Generationen von Leserinnen und Lesern haben von Personen aus der Bibel gelernt, wie man Gott treu ist. Was diesen biblischen Größen auch zugestoßen sein mochte oder in wie viel Gefahr sie waren, sie ließen sich nicht von ihrer Treue und ihrem Gehorsam gegenüber dem einen Gott abbringen. Sie ließen sich trotz widriger Umstände oder der Androhung von Gewalt weder zu falschem Verhalten verleiten, noch in Versuchung führen, ihre Überzeugungen aufzugeben.
Daniel wurde beispielsweise in eine Löwengrube geworfen, weil er sich weigerte, den König statt Gott anzubeten; Schadrach, Meschach und Abed-Nego wurden zum Tode durch Verbrennen verurteilt, weil sie ihren Glauben an Gott nicht aufgaben, obwohl ihnen befohlen worden war, sich vor einem goldenen Standbild zu verneigen, und Josefs Vertrauen in Gott wankte nicht, so schwer sein Leben auch sein mochte. Jesus musste Versuchungen vom Teufel widerstehen, weigerte sich aber entschieden, in die Irre geführt zu werden. Und Paulus und verschiedene Jünger von Jesus verbrachten Zeit im Gefängnis, da sie den neuen christlichen Glauben unterstützten.
Andere mögen versucht gewesen sein, Kompromisse, Vergeltungsschläge oder extreme Wege zu ersinnen, um mit Situationen fertigzuwerden, die ihre Freiheit und gar ihr Leben bedrohten, doch das Gottvertrauen dieser Menschen aus der Bibel war unerschütterlich. Und sie überstanden die jeweiligen Umstände erfolgreich.
Lange bevor Jesus seine Jünger das lehrte, was wir als das Gebet des Herrn kennen, befolgten die Frauen und Männer des Alten Testaments der Bibel ein Konzept, das durch die Zeile wiedergegeben wird: „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“ (Matthäus 6:13). Trotz Androhung drastischer Strafen weigerten sie sich, von der inspirierten Anordnung abzuweichen, Gott zu gehorchen.
Das imposante Vorbild dieser Personen verlieh mir als Kind den Eindruck, dass sich die im Gebet des Herrn erwähnte Versuchung auf etwas Großes bezog – Gott ungehorsam zu sein oder ein Verbrechen zu begehen. Und die geistige Auslegung der erwähnten Zeile: „Und Gott führt uns nicht in Versuchung, sondern erlöst uns von Sünde, Krankheit und Tod“ von Mary Baker Eddy, der Entdeckerin der Christlichen Wissenschaft, festigte diese Sichtweise nur weiter (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 17).
Da mein Leben nicht annähernd so dramatisch war wie das der Altehrwürdigen in der Bibel, fühlte ich mich ziemlich frei von Versuchungen. Wann könnte mich eine Versuchung jemals treffen? Bis ins Erwachsenenalter hinein war ich überzeugt, dass die Antwort „nie“ lauten musste. Doch dann kam der Tag, an dem sich das änderte.
Ich fühlte mich seit mehreren Tagen aus meiner Mitte gerissen, durch Umstände belastet, die außerhalb meiner Kontrolle zu sein schienen. Dann stellte eine Bekannte eine lieblose Anforderung an mich, die mich kränkte und empörte. Obwohl sie wusste, was sich bei mir abspielte, stellte sie Ansprüche an mich, die meine Last noch vergrößerten. Es ging zwar nur um einen Tag, doch immer, wenn ich vor und nach diesem Tag an ihr Verhalten dachte, wuchs meine Wut weiter an.
Etwa eine Woche später begriff ich, dass diese Haltung hinderlich war, und fing an zu beten. Ich wollte die Wut und Bitterkeit überwinden. Das Gebet des Herrn war eine gute Grundlage, und so dachte ich in Ruhe über die Botschaft jeder Zeile nach. Als ich an die Stelle kam, in der es um Versuchung geht, hatte ich plötzlich diesen glockenklaren Gedanken: „Ich habe dich nicht zu diesen Gefühlen verleitet!“ Einen Augenblick lang hielt ich überrascht inne. Teilte Gott mir mit, dass es sich hier um eine Versuchung handelte?
Plötzlich erschien es mir, als hätte ich eine Wahl, mich beleidigt – und aus meiner Mitte gerissen – zu fühlen! Jetzt fühlte ich mich ermächtigt, dem, was mich plagte, näher auf den Grund zu gehen. Meine Bekannte hatte das Problem weder hervorgerufen noch aus bösem Willen gehandelt. Sobald mir klar wurde, dass ich eine Wahl hatte, betete ich darum, die ganze Angelegenheit aus einer höheren, geistigen Sicht zu sehen. Damit verflog meine Wut sehr schnell, und ich betrachtete meine Bekannte wieder als die nette Frau, die ich vor dieser Sache gekannt hatte. Auch das Gefühl der Belastung verschwand sehr schnell, und mein Leben normalisierte sich wieder.
Ich begriff, dass Gott uns nicht dazu verleitet, eine Opferhaltung einzunehmen oder wütend auf andere zu werden. Gereiztsein, Ungeduld und Selbstgerechtigkeit sind Versuchungen, unserer gottgegebenen Natur entgegengesetzt zu handeln. Das Wissen, dass wir uns diesen Versuchungen nicht beugen müssen, verleiht uns die Macht über sie. Diese Macht bzw. Herrschaft kann, wenn man sie begreift, schnell und wirksam mit Disharmonie fertigwerden.
Wenn uns einmal die Versuchung ereilt, auf eine unserer wahren Natur als Gottes Kind fremde Art zu handeln, brauchen wir dieser Versuchung nicht nachzugeben, selbst wenn die Umstände oder mentalen Argumente unser Vorgehen zu rechtfertigen scheinen. Wir können Gottes Gegenwart und Macht erkennen und Seinem Gesetz der Liebe gehorsam bleiben. Wir können uns fragen: Würde Gott uns eine andere Reaktion außer Wut und Kränkung zeigen, wenn wir Seine Sichtweise anstrebten? Und könnten wir nicht sicher sein, dass Sein Vorgehen die Situation harmonisch lösen würde? In beiden Fällen lautet die Antwort: ja.
Die Situation mit meiner Bekannten ist zugegebenermaßen gering verglichen mit anderen Arten von Versuchung. Aber sie hat mir gezeigt, dass man sich vor jeder Versuchung schützen muss, so klein sie auch aussehen mag. Wir alle haben erlebt, wie kleine Unstimmigkeiten oder Missverständnisse zu etwas Großem angeschwollen sind oder sogar zu einem Unglück geführt haben. Mary Baker Eddy schreibt in Wissenschaft und Gesundheit: „Du musst die bösen Gedanken sofort beherrschen, sonst werden sie später dich beherrschen“ (S. 234).
Den Begriff Versuchung weniger eng definiert zu verstehen, war enorm hilfreich in Fällen, in denen ich im ersten Moment nicht unbedingt freundlich reagieren wollte. Die Fähigkeit, nicht aufzubrausen oder beleidigt zu sein, sondern die Person vor mir – und mich selbst – als Kind Gottes zu betrachten, hat mir geholfen, potenzielle Konflikte zu umgehen. Mrs. Eddy erklärt den Grund dafür: „Böse Gedanken und Absichten reichen nicht weiter und richten nicht mehr Schaden an, als unser Glaube zulässt“ (ebd., S. 234).
Die Versuchung, Gott ungehorsam zu sein und entsprechend zu handeln, entsprach nicht der wahren Natur der oben genannten biblischen Größen, und sie entspricht auch nicht unserer Natur. Wie sie sind wir nach dem Bild und Gleichnis Gottes, der Liebe, erschaffen. Das Ebenbild der Liebe kann keine Ressentiments haben, denn Liebe kann nie anders als liebevoll sein.
Wir lesen im 1. Johannesbrief: „Geliebte, wir sind nun Gottes Kinder; und es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn er offenbart wird, dass wir ihm gleich sein werden“ (3:2). Ich empfinde diese Worte als enorm tröstlich, denn sie sagen uns, dass wir nie weniger sein können als Gottes Kinder.
Meine Empörung über das Verhalten dieser Frau hätte das Ende unserer freundlichen Beziehung sein können, wenn ich nicht diese Erkenntnis erlangt hätte. Ich bin sehr dankbar für diesen Vorfall, denn er hat mich zu einem besseren Menschen gemacht. Ein umfassenderes Verständnis von Versuchung hat meine Haltung zu so vielen Dingen geändert, und ich habe gelernt, besser mit kleinen Ärgernissen fertigzuwerden. Sie als Versuchungen zu betrachten, einem unkonstruktivem Verhalten nachzugehen, befähigt mich, eine höhere Sichtweise anzunehmen, bei der ich Gott bitten kann, mir zu zeigen, wie das Problem zu lösen ist, und mich dann anderen Dingen zuzuwenden.