Ende des Zweiten Weltkrieges war ich sechs Jahre alt und hatte das vorangegangene Jahr im Konzentrationslager der Nazis in Bergen-Belsen in Deutschland verbracht, wo mein Vater schon gestorben war. Zusammen mit einer Zugladung anderer wurden meine Mutter und ich von amerikanischen Soldaten kurz vor Kriegsende in Europa befreit.
Obwohl meine Mutter dazu bereit war, mit mir über unsere Kriegserlebnisse zu sprechen, wollte ich erst viele Jahre später etwas davon wissen. Zu der Zeit war meine Mutter schon verstorben und ich konnte sie nicht mehr fragen. Ich startete verschiedentliche Versuche, mehr darüber in Erfahrung zu bringen, und es gelang mir auch, weitere Informationen zu bekommen, aber ich konnte mich nie damit zufriedengeben.
Meine Mutter war in einer evangelischen Kirche getauft worden und als Kind hatte ich gelegentlich evangelische Religionsstunden und Gottesdienste besucht. Diese Besuche führte ich auch noch weiter, als wir uns nach unserer Zeit in Holland und unserem Umzug nach El Salvador schließlich in den 1950er Jahren in Kalifornien niederließen. Nach meinem Schulabschluss begann ich nach einer neuen Kirchenheimat zu suchen und wurde letztendlich vom meinem zukünftigen Ehemann auf die Christliche Wissenschaft aufmerksam gemacht. Mir gefiel, wie praktisch anwendbar die Christliche Wissenschaft gerade in jener Lage war. Seither bin ich Christliche Wissenschaftlerin.
Als ich begann, mich mehr für meine Familiengeschichte zu interessieren, betete ich gleichzeitig, so wie ich es in der Christlichen Wissenschaft gelernt hatte, dafür, mehr von meiner tatsächlichen Geschichte zu verstehen, die immer geistig war, ist und sein wird. Ich verstand, dass ich niemals vom Guten abgeschnitten sein konnte, da Gott mein wahrer Vater, meine wahre Mutter, ist.
Manchmal betete ich mit dem 139. Psalm, der so beginnt: „Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege." Dieser Psalm bestärkte mich in vielerlei Hinsicht. Er ließ mich wissen, dass, egal wo ich gerade war oder wie die Umstände meines Lebens auch sein mochten, Gott immer da war, mich führte und für mich sorgte. Außerdem gab es mir die Sicherheit, dass auch in den schlimmsten Zeiten meiner menschlichen Geschichte die Gegenwart der Liebe für uns alle da war. Ich erkannte, dass nichts in der menschlichen Vergangenheit meines Lebens mein wahres Sein hatte beeinflussen können.
Wissenschaft und Gesundheit erklärte mir, worum es in meiner menschlichen Geschichte ging: „Die Sterblichen müssen zu Gott hinstreben, ihre Neigungen und Ziele müssen geistig werden—sie müssen sich den weitreichenderen Auslegungen des Seins nähern und etwas von der eigentlichen Bedeutung des Unendlichen erlangen—,damit sie Sünde und Sterblichkeit ablegen können." (S. 265)
Als ich dies zu einem gewissen Grad verstand, konnte ich Gefühle von Wut und Feindseligkeit denen gegenüber aufgeben, die die Grausamkeiten begangen hatten, die während des Krieges geschehen waren. Dennoch blieb mein Wunsch, mehr über meine Vergangenheit zu erfahren, noch einige Zeit bestehen. Dann eines Tages hatte ich die Möglichkeit, mit einem Ehepaar zu sprechen, das in derselben Sektion des Konzentrationslagers gewesen war wie meine Eltern und ich und das auch zur selben Zeit wie wir. Obwohl nach unseren Gesprächen die Bilder aus dieser Zeit immer noch unvollständig blieben, war es, als ob plötzlich eine Last von mir genommen worden war. Ich fühlte mich von dem Bedürfnis befreit, mehr wissen zu wollen. Mit dem Verständnis, das ich durch meine Gebete über die Jahre erlangt hatte, kam das Gefühl von geistiger Vollständigkeit und Zufriedenheit. Ich musste nicht mehr länger nach meiner menschlichen Geschichte forschen. Mary Baker Eddy sagte: „Die Geschichte von Irrtum oder Materie würde, wenn sie wahr wäre, die Allmacht des Geistes übergehen; aber sie ist die falsche Geschichte im Gegensatz zu der wahren." (Wissenschaft und Gesundheit, S. 521-522)
Seitdem ist es mir gelungen, meinen geistigen Fortschritt aktiv dazu zu nutzen, anderen zu helfen. Wenn ich früher nach meiner persönlichen Geschichte gefragt worden war, zögerte ich damit, über die ersten Jahre meines Lebens zu sprechen. Jetzt, da ich verstehe, dass mein Leben immer Ausdruck des göttlichen Lebens war, fällt es mir leichter, mich über diese Zeit auszutauschen. Ich denke, wenn wir aus unseren Fehlern in der Vergangenheit lernen wollen, um eine bessere Zukunft zu schaffen, dann ist es wichtig, die Lebenslektionen, die wir gelernt haben, miteinander zu teilen. Bei manchen Gelegenheiten in den vergangenen zwei Jahre traf ich einige der Veteranen wieder, die damals zu den amerikanischen Soldaten gehörten, die uns alle befreit hatten, und diese Wiedersehen waren voller Freude für uns alle.
Da ich eine Überlebende des Holocaust bin, könnte mancher nun meinen, dass es gerechtfertigt wäre, wenn ich alle Deutschen und alles Deutsche hassen würde. Dennoch habe ich erfahren, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen den Nazis, die sich die Grausamkeiten des Zweiten Weltkrieges ausdachten, sowie denjenigen, die freiwillig in ihre Fußstapfen traten, und den Tausenden Deutschen, die nichts mit dem Naziregime zu tun hatten und deren Leben ebenfalls gefährdet war, sobald sie Widerstand geleistet hätten.
Meiner Ansicht nach trifft diese Unterscheidung auf alle Individuen zu, die zu einer solchen Gruppe gehören. Wir dürfen nicht zulassen, dass eine zwar fest entschlossene Minderheit, die sich abscheulich und gefährlich verhält, unsere Gemüter gegen die Mehrheit vergiftet. Die Theologie des Alten Testaments lehrte „Auge um Auge, Zahn um Zahn"—umgangssprachlich: Wie du mir, so ich dir. Im Neuen Testament ist jedoch festgehalten, dass Jesus die Menschen lehrte, ihre Feinde zu lieben, denen Gutes zu tun, die uns hassen, und für die zu beten, die uns beleidigen. (Siehe Lukas, Kapitel 6) Er hat nicht verlangt, dass wir ihre Handlungen oder ihr Verhalten lieben sollen, aber er fordert, dass wir ebenso wie er alle Menschen als Kinder Gottes sehen sollen und als solche eben als gut in jeder Hinsicht. Wir müssen einander so sehen, wie unser Vater-Mutter uns sieht, und verstehen, dass andere ebenfalls dazu fähig sind, sich selbst und andere so zu sehen.
Wenn ich jetzt von den Kriegserfahrungen meiner Familie berichte, kann ich gleichzeitig noch einige meiner eigenen Gedanken teilen, die auf den Erkenntnissen basieren, die die Christliche Wissenschaft in mein Leben gebracht hat. Da ich mich auf meinen geistigen Fortschritt konzentriere, kann ich diesen anhand verbesserter Gesundheit, besserer Beziehungen und dem Ausdruck von Würde und Anmut leichter belegen. Das regelmaßige Studium der christlich-wissenschaftlichen Bibellektionen und die Inspiration, die ich in den christlich-wissenschaftlichen Zeitschriften finde, helfen mir zu demonstrieren, dass „die geistige Wirklichkeit ... die wissenschaftliche Tatsache in allen Dingen [ist]. Die geistige Tatsache, die sich im Wirken des Menschen und des ganzen Universums wiederholt, ist harmonisch und das Ideal der Wahrheit" (Wissenschaft und Gesundheit, S. 207).
Seit vielen Jahren arbeite ich nunmehr als Mediatorin und ich schreibe den Erfolg meiner Arbeit der Tatsache zu, dass ich gelernt habe, Individuen als fähig, fürsorglich, intelligent und aufrichtig zu sehen—eben so, wie Gott jeden von uns geschaffen hat. Das ermöglicht es ihnen, sich gegenseitig genauso zu sehen, und das wiederum befähigt sie dazu, ihre Schwierigkeiten miteinander auszuarbeiten und zu einer Lösung zu kommen.
Seit vielen Jahren arbeite ich nunmehr als Mediatorin und ich schreibe den Erfolg meiner Arbeit der Tatsache zu, dass ich gelernt habe, Individuen als fähig, fürsorglich, intelligent und aufrichtig zu sehen—eben so, wie Gott jeden von uns geschaffen hat.
Mary Baker Eddy erklärte: „Der eine unendliche Gott, das Gute, vereint Menschen und Völker ...." (WuG, S. 340) Frieden erscheint oft unerreichbar, besonders im Blick auf die ganze Welt. Das bekannte Lied „Peace on Earth" („Frieden auf Erden") gibt mir eine Ahnung, was möglich wäre und wie wir beginnen können. In einem Teil heißt es wie folgt:
Lass es Frieden auf Erden geben
Und lass ihn bei mir beginnen;
Lass es Frieden auf Erden geben,
Den Frieden, der für uns bestimmt ist.
Mit Gott als unserem Vater,
Sind wir alle Brüder.