Die Frage: „Welche Aufgabe habe ich heute?“ war mir über Monate hinweg gekommen. Als ich darum betete, meine Aufgaben und ihre korrekte Ausführung klarer zu verstehen, fand ich die Lösung in meiner ehrenamtlichen Arbeit im Leseraum der Christlichen Wissenschaft.
In meiner Anfangszeit kam jemand herein, der eindeutig unter Alkoholeinfluss stand und daran gewöhnt war, auf der Straße zu leben. Er war mit dem Leseraum vertraut und wollte die Toilette benutzen. Als ich ihm sagte, dass es ein paar Meter weiter öffentliche Toiletten gibt, wurde er ungemütlich und drängte sich an mir vorbei nach hinten, wo die Toilette ist.
Er verbrachte längere Zeit dort, was mir die Gelegenheit gab, mein Denken Gott zuzuwenden, um Seine Herrschaft über die Situation zu erkennen. Als der Mann von der Toilette zurückkam, sah er mit Strumpfmaske, die sein Gesicht verbarg, recht bedrohlich aus. Erst war ich etwas schockiert, doch dann hörte ich mich sagen: „Das ist eine interessante Maske, aber nicht Ihre wahre Identität.“ Er lachte und schob die Maske zurück unter die Wollmütze. Das aggressive Verhalten hörte auf, wir wechselten ein paar Worte und er winkte zum Abschied.
Ein paar Wochen später hatten wir einen weiteren kurzen Austausch, als er sehr aufgewühlt schien. Ich beobachtete vom Schreibtisch des Leseraums, wie er direkt vor einem Bus auf die vielbefahrene Straße lief. Der Bus hielt an und der Mann drehte sich schließlich um und ging über eine weitere Fahrbahn zurück auf den sicheren Bürgersteig. Der Mann tat mir leid und ich betete, um zu verstehen, wie ich ihn korrekt sehen konnte.
Um ihn korrekt wahrzunehmen, das heißt, geistig zu sehen und zu erkennen, was wahr ist über Gottes Menschen, musste ich durch eine oberflächliche, materialistische Sichtweise hindurch blicken. Aus begrenzter, sterblicher Sicht kann das schwer erscheinen. Welche Eigenschaft ist also nötig, um tiefer vorzudringen als das, was die materiellen Sinne uns präsentieren, und stattdessen den von Gott erschaffenen Menschen klar zu erkennen? Für mich kam die Antwort aus der Seligpreisung: „Glückselig sind die Sanftmütigen; denn sie werden die Erde besitzen“ (Matthäus 5:5).
Sanftmütig zu sein bedeutet, sich vorbehaltslos dem machtvollen und guten Willen Gottes zu beugen, menschlichen Willen völlig hinter sich zu lassen und sich dem göttlichen Willen zu unterwerfen. Die Qualität von Sanftmut führt zu einer Bereitwilligkeit, unsere menschliche Sichtweise der Dinge zu ändern. Als ich dies näher betrachtete, dachte ich an Christus Jesus, der uns die Seligpreisungen gegeben hat und das größte Beispiel von Sanftmut war. Er sagte: „Ich kann nichts von mir selber tun. Wie ich höre, so richte ich, und mein Gericht ist gerecht; denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen des Vaters, der mich gesandt hat“ (Johannes 5:30).
Jesus, so erkannte ich, gab freimütig zu, dass seine Fähigkeiten nicht auf einem persönlichen Verständnis von Können beruhten. Seine Arbeit war möglich, weil er sich Gottes Willen ergab, um korrekt zu richten und zu verstehen – indem er nur das sah, was Gott von Seiner Schöpfung weiß. Ich konnte verstehen, wie Jesus, Gottes Sohn, sanftmütig sein und den materiellen Sinn vom Leben bezwingen konnte, doch wie sollte ich, die so viel weniger war als Jesus, ein persönliches, materielles Verständnis der Dinge aufgeben und somit fähig sein, die Dinge zu verstehen und zu richten, wie Gott sie sieht und kennt?
Mary Baker Eddy, die Verfasserin des Lehrbuchs der Christlichen Wissenschaft, erklärte wissenschaftlich, wie jeder von uns durch Widerspiegelung bis zu einem gewissen Grad Jesu Beispiel der Sanftmütigkeit folgen kann, und dazu gehört, richtig zu richten. Sie schreibt dort: „Der Mensch ist nicht Gott, aber wie ein Lichtstrahl, der von der Sonne kommt, spiegelt der Mensch, die Auswirkung Gottes, Gott wider“ (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 250). Als Widerspiegelung können wir nur das sein, wozu unsere Quelle uns erschafft; eine Widerspiegelung kann weder etwas erschaffen noch sich selbst ändern. Der Mensch, das Männliche und Weibliche der Schöpfung Gottes, muss das Wesen Gottes widerspiegeln und ausdrücken – Seine Eigenschaften und Fähigkeiten –, denn der Mensch ist nach Seinem Bild und Gleichnis erschaffen. Durch Sanftmut und das Aufgeben eines persönlichen Verständnisses meiner Identität und Fähigkeit sowie der anderer Leute konnte ich den von Gott erschaffenen Menschen klarer erkennen.
Alle Menschen so zu sehen, wie Gott sie gemacht hat, selbst wenn sie etwas anderes zu sein scheinen, bedeutet nicht, dass wir etwas hinnehmen, was Gott, dem Guten, unähnlich ist, oder so tun, als sei es nicht vorhanden. Jesus tat das nicht; er wies das Böse zurecht, billigte ihm keinerlei Autorität zu und brachte es zum Schweigen. Er sagte beispielsweise dem „unreinen Geist“ bzw. aggressiven sterblichen Denken, das einen Jungen so im Griff hatte, dass er sich ins Feuer oder Wasser warf, aus ihm auszufahren und nicht wieder in ihn einzufahren (siehe Markus 9:17–27). Auch wir müssen uns des Bösen annehmen, das sich vor uns breitmacht, und es in unserem Denken durch ein wissenschaftliches Verständnis von Gottes Schöpfung berichtigen.
Ich hatte noch gelegentlich mit dem Mann zu tun und erkannte dabei, dass ich dem Anspruch von Abhängigkeit, in diesem Fall vom Alkohol, entgegentreten musste – dessen sogenannte Macht über andere zurückweisen. Gott, das Gute, ist allmächtig, hat alle Macht, und auf dieser Grundlage erkennen wir, dass das Böse in jeder Verkleidung keine Macht oder Herrschaft über andere haben kann. Alle Kinder Gottes sind vernünftig – sie folgen der Vernunft des göttlichen Gemüts.
Christus Jesus sagte von seinen Nachfolgern, dass sie die Werke tun würden, die er tat, also muss zu unserer Arbeit gehören, dass wir denen helfen, die von Schaden befreit werden müssen. Doch es gab Zeiten, wo dieser Besucher des Leseraums nicht sehr liebenswürdig erschien und den Eindruck vermittelte, als sei er weit davon entfernt, seine Probleme zu überwinden. Wie sollte ich angesichts dessen eine wahre Nachfolgerin sein und die Werke tun, von denen Jesus sagte, dass sie möglich sind?
Die Antwort darauf lag in Jesu Anweisung, einander zu lieben (siehe Johannes 13:34). Jesus konnte auch angesichts des schlimmsten Hasses lieben – er hörte nie auf zu lieben, und ich erkannte, dass auch ich lieben musste, um seine Jüngerin zu sein. Wir lesen in 1. Johannes 4:8, dass alle, die nicht lieben, Gott nicht kennen, denn „Gott ist Liebe“. Und Gott ist unendlich, daher ist Liebe unendlich, und Liebe kann niemandem mangeln.
Seitdem sehe ich diesen Besucher des Leseraums als Gottes Kind und nichts anderes, als liebenswert und geliebt. Ich halte ferner daran fest, dass ich beständig lieben kann, da ich göttliche Liebe widerspiegele. Alle meine Begegnungen mit diesem Mann seit dem ersten Tag waren recht freundlich. Einmal war er unfreundlich zu einer anderen Person im Leseraum, also bestand ich darauf, dass er ging, was er auch tat. Doch er kam eine Woche später wieder und entschuldigte sich, was ich sehr bemerkenswert fand. Er hat sich auch gelegentlich aufmerksam und rücksichtsvoll gezeigt. Und einmal bat er die Bibliothekarin, ihm aus der Bibel vorzulesen.
Durch diese Lektion bin ich zu dem Verständnis gekommen, dass die Aufgabe eines Christen, eines Nachfolgers Christi Jesu, darin liegt, das Licht der göttlichen Liebe auf andere zu richten. Durch Sanftmut werden Urteile, Wahrnehmungen, Schlussfolgerungen oder Entscheidungen, die nicht von Gott kommen, aufgegeben. Je vollständiger wir von Sanftmut erfüllt sind, desto leuchtender wird die göttliche Liebe in allen Situationen widergespiegelt. Diese klare Widerspiegelung bringt göttliche Autorität mit sich und befähigt uns, unsere Herrschaft „über die ganze Erde“ (1. Mose 1:26) zu verstehen und die heilenden Werke zu tun, die Jesus tat.
Edwina Aubin
