird.
Wie steht es mit ihrer Bildung?
Georgine Milmine sagt in ihrer negativen und faktisch falschen Biographie, dass Mrs. Eddy ungebildet war. Sie macht sich über Mrs. Eddys Behauptung lustig, die Sanbornton Academy besucht zu haben und von ihrem Bruder unterrichtet worden zu sein, wenn dieser während der Semesterferien vom Dartmouth College zu Hause war. Milmine sagt im Wesentlichen, Mrs. Eddy habe gelogen.
Milmine behauptet, sie habe „Dutzende" Menschen interviewt, die Mrs. Eddy als Kind gekannt hätten. In Wirklichkeit besaß Milmine Aussagen von einer oder vielleicht zwei von Mrs. Eddys Klassenkameradinnen aus ihrem Dorf, Frauen, die sich freiwillig Kritikern von Christian Science zur Verfügung stellten und die sehr negative Erin nerungen an Mrs. Eddy hatten. Ihre Berichte wurden weiter verzerrt — das ist erwiesen — durch die Art und Weise, wie die Fragen gestellt wurden, damit sie noch schlimmer klangen.
Tatsache ist, dass Willa Cather die Verfasserin der Milmine-Biographie war. Sie schweigt jedoch zu diesem Thema und ihre öffentlich abgegebenen Erklärungen, sie habe nichts weiter als Lektoratsarbeit geleistet, sind für mich ein Anzeichen dafür, dass dies kein Werk war, unter das sie ihren Namen setzen wollte. Gleichzeitig ist es äußerst wichtig zu wissen, dass eine bedeutende Autorin, nämlich Willa Cather, dieses Buch geschrieben hat, denn hier haben wir jemanden, der mit großen Talent Romanfiguren konzipiert und eine Geschichte erzählt. Als fiktionaler Roman liest sich das Buch recht gut, doch das Schlimme ist, dass es sich hierbei um eine wirkliche Frau handelt und dass eine Geschichte über sie erzählt wird, die einfach nicht wahr ist.
Dann ist da noch die ganze Frage der Autorität von Frauen in religiösen Führungspositionen. Muss man Theologie studiert oder gar in diesem Fach promoviert haben, um als geistlicher Führer sprechen zu können ?
In gewisser Hinsicht ist Mrs. Eddys Bildung und deren Bedeutung für ihre religiöse Autorität in unserer Zeit viel schwerer zu bewerten, da wir heutzutage alle diese Qualifikationen so viel einfacher erhalten können. Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten, dass zu Mrs. Eddys Zeiten das Theologiestudium praktisch den Männern vorbehalten war. Und wenn eine der wichtigsten Voraussetzungen für glaubhafte theologische Aussagen oder religiöse Führerschaft eine klassische Ausbildung war — ein Grundstudium und dann vielleicht ein aufbauendes Theologiestudium —, dann war es keiner amerikanischen Frau möglich, diese zu erfüllen. Es war ihnen nicht möglich, denn es war ihnen nicht gestattet.
Akzeptieren wir also die Voraussetzung, dass sie eine klassische Ausbildung genossen haben muss, um als Autorität zum Thema zu sprechen? Ich persönlich kann diese Voraussetzung nicht akzeptieren.
Wie sah das Bildungssystem der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts aus, der Zeit, in der sie eine Schulbildung erhalten hätte? Mrs. Eddy wurde erst um 1900 berühmt. Das gesamte Bildungssystem hatte sich bis dahin verändert, infolgedessen waren die Annahmen der Kritiker darüber, was eine Frau machen konnte und sollte, historisch nicht korrekt. Sie hatten vergessen, wie es damals gewesen war.
Mrs. Eddy hatte eine sehr originelle Denkweise — die ihre Probleme und Vorzüge hatte —, doch dans Fehlen einer klassischen Bildung hat ihr womöglich gerade die Freiheit gegeben, das zu leisten, was sie geleistet hat. Sie sagte: Ich habe keine formelle Ausbildung dafür, doch ich tue es trotzdem. Nur so kann ich meine Botschaft verbreiten, und das ist meine Aufgabe. Und dann hat sie es getan.
Frauen einer Epoche
Ebenso wie Elizabeth Cady Stanton wuchs Mary Baker Eddy Anfang des 19. Jahrhunderts in einer kalvinistischen Familie auf. In späteren Jahren berichteten beide Frauen über ähnliche Vorfälle in ihrer Kindheit. Beide waren körperlich krank geworden durch bestimmte Elemente eines religiösen Dogmas im Zusammenhang mit der Lehre, dass Gott ein strenger und strafender Mann sei, der einige wenige Auserwählte rettet und den Rest verdammt.Elizabeth Cady Stanton, Eighty Years and More [Achtzig Jahre und mehr] (Boston: Northeastern University Press, 1993), S. 43; Eddy, Rückbl., S. 13.
Mrs. Eddy liebte die Kirche, aber gegen die Prädestinations-lehre rebellierte sie. Durch ihr Verständnis von Gott als einem liebenden Vater und einer liebenden Mutter, einem Gott, der ganz und gar gut ist und Böses oder Krankheit weder schafft noch zulässt, war sie in der Lage, Heilungen zu vollbringen, wie sie in der Bibel geschildert werden.
Für Elizabeth Stanton war die Wissenschaft das Gegenmittel zu dem, was in ihren Augen willkürliches religiöses Dogma war, und sie setzte sich für eine Reform außerhalb der Kirche ein. Mary Baker Eddys wissenschaftliche Forschungen richteten sich dagegen auf eine Reform der Kirchenlehre. Sie setzte sich das gleiche Ziel wie ein Wissenschaftler, nämlich die die Schöpfung regierenden Gesetze zu verstehen und zu beweisen. Durch ihre Entdeckung fiel ihr eine zentrale Rolle bei der Neudefinierung der Beziehung zwischen Wissenschaft und Religion zu.
Da beide Frauen prominente Persönlichkeiten waren, die in der gleichen Epoche lebten, wussten sie sicherlich voneinander und hatten gemeinsame Freunde, aber getroffen haben sie sich nie. Eine gemeinsame Bekanntschaft war der berühmte Dichter und Kämpfer für die Sklavenbefreiung, John Greenleaf Whittier, den Mrs. Eddy im Jahr 1868 von Schwindsucht heilte. Siehe Mary Baker Eddy, Kanzel und Presse, S. 54. Als Mrs. Eddy 1888 in Chicago einen Vortrag hielt, befand sich Mrs. Stantons langjährige Mitarbeiterin, Susan B. Anthony, unter der Zuhörerschaft von etwa viertausend Leuten.Mary Baker Eddy: Christian Healer [Christliche Heilerin], S. 413, Anm. 9.
Eine weiterere Reformatorin aus dieser Zeit, die von Mrs. Eddy wusste, war Clara Barton, Gründerin des Amerikanischen Roten Kreuzes. In einem in der Zeitschrift New York American veröffentlichen Interview — beide Frauen standen damals schon am Ende ihres Lebens — wird berichtet, Miss Barton habe gesagt, dass in ihren Augen „Mrs. Mary Baker Eddy, unabhängig vom Geschlecht, die einzige, heute lebende Person ist, die ihren Mitmenschen das größte Maß an Gutem gebracht hat" Viola Rodgers, „Christian Science Most Potent Factor in Religious Life, Says Clara Barton", [Christian Science der machtvollste Faktor im religiösen Leben, sagt Clara Barton], New York American, 6. Januar 1908, nachgedruckt im Christian Science Journal, Februar 1908, S. 696..
(Auszug aus dem Christian Science Journal vom März 1999)
